17.04.2025

Ich bin die German Angst

Zukunft deutscher Film

Überlegungen zum 5. Kongress »Zukunft deutscher Film« im Rahmen des Frankfurter »Lichter-Filmfest«

Von Rüdiger Suchsland

»Wenn schon Untergang, dann möchte man doch wenigs­tens dabei gewesen sein.«
Thomas Mann

An allen Ecken und Enden schleicht sich die Angst ein in das Alltags­leben im Westen. Das Bewusst­sein, auf dem Vulkan zu leben. Das Bewusst­sein, in einem Ancien Régime ein paar Jahre vor der Revo­lu­tion nur noch geschenkte Zeit zu erhalten.
Wir dürfen diese Angst nicht leugnen. Wir sollten sie nicht klein­reden. Aber wir dürfen vor ihr auch nicht kapi­tu­lieren.

Angst vor Spardruck. Vor dem Publikum. Vor der Kunst.

Angst hat auch etwas mit Film zu tun. Nicht nur, weil sie ein genuines Thema vieler Filme ist. Sondern weil es drumherum überall Angst gibt: Angst vor Spardruck; Angst vor dem Publikum; Angst vor der Kunst; Angst in den Förder­gre­mien und vor ihnen; Angst in den Sendern; Angst vor der Quote; Angst in den Redak­tionen und vor ihnen; Angst ist Daseins­be­din­gung und Geschäfts­mo­dell der Medien, und sie ist eine treffende Beschrei­bung für den augen­blick­li­chen Zustand des Publikums. Im öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk ist Angst nicht nur der Treiber der Nach­rich­ten­sen­dungen und Talkshows – deren Über­schriften des letzten Jahres sprechen hier Bände –, sondern sie herrscht auch in den Medi­en­häu­sern selbst. Die Medien fürchten sich vor Fake News und nicht­be­stan­denen Fakten­checks, vor Popu­lismus und vor schlechten Quoten. Dagegen tritt jene andere diffuse Angst der Para­noiker und Rechts­extre­misten vor der »Lügen­presse«, vor der Mani­pu­la­tion durch Medien und vor angeb­li­chen »Zwangs­ge­bühren«.

Diese allge­gen­wär­tige Angst ist das Thema des 5. Kongresses »Zukunft deutscher Film«, der im Rahmen des Frank­furter »Lichter-Filmfest« vom 23.-25.4. 2025 statt­findet.

In der bleiernen Zeit

Wer von Angst spricht, sollte sich nicht aussparen. Viel­leicht recht­fer­tigt es dieses Thema daher, hier ausnahms­weise auch biogra­phisch zu werden: Aufge­wachsen in West­deutsch­land, im Land des schwarzen Sheriffs Alfred »Django« Dregger – kennt den noch jemand? –, in den 70er-Jahren und 80er-Jahren, bin ich grob zwischen 1977 und 1987 politisch, ethisch und ästhe­tisch sozia­li­siert worden. Es waren fünf Ereig­nissse, die nicht nur poli­ti­sche waren, sondern universal gewirkt haben, als kleinere und größere Brüche, die diese Jugend geprägt haben: die »bleierne Zeit« des Deutschen Herbstes 1977; die Debatten über Nach­rüs­tung, Frie­dens­be­we­gung, Atom- und Umwelt­po­litik, Wald­sterben; die »Wende« 1982 und (schon damals) die Debatte über den »Verrat« der FDP; der Histo­ri­ker­streit 1985-1987 um den rechten Versuch einer Rela­ti­vie­rung der NS-Verbre­chen; und Tscher­nobyl 1986.

Uns wurde seiner­zeit, im höchst gesi­cherten Wohlstand des Wohl­fahrts­staats des »Rhei­ni­schen Kapi­ta­lismus« der west­deut­schen Republik fort­wäh­rend sugge­riert, wir müssten Angst haben. Vor irgend­etwas. Mit 14 vor Herpes. Später dann vor Poppern, vor der Startbahn West, der neuen B 8, und den Grenzen des Wachstums. Wer keine Angst hatte vor den Atom­kraft­werken oder dem Wald­sterben oder vor Aids oder vor den ameri­ka­ni­schen Mittel­stre­cken­ra­keten, der hatte gelogen. Oder er war gestört, böse, irgendwie unsen­sibel oder – dies war das schlimmste – : rechts.

Die Rechten hatten keine Angst – dachten wir jeden­falls. Bis wir irgend­wann mitbe­kamen, dass sie nur vor anderen, recht merk­wür­digen Dingen Angst hatten: vor Auslän­dern, Schwulen, Schwarzen, Roten, vor Kommu­nisten und Terro­risten, und irgendwie vor allem Neuen. Und vor Pazi­fisten.

Die Sonne von Tscher­nobyl

Dies möchte ich noch durch eine weitere persön­liche Erin­ne­rung ergänzen: am Ende der Schulzeit saßen wir, ein paar Freunde, zusammen in einem Taunus­gasthof beim Schoppen, draußen in der Früh­lings­sonne. Es waren Pfingst­fe­rien, und ein paar Tage vorher war in Tscher­nobyl der Super-GAU passiert. Irgend­wann kamen wir drauf, dass es zwar gerade sehr schön war in der Sonne, aber viel­leicht nicht besonders klug hier draußen zu sitzen, während der radio­ak­tive Fallout der Russen– schon damals die Russen! – auf uns nieder­rie­selte.
Irgend­wann warf einer der Freunde die Bemerkung in die Runde, er würde gerne wissen, woran jeder von uns glaubt, dass er als erstes sterben wird? An Tscher­nobyl, am Wald­sterben, an einem Atomkrieg, oder an Aids? Wohl­ge­merkt: Als erstes. Dass wir alle an allen diesen Dingen zugrun­de­gehen würden, war eh klar. Es ergab sich daraus eine heftige Diskus­sion, aber eine schlüs­sige Antwort fanden wir in meiner Erin­ne­rung nicht. Ich gebe auch zu, dass ich nicht der Einzige war, der diese Frage schon damals ein bisschen blöd fand. Aber das hat man nicht gesagt, sondern solche Fragen gebührend ernst genommen. Natürlich war alles ganz ganz schreck­lich. Aber viel­leicht doch nicht so ganz.

Hinzu­fügen sollte ich noch, dass heute, fast 40 Jahre später, alle, mit denen ich damals da draußen saß, noch am Leben sind. Es war also doch nicht ganz so schlimm.
Oder? Oder sind wir viel­leicht wie diese Frösche, die im Topf mit allmäh­lich siedendem Wasser bis kurz vor dem Siede­punkt vergnügt vor sich hin quaken und dann als hart­ge­kochter Frosch sterben?

Im deutschen Taumel

Damals begannen die Zeitungen in Amerika und Groß­bri­tan­nien von der »German Angst« zu schreiben, und die deutschen schrieben es ab. In Frank­reich sprach man auch von »Le Vertige allemand«, vom »deutschen Taumel«.
Gemeint war mit beiden Formeln eine verwir­rende Unruhe und neue Unsi­cher­heit, eine schwär­me­ri­sche, roman­ti­sche Sehnsucht nach einer allzu reinen Welt ohne Waffen, ohne Umwelt­ver­schmut­zung, ohne Macht, mit gebän­digtem Kapi­ta­lismus, Natur­ver­göt­zung und »Main­zel­männ­chen­moral«, wie der groß­ar­tige Karl Heinz Bohrer das damals nannte. Und auf der anderen Seite eine Angst vor der Wirk­lich­keit, der Wunsch, den Reali­täten zu entfliehen, die solche naiven Utopien überhaupt entstehen ließen. Waren die Deutschen wieder mal, wie schon Friedrich Nietzsche vor über einem Jahr­hun­dert gewarnt hatte, »immer von vorges­tern und von über­morgen«?

In Deutsch­land hat man auch heute Angst vor besonders vielen Dingen: Finanz­krise und Terror, vor Alters­armut und sozialem Abstieg, vor Demenz und vor dem Fremden, vor Arten­sterben und Klima­wandel. »Man will Angst haben«, konsta­tiert der Soziologe Ulrich Bröckling insbe­son­dere für die AfD-Wähler und die Leute, die sie bedienen.

In Deutsch­land spricht man heute aber auch gern von Resilienz. Das ist eines der Mode­wörter unserer Gegenwart. Ich glaube man spricht hier mehr davon als in anderen Ländern, weil wir viel weniger resilient sind. Wir können mit Krisen, wir können mit Unsi­cher­heit schlechter umgehen als andere Völker. Wir sind ängst­li­cher. Krisen­for­scher konsta­tieren, dass sich ein Gefühl der Aussichts­lo­sig­keit in Deutsch­land breit­mache, weil die Krise zum Dauer­zu­stand geworden sei – und Stephan Grünewald, den ich hier zitiere, hat das im März 2022 gesagt, als der Ukrai­ne­krieg gerade erst begonnen hatte. Die Bevöl­ke­rung rutscht von Angst als einem spontanen Zustand in eine Grund­stim­mung dauernder Resi­gna­tion. Die Angst wird chronisch. Vom »Melan­covid« ist die Rede. Kaum ist die eine Krise vorbei, holt die nächste einen ein.

Viel­leicht hoffen die Deutschen etwas zu sehr darauf, dass sie Herr im eigenen Haus sein könnten. Aber das wird man nie.

Teflon gegen Schnee­flocke

Wir, die Gene­ra­tion German Angst, haben so oft gesagt bekommen, dass wir Angst haben müssen; wir haben so gut gelernt, Angst zu haben, und wir haben vor allem möglichen Quatsch und Unsinn und absurd zuge­spitzten Szenarien tatsäch­lich Angst gehabt, dass wir uns irgend­wann wund­geängs­tigt haben. Wir haben eine Art Schutz­schicht gegen die Angst gebildet.

Jetzt sollen wir wieder Angst haben: vor der Inflation, vor dem Ukrai­ne­krieg, vor der Erder­wär­mung, und wieder mal vor den Russen. Viel­leicht ist da auch etwas dran, und ich bekomme ja mit, dass tatsäch­lich viele Leute in meiner Umgebung, vor allem Jüngere ganz viel Angst haben vor all diesen Dingen. Gerade auch – ich lebe in Berlin – die Ostdeut­schen. Egal wie die Mode­so­zio­logen das wegreden und behaupten, es gäbe keine Spaltung der deutschen Gesell­schaft, bin ich überzeugt: Die Ostdeut­schen haben sogar so viel Angst, dass es wirkt, als hätten sie gar keine.
Ich finde diese ganzen Ängste über­trieben. Etwas mehr Gelas­sen­heit, Mut und etwas Vertrauen in die Zukunft könnte hier ein Gegen­ge­wicht bilden. Mut ist sowieso das Gegenteil von Angst. Aber Mut und Zukunft sind keine beliebten Begriffe in Deutsch­land – dem Land mit den weltweit meisten Versi­che­rungen pro Kopf. Außer bei uns, jenen, die im kurzen Zeit­fenster zwischen Nachkrieg und (einge­bil­deter! klamm­heim­lich genos­sener) Dauer­krise aufwuchsen.

Weil wir diese Schutz­schicht gegen die Angst haben, sind wir im guten Sinne immun. Sie hat uns während Corona geholfen, wo wir letztlich ziemlich früh begriffen haben: So schlimm ist das alles gar nicht. Und einige der Regie­rungs­maß­nahmen sind ganz schön über­trieben. Sie dienen nicht zu irgend­wel­chen gesund­heit­li­chen Zwecken, sondern dazu, den ängst­li­chen Teil der Bevöl­ke­rung zu beruhigen und Beun­ru­hi­gung zu verhin­dern.

Wir, die Gene­ra­tion German Angst sind alles andere als über­sen­sibel. Das hilft uns gegen die Über­emp­find­lich­keit, die gerade aus allen möglichen Rich­tungen in die Gesell­schaft hinein­ge­tragen wird, und die, wenn man sie ernst nehmen würde, eine Gesell­schaft sehr schnell durch Hysterie ausein­ander fliegen ließe.

Manchmal könnte man aber auch vermuten, dass wir umgekehrt zu unsen­sibel sind, und dass die Schutz­schicht gegen die falschen und einge­bil­deten Ängste uns unemp­find­lich macht für die wirk­li­chen Gefahren. Teflon gegen Schnee­flocke.
Tatsäch­lich glaube ich, dass der Faschismus in allen seinen Facetten, dass der neue Anti­se­mi­tismus der Mitte und der Natio­nal­so­zia­lismus der Neuen Rechten weitaus gefähr­li­cher sind als viele andere Dinge, um die wir uns oft viel größere Sorgen machen. Ich bin überzeugt, dass nicht nur Angst blind macht, sondern auch Angst-Unemp­find­lich­keit. Die neuen Nazis und die Art, wie ihre Diskurse die Gesell­schaft infi­zieren, sollte uns Angst machen.

Angst ist gefähr­lich. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Angst, sich zur Angst zu bekennen. Eine Angst, die eigene Angst zuzu­lassen. Diese Angst vor der Angst ist auch gefähr­lich.
Wir sollten versuchen, diesen Wider­spruch gelassen auszu­halten. Denn das Schlimmste kommt erst noch. Ich weiß es. Ich bin die German Angst.

Lichter Filmfest
Kongress »Zukunft deutscher Film«
23.-25.4. 2025

Anmerkung: Der Autor war an Planung und Konzep­tion des Frank­furter Kongresses »Zukunft deutscher Film« beteiligt, und wird verschie­dene Diskus­si­ons­runden mode­rieren.