Ich bin die German Angst |
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»Wenn schon Untergang, dann möchte man doch wenigstens dabei gewesen sein.«
Thomas Mann
An allen Ecken und Enden schleicht sich die Angst ein in das Alltagsleben im Westen. Das Bewusstsein, auf dem Vulkan zu leben. Das Bewusstsein, in einem Ancien Régime ein paar Jahre vor der Revolution nur noch geschenkte Zeit zu erhalten.
Wir dürfen diese Angst nicht leugnen. Wir sollten sie nicht kleinreden. Aber wir dürfen vor ihr auch nicht kapitulieren.
Angst hat auch etwas mit Film zu tun. Nicht nur, weil sie ein genuines Thema vieler Filme ist. Sondern weil es drumherum überall Angst gibt: Angst vor Spardruck; Angst vor dem Publikum; Angst vor der Kunst; Angst in den Fördergremien und vor ihnen; Angst in den Sendern; Angst vor der Quote; Angst in den Redaktionen und vor ihnen; Angst ist Daseinsbedingung und Geschäftsmodell der Medien, und sie ist eine treffende Beschreibung für den augenblicklichen Zustand des Publikums. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist Angst nicht nur der Treiber der Nachrichtensendungen und Talkshows – deren Überschriften des letzten Jahres sprechen hier Bände –, sondern sie herrscht auch in den Medienhäusern selbst. Die Medien fürchten sich vor Fake News und nichtbestandenen Faktenchecks, vor Populismus und vor schlechten Quoten. Dagegen tritt jene andere diffuse Angst der Paranoiker und Rechtsextremisten vor der »Lügenpresse«, vor der Manipulation durch Medien und vor angeblichen »Zwangsgebühren«.
Diese allgegenwärtige Angst ist das Thema des 5. Kongresses »Zukunft deutscher Film«, der im Rahmen des Frankfurter »Lichter-Filmfest« vom 23.-25.4. 2025 stattfindet.
Wer von Angst spricht, sollte sich nicht aussparen. Vielleicht rechtfertigt es dieses Thema daher, hier ausnahmsweise auch biographisch zu werden: Aufgewachsen in Westdeutschland, im Land des schwarzen Sheriffs Alfred »Django« Dregger – kennt den noch jemand? –, in den 70er-Jahren und 80er-Jahren, bin ich grob zwischen 1977 und 1987 politisch, ethisch und ästhetisch sozialisiert worden. Es waren fünf Ereignissse, die nicht nur politische waren, sondern universal gewirkt haben, als kleinere und größere Brüche, die diese Jugend geprägt haben: die »bleierne Zeit« des Deutschen Herbstes 1977; die Debatten über Nachrüstung, Friedensbewegung, Atom- und Umweltpolitik, Waldsterben; die »Wende« 1982 und (schon damals) die Debatte über den »Verrat« der FDP; der Historikerstreit 1985-1987 um den rechten Versuch einer Relativierung der NS-Verbrechen; und Tschernobyl 1986.
Uns wurde seinerzeit, im höchst gesicherten Wohlstand des Wohlfahrtsstaats des »Rheinischen Kapitalismus« der westdeutschen Republik fortwährend suggeriert, wir müssten Angst haben. Vor irgendetwas. Mit 14 vor Herpes. Später dann vor Poppern, vor der Startbahn West, der neuen B 8, und den Grenzen des Wachstums. Wer keine Angst hatte vor den Atomkraftwerken oder dem Waldsterben oder vor Aids oder vor den amerikanischen Mittelstreckenraketen, der hatte gelogen. Oder er war gestört, böse, irgendwie unsensibel oder – dies war das schlimmste – : rechts.
Die Rechten hatten keine Angst – dachten wir jedenfalls. Bis wir irgendwann mitbekamen, dass sie nur vor anderen, recht merkwürdigen Dingen Angst hatten: vor Ausländern, Schwulen, Schwarzen, Roten, vor Kommunisten und Terroristen, und irgendwie vor allem Neuen. Und vor Pazifisten.
Dies möchte ich noch durch eine weitere persönliche Erinnerung ergänzen: am Ende der Schulzeit saßen wir, ein paar Freunde, zusammen in einem Taunusgasthof beim Schoppen, draußen in der Frühlingssonne. Es waren Pfingstferien, und ein paar Tage vorher war in Tschernobyl der Super-GAU passiert. Irgendwann kamen wir drauf, dass es zwar gerade sehr schön war in der Sonne, aber vielleicht nicht besonders klug hier draußen zu sitzen, während der radioaktive Fallout der Russen–
schon damals die Russen! – auf uns niederrieselte.
Irgendwann warf einer der Freunde die Bemerkung in die Runde, er würde gerne wissen, woran jeder von uns glaubt, dass er als erstes sterben wird? An Tschernobyl, am Waldsterben, an einem Atomkrieg, oder an Aids? Wohlgemerkt: Als erstes. Dass wir alle an allen diesen Dingen zugrundegehen würden, war eh klar. Es ergab sich daraus eine heftige Diskussion, aber eine schlüssige Antwort fanden wir in meiner Erinnerung nicht. Ich
gebe auch zu, dass ich nicht der Einzige war, der diese Frage schon damals ein bisschen blöd fand. Aber das hat man nicht gesagt, sondern solche Fragen gebührend ernst genommen. Natürlich war alles ganz ganz schrecklich. Aber vielleicht doch nicht so ganz.
Hinzufügen sollte ich noch, dass heute, fast 40 Jahre später, alle, mit denen ich damals da draußen saß, noch am Leben sind. Es war also doch nicht ganz so schlimm.
Oder? Oder sind wir vielleicht wie diese Frösche, die im Topf mit allmählich siedendem Wasser bis kurz vor dem Siedepunkt vergnügt vor sich hin quaken und dann als hartgekochter Frosch sterben?
Damals begannen die Zeitungen in Amerika und Großbritannien von der »German Angst« zu schreiben, und die deutschen schrieben es ab. In Frankreich sprach man auch von »Le Vertige allemand«, vom »deutschen Taumel«.
Gemeint war mit beiden Formeln eine verwirrende Unruhe und neue Unsicherheit, eine schwärmerische, romantische Sehnsucht nach einer allzu reinen Welt ohne Waffen, ohne Umweltverschmutzung, ohne Macht, mit gebändigtem Kapitalismus, Naturvergötzung und
»Mainzelmännchenmoral«, wie der großartige Karl Heinz Bohrer das damals nannte. Und auf der anderen Seite eine Angst vor der Wirklichkeit, der Wunsch, den Realitäten zu entfliehen, die solche naiven Utopien überhaupt entstehen ließen. Waren die Deutschen wieder mal, wie schon Friedrich Nietzsche vor über einem Jahrhundert gewarnt hatte, »immer von vorgestern und von übermorgen«?
In Deutschland hat man auch heute Angst vor besonders vielen Dingen: Finanzkrise und Terror, vor Altersarmut und sozialem Abstieg, vor Demenz und vor dem Fremden, vor Artensterben und Klimawandel. »Man will Angst haben«, konstatiert der Soziologe Ulrich Bröckling insbesondere für die AfD-Wähler und die Leute, die sie bedienen.
In Deutschland spricht man heute aber auch gern von Resilienz. Das ist eines der Modewörter unserer Gegenwart. Ich glaube man spricht hier mehr davon als in anderen Ländern, weil wir viel weniger resilient sind. Wir können mit Krisen, wir können mit Unsicherheit schlechter umgehen als andere Völker. Wir sind ängstlicher. Krisenforscher konstatieren, dass sich ein Gefühl der Aussichtslosigkeit in Deutschland breitmache, weil die Krise zum Dauerzustand geworden sei – und Stephan Grünewald, den ich hier zitiere, hat das im März 2022 gesagt, als der Ukrainekrieg gerade erst begonnen hatte. Die Bevölkerung rutscht von Angst als einem spontanen Zustand in eine Grundstimmung dauernder Resignation. Die Angst wird chronisch. Vom »Melancovid« ist die Rede. Kaum ist die eine Krise vorbei, holt die nächste einen ein.
Vielleicht hoffen die Deutschen etwas zu sehr darauf, dass sie Herr im eigenen Haus sein könnten. Aber das wird man nie.
Wir, die Generation German Angst, haben so oft gesagt bekommen, dass wir Angst haben müssen; wir haben so gut gelernt, Angst zu haben, und wir haben vor allem möglichen Quatsch und Unsinn und absurd zugespitzten Szenarien tatsächlich Angst gehabt, dass wir uns irgendwann wundgeängstigt haben. Wir haben eine Art Schutzschicht gegen die Angst gebildet.
Jetzt sollen wir wieder Angst haben: vor der Inflation, vor dem Ukrainekrieg, vor der Erderwärmung, und wieder mal vor den Russen. Vielleicht ist da auch etwas dran, und ich bekomme ja mit, dass tatsächlich viele Leute in meiner Umgebung, vor allem Jüngere ganz viel Angst haben vor all diesen Dingen. Gerade auch – ich lebe in Berlin – die Ostdeutschen. Egal wie die Modesoziologen das wegreden und behaupten, es gäbe keine Spaltung der deutschen Gesellschaft, bin ich
überzeugt: Die Ostdeutschen haben sogar so viel Angst, dass es wirkt, als hätten sie gar keine.
Ich finde diese ganzen Ängste übertrieben. Etwas mehr Gelassenheit, Mut und etwas Vertrauen in die Zukunft könnte hier ein Gegengewicht bilden. Mut ist sowieso das Gegenteil von Angst. Aber Mut und Zukunft sind keine beliebten Begriffe in Deutschland – dem Land mit den weltweit meisten Versicherungen pro Kopf. Außer bei uns, jenen, die im kurzen Zeitfenster zwischen Nachkrieg und
(eingebildeter! klammheimlich genossener) Dauerkrise aufwuchsen.
Weil wir diese Schutzschicht gegen die Angst haben, sind wir im guten Sinne immun. Sie hat uns während Corona geholfen, wo wir letztlich ziemlich früh begriffen haben: So schlimm ist das alles gar nicht. Und einige der Regierungsmaßnahmen sind ganz schön übertrieben. Sie dienen nicht zu irgendwelchen gesundheitlichen Zwecken, sondern dazu, den ängstlichen Teil der Bevölkerung zu beruhigen und Beunruhigung zu verhindern.
Wir, die Generation German Angst sind alles andere als übersensibel. Das hilft uns gegen die Überempfindlichkeit, die gerade aus allen möglichen Richtungen in die Gesellschaft hineingetragen wird, und die, wenn man sie ernst nehmen würde, eine Gesellschaft sehr schnell durch Hysterie auseinander fliegen ließe.
Manchmal könnte man aber auch vermuten, dass wir umgekehrt zu unsensibel sind, und dass die Schutzschicht gegen die falschen und eingebildeten Ängste uns unempfindlich macht für die wirklichen Gefahren. Teflon gegen Schneeflocke.
Tatsächlich glaube ich, dass der Faschismus in allen seinen Facetten, dass der neue Antisemitismus der Mitte und der Nationalsozialismus der Neuen Rechten weitaus gefährlicher sind als viele andere Dinge, um die wir uns oft viel größere Sorgen
machen. Ich bin überzeugt, dass nicht nur Angst blind macht, sondern auch Angst-Unempfindlichkeit. Die neuen Nazis und die Art, wie ihre Diskurse die Gesellschaft infizieren, sollte uns Angst machen.
Angst ist gefährlich. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Angst, sich zur Angst zu bekennen. Eine Angst, die eigene Angst zuzulassen. Diese Angst vor der Angst ist auch gefährlich.
Wir sollten versuchen, diesen Widerspruch gelassen auszuhalten. Denn das Schlimmste kommt erst noch. Ich weiß es. Ich bin die German Angst.
Anmerkung: Der Autor war an Planung und Konzeption des Frankfurter Kongresses »Zukunft deutscher Film« beteiligt, und wird verschiedene Diskussionsrunden moderieren.