06.06.2013

»Ich hatte am meisten Angst vor „schönen“ Bildern!«

Hanns Schuschnig, Anna Fischer in DIE LEBENDEN
Mit dem Großvater unterwegs
(Foto: Real Fiction)

Der zweite Teil unseres Gesprächs mit Barbara Albert über ihren neuen Film Die Lebenden, über ihre Hauptdarstellerin Anna Fischer, und die heimliche Sehnsucht, Opfer zu sein...

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.

Hier geht es zum ersten Teil des Inter­views.

artechock: Wir sprachen bis jetzt über die Möglich­keit des Abar­bei­tens einer Vergan­gen­heit. Du sagtest, Schweigen mache krank. Daraus folgt, dass es in jedem Fall der bessere Weg ist, dass man sich der Vergan­gen­heit stellt. Gilt das denn auch für die Täter selbst?

Barbara Albert: Unbedingt. Auch für die Täter. Wenn die hätten zugeben können, dass sie Täter waren und sich schuldig fühlen, anstatt immer nur Ausreden zu suchen und zu erklären, dass sie sich nicht schuldig fühlen, dann hätte das auch den Familien geholfen.
Ich als Enkelin bin nicht in der Position jemandem etwas zu verzeihen. Ich bin auch kein Opfer. Deshalb kann ich auch keinem Täter verzeihen. Ich möchte auch nicht behaupten, dass ich darunter leide, dass mein Großvater bei der SS war, das finde ich falsch – in Anbe­tracht der Gräuel­taten und der Morde kann ich doch nicht von mir als Opfer sprechen.
Es gibt aber solche Tendenzen. Manche Opfer-Enkel haben diese Position vertei­digt. Trotzdem: Ich sehe mich nicht als Opfer.

artechock: Du hast im Film eine Passage, in der Sita in Auschwitz einer Enkelin eines Opfers begegnet. Die sagt ihr »Tut mir leid.« Da wird deutlich, dass es eben für die Enkel natürlich schöner und bequemer ist, Nachfahr von Opfern zu sein, als von Tätern. Man kann dann eben keine Opfer-Geschichten erzählen, sondern man schämt sich...

Albert: Ja. Diese Szene ist mir sehr wichtig. Wir haben auch versucht, Sita eine Antwort in den Mund zu legen. Aber das ging nicht. Was da auch deutlich werden sollte: Es gibt auch unter Enkeln der Opfer ein irres Selbst­be­wusst­sein, die Haltung, dass ihnen das Thema allein gehört, und sie damit machen dürfen, was sie wollen. Ich habe mich schon manchmal über Filme geärgert, die mit einer gewissen Arroganz Täter anpran­gern – weil sie halt in der Position der Opfer sind.

Als Kind habe ich auch diesen klas­si­schen Schul­ter­schluss mit den Opfern vorge­nommen. Ich habe alle Tage­bücher Anne Franks gelesen. Es ist typisch: Man will Opfer sein, die Iden­ti­fi­ka­tion mit den Opfern war natürlich sehr viel stärker.
Ich kenne sehr viele meiner Gene­ra­tion, die erst spät darauf gekommen sind, dass sie Täter-Enkel sind, aber dann diesen Schul­ter­schluss vorge­nommen haben.

artechock: Die Groß­mutter-Figur kommt in dem Film kaum vor. Obwohl sie offen­kundig wichtig ist: Es heißt, sie sei »an gebro­chenem Herzen« gestorben. Wir sehen aller­dings ihre Tage­bücher, die Sita später vom Vater erhält. Wir erfahren aber nicht, was drin steht. Warum eigent­lich?

Albert: Nachdem dies ein Film ist, der Fragen stellt, aber keine Antworten gibt, keine Lösung vorgibt, können auch nicht die Tage­bücher am Schluss eine Erklärung sein.
Was mir gut gefiel, ist die Vorstel­lung, dass man darüber eben nicht reden kann, ich fand diesen Gedanken gut, dass es irgend­wann im Tagebuch nur noch weiße Seiten gibt, weil man darüber, über den Schrecken der Erfahrung, nichts mehr sagen kann, weil man verstummt. Und gerade dass die Groß­mutter stumm wird, das fand ich einen schönen Gedanken. Wir haben es jetzt so geschnitten, dass es offen bleibt, was Sita liest, aber es ist klar, dass Sita die Geschichte der Groß­mutter kennen­lernt.

Für mich selbst ist es so, dass ich meine Groß­mutter nicht gut gekannt habe. Aber die Sehnsucht nach dieser Groß­mutter habe ich in dem Moment, in dem im Interview die Groß­mutter gespie­gelt wird, ausge­drückt. Man begreift, dass eine Verbin­dung da ist, die Groß­mutter aber letztlich eine unbe­kannte Frau bleibt.

artechock: Diese Passagen des Inter­views mit dem Großvater haben mir besonders gut gefallen. Sie sind sehr lite­ra­risch, sehr dicht, es sind sprach­lich anspruchs­volle Momente, in denen er seine Erleb­nisse schildert. Es geht unter anderem um den Rück­marsch aus Auschwitz und die Erschießung eines Italie­ners. Wo stammen diese Texte her?

Albert: Das sind Texte, die stammen fast eins zu eins aus dem Interview mit meinem Großvater. Ich habe nur inhalt­lich ein paar Dinge hinzu­ge­fügt. Etwa dieser Selbst­mord des älteren Sohnes – das ist erfunden von mir. Es ist also eine Mischung aus erfun­denen und echten Sequenzen. Mein Großvater hat so lite­ra­risch gespro­chen. Zum Beispiel: Die Geschichte mit dem Italiener ist eins zu eins er.

artechock: Ja? Auch die Passage in der er über die intime Beziehung zwischen Mörder und Opfer spricht? Das ist ja einfach super.

Albert: Ich fand es auch super. Das war so stark, dass ich es auch nicht verändern wollte. Mein Onkel hat in seinem Roman diesen Text selbst auch verwendet und verändert. Mir ist aller­dings nicht ganz klar, worauf sich mein Großvater mit manchen Bemer­kungen bezogen hat. Er hat ja wirklich Sachen gesagt, wie »Ich habe keiner Fliege was zuleide getan.« Aber er hat auch gesagt: »Ein einziges Mal habe ich mich schuldig gefühlt, nach Auschwitz.« Also nicht in Auschwitz. Er war danach in Flos­sen­bürg. Darum ist ein Bonhoeffer-Verweis drin. Weil mein Großvater zu der Zeit dort war, als Bonhoeffer in Flos­sen­bürg hinge­richtet wurde. Es gibt leider keine Akten, und ich will da auch gar nichts hinein­in­ter­pre­tieren, was womöglich geschah.

artechock: Hast Du Deinen Großvater eigent­lich noch gespro­chen, während Du an dem Film gear­beitet hast?

Albert: Nein, da war er schon tot. Als er gestorben ist, war ich 29, ich war während Dreh­ar­beiten zu einem anderen Film. Zuvor hatte ich ihn wenig gesehen, obwohl mir klar war, dass da irgend­etwas war... Aber ich hätte nie gewagt, ihn zu fragen. Das war bei uns ganz klar: Da redet niemand drüber. Anschei­nend hat meine Mutter, die in die Familie einge­hei­ratet hat, einmal gefragt – daraufhin gab es ganz großen Streit. Danach war dann klar: Das geht nicht, das darf nicht mehr ausge­spro­chen werden. Deswegen war da für mich so etwas wie ein Tabu.

artechock: Wie inter­es­sant, dass er es dann alles erzählt hat im Interview mit einem ferneren Verwandten, der es sogar lite­ra­risch verwerten wollte...

Albert: Mein Onkel hat dann dazu auch gesagt: Es war wie ein Ventil, aus dem alles heraus­ge­spru­delt ist. Ganz lange hatte er nicht darüber gespro­chen. Mein Vater wusste das zum Beispiel alles nicht. Sein Bruder ist in Auschwitz geboren, und erfuhr das erst mit 18 Jahren zufällig, als herauskam, dass da etwas an der Geburts­ur­kunde gefälscht war.
Natürlich Mein Großvater hatte anfäng­lich Angst, dass er umge­bracht würde – deswegen war es auch in der Familie verboten, darüber zu sprechen.

artechock: Du kommst selbst aus einer sieben­bür­gi­schen Familie, auch darin wie die Sita. Hat diese Volks­gruppe enge Bezie­hungen unter­ein­ander, und ein starkes Bewusst­sein, Sieben­bürger zu sein? Wie sieht das aus?

Albert: Ganz stark. Die Groß­fa­milie ist das Wich­tigste. Deswegen ist es sehr proble­ma­tisch, wenn Du ein »Nest­be­schmutzer« bist, so wie mein Onkel. Der ist das Schwarze Schaf dadurch, dass er in der Vergan­gen­heit gekramt hat. Dann ist man geächtet.
Es gibt schon ein Bewusst­sein des Zusam­men­halts. Auch ich freue mich sehr, wenn ich Sieben­bürger treffe – man hat wirklich etwas Gemein­sames. Es verbindet stark. Meine Cousinen in Deutsch­land wurden erst in den 80er-Jahren raus­ge­kauft, oder sind zum Teil davor geflohen. Die bleiben auch heute unter sich – ein ziemlich geschlos­senes System. Das war natürlich in Rumänien ganz stark so. Man hätte nie eine Rumänin gehei­ratet, selbst meine Großel­tern: Meine Groß­mutter war aus dem Banat und katho­lisch, mein Großvater aus Sieben­bürgen und protes­tan­tisch, das war eigent­lich auch nicht erlaubt, zu heiraten.
Das waren sehr geschlos­sene Gesell­schaften. Die wollten sich schützen, indem sie sich sehr stark nach Außen abge­grenzt haben. Deswegen war es sehr herme­tisch.

In den 80er Jahren war ich dreimal in Sieben­bürgen. Es heute zu sehen, mit seinen kaputten Kirchen und Häusern, ist schon traurig. Aber es gibt in Europa mehrere Orte im Osten, die ähnlich verlassen sind – es ist einfach eine Entwick­lung. Es gehört zum Leben, das Dinge aussterben und überholt sind. Auch dieser Natio­nal­stolz, der die Sieben­bürger so weit gebracht hat, dass sie alle zur SS gegangen sind und dann dort als deutsche Volks­gruppe – wie es mein Großvater ausge­drückt hat – »zur Drecks­ar­beit geholt« wurden. Die waren ja ganz viel in Konzen­tra­ti­ons­la­gern, viel mehr als Deutsche. Sie mussten dadurch viel­leicht beweisen, dass sie die besseren Deutschen sind – wie die Öster­rei­cher auch.

artechock: Deine Familie ist protes­tan­tisch?

Albert: Mein Vater. Meine Mutter ist katho­lisch-öster­rei­chisch – und durfte meinen Vater nur heiraten, weil sie verspro­chen hat, uns katho­lisch zu erziehen.

artechock: Wie hat sich in Öster­reich der Diskurs um die Vergan­gen­heit verändert? In meiner Wahr­neh­mung war die entschei­dende Epoche die Jahre zwischen 1986 und 1988. Da kam viel zusammen: Die Premiere von Thomas Bern­hardts „Helden­platz“, die Waldheim-Affaire, der Beginn des Aufstiegs von Jörg Haider, und das 50-jährige Jubiläum des Anschlusses 1938...

Albert: Es war die Zeit, wo sich viel verän­derte. Ich habe die Zeit davor nicht so intensiv erlebt. Ich war als Schülerin durchaus politisch, eher links, auch aktiv. Ich wollte diese Erfah­rungen auch erst noch mehr in die Sita-Figur rein­bringen. Diese Erfahrung stand am Anfang des Films.

Ich kann mich sehr gut an das Jahr 1988 erinnern, da gab es diese Schwei­ge­mi­nute in der Schule – das war eine Verän­de­rung. Es wurde gesagt: Wir waren schuld. Es war eine Wende: Auch die Waldheim-Affaire. Man hat in Öster­reich begonnen, ehrlicher mit seiner Vergan­gen­heit umzugehen. Dann kam noch die Wehr­machts­aus­stel­lung. Aber dann folgte auch bald die Gegen­re­ak­tion: »So jetzt reicht’s aber auch. Jetzt ist es genug.«

Wir Öster­rei­cher haben das, was Deutsch­land in Jahr­zehnten gemacht hat, im Schnell­durch­lauf, in knapp zehn Jahren erledigt. Ich finde es besser, wie es in Deutsch­land gehand­habt wird. Anders als in Öster­reich ist das sehr sehr oft noch ein Thema. Und das ist wichtig, denn es wachsen ja jüngere Gene­ra­tionen nach.

artechock: Jetzt hast Du eine Figur in Deinem Film, die die Gene­ra­tionen über­brückt: Der Vater. Er ist grund­sätz­lich eine sympa­thi­sche Figur, aber auch irgendwie sehr schwach; Du zeigst ihn als sensiblen Mensch, er ist der, der zweimal weint im Film; er ist verankert in einer sehr klas­si­schen sehr deutschen Kultur, er singt Schubert-Lieder und solche Dinge... Gleich­zeitig aber sagt er Sachen wie: »Man muss die Vergan­gen­heit auch mal ruhen lassen«, oder »Die Sieben­bürger hatten doch gar keine Wahl.«
Was ist das für eine Figur?

Albert: Das ist ein typischer Verdränger, der nicht zulässt, dass man da weiter nach­forscht. Ein Auswei­chender, einer, der nie gegen seine Eltern sein kann. Der kein 68er war, sondern sehr konform. Der das Leid seiner Eltern immer vorge­betet bekam, und deswegen lieber ausweicht. Es würde ihm viel­leicht auch wehtun, zu erfahren, was wirklich war, deswegen will er überhaupt nicht hinschauen. Er ist einer, der weniger weiß, als seine Tochter.

artechock: Würdest Du sagen, er verändert sich, wenn er dann auf der Fahrt nach Auschwitz weint? Oder ist das nur so eine Senti­men­ta­lität? Das könnte man ja auch sagen: Der hat ein senti­men­tales Verhältnis zu allem, auch einen Kitsch in seinem Auswei­chen...

Albert: Der Begriff Senti­men­ta­lität ist sehr sehr treffend – auch was die Sieben­bürger angeht. Das ist jetzt viel­leicht eine blöde Verall­ge­mei­ne­rung. Aber da gibt es so etwas Senti­men­tales, was ich sehr gut verstehe. Das erlebt man an dieser Figur.
Zu dem Verhältnis zwischen den beiden: Dadurch, dass die Sita für den Vater diesen Weg nach Auschwitz geht, glaube ich, dass das etwas in ihm auslöst. Er akzep­tiert die Vergan­gen­heit, söhnt sich aus. .

artechock: Und Sita selbst? Sie sucht, ist neugierig, studiert Literatur, stellt auch unbe­fangen ihre Fragen, sucht... Gleich­zeitig hat das erkennbar auch etwas mit der eigenen Iden­ti­täts­fin­dung zu tun...

Albert: Ja! Ich glaube schon, dass dies ein Film über Identität ist, über Iden­ti­täts­fin­dung. Ursprüng­lich war es sogar wie ein klas­si­scher Entwick­lungs­roman gedacht. Ihre Unbe­fan­gen­heit ist wichtig, denn nur so wird deutlich, dass die Täter uns ganz nahe sind, dass sie auch wir sind. Nicht irgend­welche Monster hinter dem Berg, sondern das sind wir.

Eine persön­liche Erfahrung ist mein Besuch in Bosnien 1996 kurz nach dem Krieg: Das war ein Augenöffner, mit Tätern zu sprechen, die waren Anfang 20, die waren im Schüt­zen­graben und haben gemordet, oder wollten es. Aber es waren Menschen wie ich – Kunst­stu­denten, Archi­tek­tur­stu­denten, wahn­sinnig herzliche, liebe Menschen. Dieses Erlebnis hat mich lange nicht losge­lassen: Der Krieg war den Menschen wahn­sinnig nahe. Ich war immer Pazi­fistin, aber wenn man dort lebt, in einer Wohnung, wo die Fenster noch kaputt sind, zwischen Ruinen, und wenn Du dauernd vor Minen Angst hast, dann ist Krieg nicht mehr dieses Unvor­stell­bare.

artechock: Sita ist eine ganz und gar von heute...

Albert: Ich wollte eine lebendige Figur aus dem Hier und Heute, die nicht trau­ma­ti­siert ist, die ein ganz normales Leben führt, ein sehr typisches Leben auch, die mit Medien zu tun hat. Die Medien kommen ja auch ambi­va­lent vor...

artechock: Sita wird von Anna Fischer gespielt. Toll, dass Du ihr diese Chance gegeben hast, sie war aus meiner Sicht bisher immer etwas unter Wert wahr­ge­nommen worden. Warum hast Du sie ausge­wählt?

Albert: Ich hatte sie noch während des Schreib­pro­zesses in diesem Film Teufels­braten von Hermine Hund­ge­burth gesehen. Sie ist darin ganz direkt, sehr emotional. Das hat für mich total gestimmt, und mich sehr berührt. Dieses Unmit­tel­bare an ihr finde ich sehr spannend.

Gerade für den Film wollte ich auf keinen Fall jemanden, der zu verkopft ist. Der Film ist von meiner Seite her eh schon sehr verkopft. Ich wollte eine Schau­spie­lerin, die das auf keinen Fall ist, die nicht die ganze Zeit nach­denk­lich wirkt, sondern die körper­lich an die Sache 'rangeht. Das reprä­sen­tiert die Anna: Sie hat einen direkten Zugang, sie arbeitet sehr intuitiv und emotional. Sobald man beginnt, in der Rolle über das Geschehen nach­zu­denken, ist man schon draußen. Da spürt Anna genau die Situation und lässt sich total auf die Situation ein. Sie bleibt dabei echt wahn­sinnig konzen­triert. Erstaun­lich: In der letzten Drehwoche waren wir nach­ein­ander in Warschau, Auschwitz, Sieben­bürgen. Das war eine emotio­nale Tour de Force, da war ich auch persön­lich durch den Wind, und die Anna war extrem konzen­triert. Sie ist auch extrem präzise. Sie ist eine der ganz wenigen, die ich nicht endlos gecastet habe. Ich habe gespürt: Das stimmt für mich. Die Anna hat auch gespürt und instinktiv empfunden, was ich wollte.

artechock: Wer ist der Schau­spieler der den Großvater spielt?

Albert: Der Hanns Schu­schnig war eine Entde­ckung meiner Casterin. Er ist Sieben­bürger, deswegen hat er diese authen­ti­sche Sprache. Diese Sprache ist mir total wichtig, auch wenn sie manche als künstlich empfinden, ist sie doch sehr authen­tisch. Die Sieben­bürger sprechen so. Er ist 86 Jahre alt, und eigent­lich ein Thea­ter­re­gis­seur. Das lange Interview war der erste Drehtag – wie ein Sprung ins kalte Wasser. Er macht das großartig – weil er nicht wertet; weil er diesen Satz – »Ich spiele einen SS-Mann« – nicht mitspielt, wie das viele tun. Jeder Schau­spieler denkt da, er muss irgend­etwas Beson­deres daraus machen. Der Hanns möchte diesen Menschen erzählen, sehr schlicht und einfach.

artechock: Die Kamera hat Bogumil Godfrejów gemacht...

Albert: Ein polni­scher Kame­ra­mann. Du kennst ihn von den Filmen Hans-Christian Schmids, Lichter und Sturm.

artechock: Seine Kamera ist relativ unruhig, sehr subjektiv, sehr nahe an der Haupt­figur, und hat auch mit Sita einen suchenden Blick. Auch vom Schnitt her wird da ganz bewusst von Dir eine Form von Unruhe rein­ge­bracht, die drama­tur­gi­schen Sinn hat, weil sie der Unruhe der Haupt­figur entspricht, scheint mir...

Albert: Genau. Die Unruhe geht absolut von der Haupt­figur aus. Es war von Anfang an klar: Ich möchte auch ganz nahe an ihr sein. Das ist eben ein reiner Hand­ka­mera-Film. Für manche Zuschauer ist das manchmal anstren­gend. Aber für mich ist das so richtig.

Ich hatte am meisten Angst vor einer gedie­genen Kamera; vor »schönen« Bildern bei diesem Thema, vor dem Getra­genen. Deswegen wollte ich etwas Raueres. Bogumil Godfrejów ist so dran, dass er richtig mitre­agiert. Etwa bei diesen Inter­view­pas­sagen haben wir sehr lange Einstel­lungen gedreht, mit Schwenks auf Sita. Der Bogumil ist extrem intuitiv – man hat manche Sachen nicht so in der Hand, und muss darum kämpfen. Aber es war dann im Ergebnis so, wie ich wollte.

artechock: Ich finde auch, dass die Bilder schön sind...

Albert: Ja ja. Ich wollte nur keine ruhigen Kame­ra­fahrten, keine starren Bilder, sondern eine pulsie­rende Kamera.

artechock: Wenn Du schon sagst, Du wolltest nichts Getra­genes – ich finde, Du hast hier durchaus etwas Getra­genes: In der Musik! Du kombi­nierst klas­si­sche Sachen mit sehr modernen Stücken: Popklas­siker, das Purcell-Stück a la Elek­tropop gespielt. Dieser ganz besondere, sehr gute kluge Umgang mit Musik zieht sich durch alle Deine Filme. Wie wählst du Musik aus? Wie setzt Du sie ein?

Albert: Ich habe erstmals seit Langem mit Score gear­beitet. Die Musik ist wahr­schein­lich das Emotio­nalste. Für mich ist das ein eigenes, eigen­s­tän­diges Depart­ment, das stark mit Emotionen zu tun hat. Ich habe beim Schreiben oft schon Nummern im Kopf. Aber es ist heute schwierig, die Rechte zu bezahlen. So ist zwar keine einzige Nummer im Film, die ich ursprüng­lich wollte – aber es entspricht ganz stark meinen Gedanken.
Schubert und Purcell sind die Musik der Väter. Die Sita trans­for­miert das aber, sie macht daraus ihre eigene Musik.

artechock: Was verbindet diesen Film mit Deinen anderen Filmen?

Albert: Das Thema Schuld kommt immer wieder vor. Das ist ein Leitmotiv. Ich habe aber das Gefühl, dass jeder meiner Filme etwas anders ist. Ich probiere immer etwas Neues. Ande­rer­seits geht es schon immer um junge Frauen, die aus irgend­einem Rahmen ausbre­chen wollen, und um ihr Lebens­ge­fühl. Auch der Umgang mit Musik. Musik ist für mich das Lust­vollste am Filme­ma­chen.

artechock: Bist Du denn eine Frau­en­re­gis­seurin? Es gibt den weib­li­chen Blick auf Frauen?

Albert: Ich finde es schwer, das zu beur­teilen. Es gibt Männer, die finden, ich habe einen weib­li­chen Blick. Den sehe ich nicht. Mir fehlt die Möglich­keit das zu analy­sieren.

artechock: Ich finde, Dir gelingt es immer gut, Inten­sität darzu­stellen, etwas Lust­volles, Sinn­lich­keit...

Albert: Es ist schön, dass Du das sagst: Inten­sität ist mir sehr wichtig. Das Ausbre­chen der Figuren. Darum liebe ich Tanz­szenen. Man bricht aus dem Frame aus, da halte ich mich dann auf, bleibe bei den Figuren, ihren Gesich­tern, Körpern.
Ich bin eher an Ausweich­mög­lich­keiten inter­es­siert. Dies sind eigent­lich die schönen und poeti­schen Momente im Kino, wo man nicht nur den Plot erzählt, sondern sich ein Film öffnet, diese Aha-Momente.
Was ich im Kino sehen möchte, dass sind genau diese Momente, wo man ausbricht, wo sich etwas öffnet, wo man nicht mehr an die Geschichte denkt oder an die Figur. Das ist wie eine Offen­ba­rung: Irgend­etwas kommt da von der Leinwand auf Dich zu, etwas wird Dir klar vom Leben, wo man etwas Neues erkennt, etwas begreift – das erlebt man nur in Filmen, die sich raus­be­wegen aus dem Plot. Das ist wahn­sinnig schwer herzu­stellen, ich weiß auch nicht, ob mir das je gelungen ist. Aber es trauen sich immer weniger Filme.
Es gibt die eine Montage-Sequenz, in der Sita liest. Die habe ich sehr gemocht, denn es ist stark Film.

artechock: Warum eigent­lich der Titel?

Albert: Die Über­le­benden sind immer die Opfer. Im Titel „Die Lebenden“ schwingen die Toten mit. Es geht aber letztlich wirklich um die Lebenden. Sie sollten Verant­wor­tung über­nehmen: Die Sita, die heute lebt und anders mit Verant­wor­tung und Schuld umgeht.

artechock: Hast Du schon neue Pläne?

Albert: Gedank­lich wollte ich schon seit vielen Jahren einen Geis­ter­film machen. Ich werde den Film aber nur machen, wenn ich eine Idee habe, die wirklich neu ist.