»Ich hatte am meisten Angst vor „schönen“ Bildern!« |
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Mit dem Großvater unterwegs | ||
(Foto: Real Fiction) |
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland.
Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.
artechock: Wir sprachen bis jetzt über die Möglichkeit des Abarbeitens einer Vergangenheit. Du sagtest, Schweigen mache krank. Daraus folgt, dass es in jedem Fall der bessere Weg ist, dass man sich der Vergangenheit stellt. Gilt das denn auch für die Täter selbst?
Barbara Albert: Unbedingt. Auch für die Täter. Wenn die hätten zugeben können, dass sie Täter waren und sich schuldig fühlen, anstatt immer nur Ausreden zu suchen und zu erklären, dass sie sich nicht schuldig fühlen, dann hätte das auch den Familien geholfen.
Ich als Enkelin bin nicht in der Position jemandem etwas zu verzeihen. Ich bin auch kein Opfer. Deshalb kann ich auch keinem Täter verzeihen. Ich möchte auch nicht behaupten, dass ich
darunter leide, dass mein Großvater bei der SS war, das finde ich falsch – in Anbetracht der Gräueltaten und der Morde kann ich doch nicht von mir als Opfer sprechen.
Es gibt aber solche Tendenzen. Manche Opfer-Enkel haben diese Position verteidigt. Trotzdem: Ich sehe mich nicht als Opfer.
artechock: Du hast im Film eine Passage, in der Sita in Auschwitz einer Enkelin eines Opfers begegnet. Die sagt ihr »Tut mir leid.« Da wird deutlich, dass es eben für die Enkel natürlich schöner und bequemer ist, Nachfahr von Opfern zu sein, als von Tätern. Man kann dann eben keine Opfer-Geschichten erzählen, sondern man schämt sich...
Albert: Ja. Diese Szene ist mir sehr wichtig. Wir haben auch versucht, Sita eine Antwort in den Mund zu legen. Aber das ging nicht. Was da auch deutlich werden sollte: Es gibt auch unter Enkeln der Opfer ein irres Selbstbewusstsein, die Haltung, dass ihnen das Thema allein gehört, und sie damit machen dürfen, was sie wollen. Ich habe mich schon manchmal über Filme geärgert, die mit einer gewissen Arroganz Täter anprangern – weil sie halt in der Position der Opfer sind.
Als Kind habe ich auch diesen klassischen Schulterschluss mit den Opfern vorgenommen. Ich habe alle Tagebücher Anne Franks gelesen. Es ist typisch: Man will Opfer sein, die Identifikation mit den Opfern war natürlich sehr viel stärker.
Ich kenne sehr viele meiner Generation, die erst spät darauf gekommen sind, dass sie Täter-Enkel sind, aber dann diesen Schulterschluss vorgenommen haben.
artechock: Die Großmutter-Figur kommt in dem Film kaum vor. Obwohl sie offenkundig wichtig ist: Es heißt, sie sei »an gebrochenem Herzen« gestorben. Wir sehen allerdings ihre Tagebücher, die Sita später vom Vater erhält. Wir erfahren aber nicht, was drin steht. Warum eigentlich?
Albert: Nachdem dies ein Film ist, der Fragen stellt, aber keine Antworten gibt, keine Lösung vorgibt, können auch nicht die Tagebücher am Schluss eine Erklärung sein.
Was mir gut gefiel, ist die Vorstellung, dass man darüber eben nicht reden kann, ich fand diesen Gedanken gut, dass es irgendwann im Tagebuch nur noch weiße Seiten gibt, weil man darüber, über den Schrecken der Erfahrung, nichts mehr sagen kann, weil man verstummt. Und gerade
dass die Großmutter stumm wird, das fand ich einen schönen Gedanken. Wir haben es jetzt so geschnitten, dass es offen bleibt, was Sita liest, aber es ist klar, dass Sita die Geschichte der Großmutter kennenlernt.
Für mich selbst ist es so, dass ich meine Großmutter nicht gut gekannt habe. Aber die Sehnsucht nach dieser Großmutter habe ich in dem Moment, in dem im Interview die Großmutter gespiegelt wird, ausgedrückt. Man begreift, dass eine Verbindung da ist, die Großmutter aber letztlich eine unbekannte Frau bleibt.
artechock: Diese Passagen des Interviews mit dem Großvater haben mir besonders gut gefallen. Sie sind sehr literarisch, sehr dicht, es sind sprachlich anspruchsvolle Momente, in denen er seine Erlebnisse schildert. Es geht unter anderem um den Rückmarsch aus Auschwitz und die Erschießung eines Italieners. Wo stammen diese Texte her?
Albert: Das sind Texte, die stammen fast eins zu eins aus dem Interview mit meinem Großvater. Ich habe nur inhaltlich ein paar Dinge hinzugefügt. Etwa dieser Selbstmord des älteren Sohnes – das ist erfunden von mir. Es ist also eine Mischung aus erfundenen und echten Sequenzen. Mein Großvater hat so literarisch gesprochen. Zum Beispiel: Die Geschichte mit dem Italiener ist eins zu eins er.
artechock: Ja? Auch die Passage in der er über die intime Beziehung zwischen Mörder und Opfer spricht? Das ist ja einfach super.
Albert: Ich fand es auch super. Das war so stark, dass ich es auch nicht verändern wollte. Mein Onkel hat in seinem Roman diesen Text selbst auch verwendet und verändert. Mir ist allerdings nicht ganz klar, worauf sich mein Großvater mit manchen Bemerkungen bezogen hat. Er hat ja wirklich Sachen gesagt, wie »Ich habe keiner Fliege was zuleide getan.« Aber er hat auch gesagt: »Ein einziges Mal habe ich mich schuldig gefühlt, nach Auschwitz.« Also nicht in Auschwitz. Er war danach in Flossenbürg. Darum ist ein Bonhoeffer-Verweis drin. Weil mein Großvater zu der Zeit dort war, als Bonhoeffer in Flossenbürg hingerichtet wurde. Es gibt leider keine Akten, und ich will da auch gar nichts hineininterpretieren, was womöglich geschah.
artechock: Hast Du Deinen Großvater eigentlich noch gesprochen, während Du an dem Film gearbeitet hast?
Albert: Nein, da war er schon tot. Als er gestorben ist, war ich 29, ich war während Dreharbeiten zu einem anderen Film. Zuvor hatte ich ihn wenig gesehen, obwohl mir klar war, dass da irgendetwas war... Aber ich hätte nie gewagt, ihn zu fragen. Das war bei uns ganz klar: Da redet niemand drüber. Anscheinend hat meine Mutter, die in die Familie eingeheiratet hat, einmal gefragt – daraufhin gab es ganz großen Streit. Danach war dann klar: Das geht nicht, das darf nicht mehr ausgesprochen werden. Deswegen war da für mich so etwas wie ein Tabu.
artechock: Wie interessant, dass er es dann alles erzählt hat im Interview mit einem ferneren Verwandten, der es sogar literarisch verwerten wollte...
Albert: Mein Onkel hat dann dazu auch gesagt: Es war wie ein Ventil, aus dem alles herausgesprudelt ist. Ganz lange hatte er nicht darüber gesprochen. Mein Vater wusste das zum Beispiel alles nicht. Sein Bruder ist in Auschwitz geboren, und erfuhr das erst mit 18 Jahren zufällig, als herauskam, dass da etwas an der Geburtsurkunde gefälscht war.
Natürlich Mein Großvater hatte anfänglich Angst, dass er umgebracht würde – deswegen
war es auch in der Familie verboten, darüber zu sprechen.
artechock: Du kommst selbst aus einer siebenbürgischen Familie, auch darin wie die Sita. Hat diese Volksgruppe enge Beziehungen untereinander, und ein starkes Bewusstsein, Siebenbürger zu sein? Wie sieht das aus?
Albert: Ganz stark. Die Großfamilie ist das Wichtigste. Deswegen ist es sehr problematisch, wenn Du ein »Nestbeschmutzer« bist, so wie mein Onkel. Der ist das Schwarze Schaf dadurch, dass er in der Vergangenheit gekramt hat. Dann ist man geächtet.
Es gibt schon ein Bewusstsein des Zusammenhalts. Auch ich freue mich sehr, wenn ich Siebenbürger treffe – man hat wirklich etwas Gemeinsames. Es verbindet stark. Meine Cousinen in
Deutschland wurden erst in den 80er-Jahren rausgekauft, oder sind zum Teil davor geflohen. Die bleiben auch heute unter sich – ein ziemlich geschlossenes System. Das war natürlich in Rumänien ganz stark so. Man hätte nie eine Rumänin geheiratet, selbst meine Großeltern: Meine Großmutter war aus dem Banat und katholisch, mein Großvater aus Siebenbürgen und protestantisch, das war eigentlich auch nicht erlaubt, zu heiraten.
Das waren sehr geschlossene Gesellschaften. Die
wollten sich schützen, indem sie sich sehr stark nach Außen abgegrenzt haben. Deswegen war es sehr hermetisch.
In den 80er Jahren war ich dreimal in Siebenbürgen. Es heute zu sehen, mit seinen kaputten Kirchen und Häusern, ist schon traurig. Aber es gibt in Europa mehrere Orte im Osten, die ähnlich verlassen sind – es ist einfach eine Entwicklung. Es gehört zum Leben, das Dinge aussterben und überholt sind. Auch dieser Nationalstolz, der die Siebenbürger so weit gebracht hat, dass sie alle zur SS gegangen sind und dann dort als deutsche Volksgruppe – wie es mein Großvater ausgedrückt hat – »zur Drecksarbeit geholt« wurden. Die waren ja ganz viel in Konzentrationslagern, viel mehr als Deutsche. Sie mussten dadurch vielleicht beweisen, dass sie die besseren Deutschen sind – wie die Österreicher auch.
artechock: Deine Familie ist protestantisch?
Albert: Mein Vater. Meine Mutter ist katholisch-österreichisch – und durfte meinen Vater nur heiraten, weil sie versprochen hat, uns katholisch zu erziehen.
artechock: Wie hat sich in Österreich der Diskurs um die Vergangenheit verändert? In meiner Wahrnehmung war die entscheidende Epoche die Jahre zwischen 1986 und 1988. Da kam viel zusammen: Die Premiere von Thomas Bernhardts „Heldenplatz“, die Waldheim-Affaire, der Beginn des Aufstiegs von Jörg Haider, und das 50-jährige Jubiläum des Anschlusses 1938...
Albert: Es war die Zeit, wo sich viel veränderte. Ich habe die Zeit davor nicht so intensiv erlebt. Ich war als Schülerin durchaus politisch, eher links, auch aktiv. Ich wollte diese Erfahrungen auch erst noch mehr in die Sita-Figur reinbringen. Diese Erfahrung stand am Anfang des Films.
Ich kann mich sehr gut an das Jahr 1988 erinnern, da gab es diese Schweigeminute in der Schule – das war eine Veränderung. Es wurde gesagt: Wir waren schuld. Es war eine Wende: Auch die Waldheim-Affaire. Man hat in Österreich begonnen, ehrlicher mit seiner Vergangenheit umzugehen. Dann kam noch die Wehrmachtsausstellung. Aber dann folgte auch bald die Gegenreaktion: »So jetzt reicht’s aber auch. Jetzt ist es genug.«
Wir Österreicher haben das, was Deutschland in Jahrzehnten gemacht hat, im Schnelldurchlauf, in knapp zehn Jahren erledigt. Ich finde es besser, wie es in Deutschland gehandhabt wird. Anders als in Österreich ist das sehr sehr oft noch ein Thema. Und das ist wichtig, denn es wachsen ja jüngere Generationen nach.
artechock: Jetzt hast Du eine Figur in Deinem Film, die die Generationen überbrückt: Der Vater. Er ist grundsätzlich eine sympathische Figur, aber auch irgendwie sehr schwach; Du zeigst ihn als sensiblen Mensch, er ist der, der zweimal weint im Film; er ist verankert in einer sehr klassischen sehr deutschen Kultur, er singt Schubert-Lieder und solche Dinge... Gleichzeitig aber sagt er Sachen wie: »Man muss die Vergangenheit auch mal ruhen lassen«, oder »Die Siebenbürger hatten doch gar keine Wahl.«
Was ist das für eine Figur?
Albert: Das ist ein typischer Verdränger, der nicht zulässt, dass man da weiter nachforscht. Ein Ausweichender, einer, der nie gegen seine Eltern sein kann. Der kein 68er war, sondern sehr konform. Der das Leid seiner Eltern immer vorgebetet bekam, und deswegen lieber ausweicht. Es würde ihm vielleicht auch wehtun, zu erfahren, was wirklich war, deswegen will er überhaupt nicht hinschauen. Er ist einer, der weniger weiß, als seine Tochter.
artechock: Würdest Du sagen, er verändert sich, wenn er dann auf der Fahrt nach Auschwitz weint? Oder ist das nur so eine Sentimentalität? Das könnte man ja auch sagen: Der hat ein sentimentales Verhältnis zu allem, auch einen Kitsch in seinem Ausweichen...
Albert: Der Begriff Sentimentalität ist sehr sehr treffend – auch was die Siebenbürger angeht. Das ist jetzt vielleicht eine blöde Verallgemeinerung. Aber da gibt es so etwas Sentimentales, was ich sehr gut verstehe. Das erlebt man an dieser Figur.
Zu dem Verhältnis zwischen den beiden: Dadurch, dass die Sita für den Vater diesen Weg nach Auschwitz geht, glaube ich, dass das etwas in ihm auslöst. Er akzeptiert die
Vergangenheit, söhnt sich aus. .
artechock: Und Sita selbst? Sie sucht, ist neugierig, studiert Literatur, stellt auch unbefangen ihre Fragen, sucht... Gleichzeitig hat das erkennbar auch etwas mit der eigenen Identitätsfindung zu tun...
Albert: Ja! Ich glaube schon, dass dies ein Film über Identität ist, über Identitätsfindung. Ursprünglich war es sogar wie ein klassischer Entwicklungsroman gedacht. Ihre Unbefangenheit ist wichtig, denn nur so wird deutlich, dass die Täter uns ganz nahe sind, dass sie auch wir sind. Nicht irgendwelche Monster hinter dem Berg, sondern das sind wir.
Eine persönliche Erfahrung ist mein Besuch in Bosnien 1996 kurz nach dem Krieg: Das war ein Augenöffner, mit Tätern zu sprechen, die waren Anfang 20, die waren im Schützengraben und haben gemordet, oder wollten es. Aber es waren Menschen wie ich – Kunststudenten, Architekturstudenten, wahnsinnig herzliche, liebe Menschen. Dieses Erlebnis hat mich lange nicht losgelassen: Der Krieg war den Menschen wahnsinnig nahe. Ich war immer Pazifistin, aber wenn man dort lebt, in einer Wohnung, wo die Fenster noch kaputt sind, zwischen Ruinen, und wenn Du dauernd vor Minen Angst hast, dann ist Krieg nicht mehr dieses Unvorstellbare.
artechock: Sita ist eine ganz und gar von heute...
Albert: Ich wollte eine lebendige Figur aus dem Hier und Heute, die nicht traumatisiert ist, die ein ganz normales Leben führt, ein sehr typisches Leben auch, die mit Medien zu tun hat. Die Medien kommen ja auch ambivalent vor...
artechock: Sita wird von Anna Fischer gespielt. Toll, dass Du ihr diese Chance gegeben hast, sie war aus meiner Sicht bisher immer etwas unter Wert wahrgenommen worden. Warum hast Du sie ausgewählt?
Albert: Ich hatte sie noch während des Schreibprozesses in diesem Film Teufelsbraten von Hermine Hundgeburth gesehen. Sie ist darin ganz direkt, sehr emotional. Das hat für mich total gestimmt, und mich sehr berührt. Dieses Unmittelbare an ihr finde ich sehr spannend.
Gerade für den Film wollte ich auf keinen Fall jemanden, der zu verkopft ist. Der Film ist von meiner Seite her eh schon sehr verkopft. Ich wollte eine Schauspielerin, die das auf keinen Fall ist, die nicht die ganze Zeit nachdenklich wirkt, sondern die körperlich an die Sache 'rangeht. Das repräsentiert die Anna: Sie hat einen direkten Zugang, sie arbeitet sehr intuitiv und emotional. Sobald man beginnt, in der Rolle über das Geschehen nachzudenken, ist man schon draußen. Da spürt Anna genau die Situation und lässt sich total auf die Situation ein. Sie bleibt dabei echt wahnsinnig konzentriert. Erstaunlich: In der letzten Drehwoche waren wir nacheinander in Warschau, Auschwitz, Siebenbürgen. Das war eine emotionale Tour de Force, da war ich auch persönlich durch den Wind, und die Anna war extrem konzentriert. Sie ist auch extrem präzise. Sie ist eine der ganz wenigen, die ich nicht endlos gecastet habe. Ich habe gespürt: Das stimmt für mich. Die Anna hat auch gespürt und instinktiv empfunden, was ich wollte.
artechock: Wer ist der Schauspieler der den Großvater spielt?
Albert: Der Hanns Schuschnig war eine Entdeckung meiner Casterin. Er ist Siebenbürger, deswegen hat er diese authentische Sprache. Diese Sprache ist mir total wichtig, auch wenn sie manche als künstlich empfinden, ist sie doch sehr authentisch. Die Siebenbürger sprechen so. Er ist 86 Jahre alt, und eigentlich ein Theaterregisseur. Das lange Interview war der erste Drehtag – wie ein Sprung ins kalte Wasser. Er macht das großartig – weil er nicht wertet; weil er diesen Satz – »Ich spiele einen SS-Mann« – nicht mitspielt, wie das viele tun. Jeder Schauspieler denkt da, er muss irgendetwas Besonderes daraus machen. Der Hanns möchte diesen Menschen erzählen, sehr schlicht und einfach.
artechock: Die Kamera hat Bogumil Godfrejów gemacht...
Albert: Ein polnischer Kameramann. Du kennst ihn von den Filmen Hans-Christian Schmids, Lichter und Sturm.
artechock: Seine Kamera ist relativ unruhig, sehr subjektiv, sehr nahe an der Hauptfigur, und hat auch mit Sita einen suchenden Blick. Auch vom Schnitt her wird da ganz bewusst von Dir eine Form von Unruhe reingebracht, die dramaturgischen Sinn hat, weil sie der Unruhe der Hauptfigur entspricht, scheint mir...
Albert: Genau. Die Unruhe geht absolut von der Hauptfigur aus. Es war von Anfang an klar: Ich möchte auch ganz nahe an ihr sein. Das ist eben ein reiner Handkamera-Film. Für manche Zuschauer ist das manchmal anstrengend. Aber für mich ist das so richtig.
Ich hatte am meisten Angst vor einer gediegenen Kamera; vor »schönen« Bildern bei diesem Thema, vor dem Getragenen. Deswegen wollte ich etwas Raueres. Bogumil Godfrejów ist so dran, dass er richtig mitreagiert. Etwa bei diesen Interviewpassagen haben wir sehr lange Einstellungen gedreht, mit Schwenks auf Sita. Der Bogumil ist extrem intuitiv – man hat manche Sachen nicht so in der Hand, und muss darum kämpfen. Aber es war dann im Ergebnis so, wie ich wollte.
artechock: Ich finde auch, dass die Bilder schön sind...
Albert: Ja ja. Ich wollte nur keine ruhigen Kamerafahrten, keine starren Bilder, sondern eine pulsierende Kamera.
artechock: Wenn Du schon sagst, Du wolltest nichts Getragenes – ich finde, Du hast hier durchaus etwas Getragenes: In der Musik! Du kombinierst klassische Sachen mit sehr modernen Stücken: Popklassiker, das Purcell-Stück a la Elektropop gespielt. Dieser ganz besondere, sehr gute kluge Umgang mit Musik zieht sich durch alle Deine Filme. Wie wählst du Musik aus? Wie setzt Du sie ein?
Albert: Ich habe erstmals seit Langem mit Score gearbeitet. Die Musik ist wahrscheinlich das Emotionalste. Für mich ist das ein eigenes, eigenständiges Department, das stark mit Emotionen zu tun hat. Ich habe beim Schreiben oft schon Nummern im Kopf. Aber es ist heute schwierig, die Rechte zu bezahlen. So ist zwar keine einzige Nummer im Film, die ich ursprünglich wollte – aber es entspricht ganz stark meinen
Gedanken.
Schubert und Purcell sind die Musik der Väter. Die Sita transformiert das aber, sie macht daraus ihre eigene Musik.
artechock: Was verbindet diesen Film mit Deinen anderen Filmen?
Albert: Das Thema Schuld kommt immer wieder vor. Das ist ein Leitmotiv. Ich habe aber das Gefühl, dass jeder meiner Filme etwas anders ist. Ich probiere immer etwas Neues. Andererseits geht es schon immer um junge Frauen, die aus irgendeinem Rahmen ausbrechen wollen, und um ihr Lebensgefühl. Auch der Umgang mit Musik. Musik ist für mich das Lustvollste am Filmemachen.
artechock: Bist Du denn eine Frauenregisseurin? Es gibt den weiblichen Blick auf Frauen?
Albert: Ich finde es schwer, das zu beurteilen. Es gibt Männer, die finden, ich habe einen weiblichen Blick. Den sehe ich nicht. Mir fehlt die Möglichkeit das zu analysieren.
artechock: Ich finde, Dir gelingt es immer gut, Intensität darzustellen, etwas Lustvolles, Sinnlichkeit...
Albert: Es ist schön, dass Du das sagst: Intensität ist mir sehr wichtig. Das Ausbrechen der Figuren. Darum liebe ich Tanzszenen. Man bricht aus dem Frame aus, da halte ich mich dann auf, bleibe bei den Figuren, ihren Gesichtern, Körpern.
Ich bin eher an Ausweichmöglichkeiten interessiert. Dies sind eigentlich die schönen und poetischen Momente im Kino, wo man nicht nur den Plot erzählt, sondern sich ein Film öffnet, diese
Aha-Momente.
Was ich im Kino sehen möchte, dass sind genau diese Momente, wo man ausbricht, wo sich etwas öffnet, wo man nicht mehr an die Geschichte denkt oder an die Figur. Das ist wie eine Offenbarung: Irgendetwas kommt da von der Leinwand auf Dich zu, etwas wird Dir klar vom Leben, wo man etwas Neues erkennt, etwas begreift – das erlebt man nur in Filmen, die sich rausbewegen aus dem Plot. Das ist wahnsinnig schwer herzustellen, ich weiß auch nicht, ob mir das je gelungen
ist. Aber es trauen sich immer weniger Filme.
Es gibt die eine Montage-Sequenz, in der Sita liest. Die habe ich sehr gemocht, denn es ist stark Film.
artechock: Warum eigentlich der Titel?
Albert: Die Überlebenden sind immer die Opfer. Im Titel „Die Lebenden“ schwingen die Toten mit. Es geht aber letztlich wirklich um die Lebenden. Sie sollten Verantwortung übernehmen: Die Sita, die heute lebt und anders mit Verantwortung und Schuld umgeht.
artechock: Hast Du schon neue Pläne?
Albert: Gedanklich wollte ich schon seit vielen Jahren einen Geisterfilm machen. Ich werde den Film aber nur machen, wenn ich eine Idee habe, die wirklich neu ist.