15.04.2004

»Ich wollte eine Art Hyperrealismus!«

Szenenbild BÖSE ZELLEN
Böse Zellen

Barbara Albert über ihren neuen Film Böse Zellen, Vergleiche mit Haneke, ihre Heimat Österreich und den Glauben an Gott

Mit dem heraus­ra­genden Film Nordrand wurde die heute 34jährige Öster­rei­cherin Barbara Albert im Jahr 2000 bekannt. Das sozi­al­rea­lis­ti­sche Alltags­drama passte gut zu den Werken anderer öster­rei­chi­scher Filme­ma­cher – Haneke, Hausner, Seidl – die die genaue Beob­ach­tung vor die Bewertung stellen, denen offene Fragen wichtiger sind als fertige Antworten.

Böse Zellen, Alberts neuer Film, der am 1. April in die Kinos kommt, schlägt nun eine neue Richtung ein: Ein Episo­den­film mit Anleihen an Robert Altman und Todd Solondz über den Tod und die böse Mehrheit, über Schicksal, Gnade und Verzei­hung, um die Chaos­theorie des Lebens. In der latenten Bedrohung und Trost­lo­sig­keit, die im Hinter­grund mitschwingt, liegt eine genaue Moment­auf­nahme – zugleich lassen manche Einstel­lungen ahnen, dass da noch mehr ist, Über­ir­di­sches viel­leicht.

Mit Barbara Albert sprach Rüdiger Suchsland.

artechock: Du bist ja auch Mitpro­du­zentin von Böse Zellen... Das Projekt, hörte man, war schwierig zu finan­zieren?

Barbara Albert: Es war am Beginn der Arbeit nicht leicht gewesen, das Buch zu verfilmen. Ich habe mit „Zero Film“ schon bei Nordrand gear­beitet. Neben Öster­reich, der Schweiz und Deutsch­land ist auch Europa mit beteiligt. Wir haben ein Budget von 2,3 Millionen Euro gehabt.

artechock: Böse Zellen ist unter anderem ein Kata­stro­phen­film. Ein Flugzeug stürzt ab, in einem Film aus Europa sieht man so etwas selten. Wie hast Du den Flug­zeug­ab­sturz gedreht?

Albert: Die Szenen, die aufwendig scheinen, haben wir trotzdem versucht, möglichst reduziert zu drehen. Der Flug­zeug­ab­sturz am Anfang funk­tio­niert sehr stark über die Tonspur. Wir haben in einem stehenden Flieger auf dem Flughafen vom Ljubliana gedreht. Die Wolken am Anfang sind per Computer digi­ta­li­siert – der einzige Compu­ter­ef­fekt im Film. Für die Innen­auf­nahmen wurde die Kamera auf Gummi­bän­dern befestigt, um sie flexibel zu halten, ihnen eine Weichheit zu geben. Dazu kamen dann noch Rauch, Licht, Requisite...

artechock: Bist Du sofort sicher gewesen, dass das funk­tio­nieren könne? Man kennt das ja: Bei kleinem Budget schauen solche Filme im Vergleich zu inter­na­tio­nalen Produk­tionen oft peinlich aus.

Albert: Am Anfang war einiges größer konzi­piert. Aber aus Geld­gründen musste ich redu­zieren. Und ich bin froh. Oft ist es gut, so einge­schränkt zu sein. Reduktion ist immer der bessere Weg. Ich denke viel darüber nach: Wie kann ich eine große Szene möglichst reduziert erzählen? Man muss sich Alter­na­tiven überlegen. Ein guter Tonde­si­gner ist sauwichtig.
Ich habe auch von Anfang an gewusst, wie ich den Absturz insze­nieren wollte – welche Einstel­lungen ich wollte. Die Nahauf­nahme auf Manu war am Wich­tigsten. Da arbeitet man dann mit den Masken­bild­nern, dass ihr im richtigen Moment das Blut aus der Nase rinnt. Man muss dann halt an den Details arbeiten. Aber in diesen Momenten, in denen ich noch überlege, geht es mir noch gut – der wirkliche Stress und Angst kommt dann erst später am Set.

artechock: Böse Zellen hast Du gesagt, sei im Vergleich zu Nordrand für Dich ein viel persön­li­cherer Film. Wie meinst Du das, was steht Dir daran näher?

Albert: Nordrand ist schon der auto­bio­gra­phi­schere Film. Da gibt es Momente, die ich selbst erlebt habe, wenn auch nicht eins zu eins. Ich habe sie trotzdem abge­än­dert. Bei Böse Zellen sind, glaube ich, die Gefühle in vielen Momenten extrem nach­voll­ziehbar. Sehr wohl sind sie auf die Geschichte über­tragen und eben nicht auto­bio­gra­phisch. Aber inter­es­san­ter­weise gehen die Gefühle hier für mich viel tiefer.
Zum Beispiel diese Angst vor dem plötz­li­chen Tod. Die hat mich immer schon irrsinnig begleitet – wahr­schein­lich alle Menschen. Aber da merke ich, dass bereits beim Schreiben Gefühle in mir hoch­ge­kommen sind, durch die ich gespürt habe: Das hat viel mit Dir zu tun.
Dann gibt es Figuren, die ich sehr gut kenne. Sie sind mir sehr nahe, sehr nach­voll­ziehbar. Etwa ihr Allein­sein. Zum Beispiel die Verlo­ren­heit von dem kleinen Mädchen, die nach dem Verlust der Mutter durch die Welt wie unter einer Glas­glocke wandert. Fast autis­tisch. Das sind Gefühle, die mir vertraut sind. Insofern sind mir hier die Gefühle eher nahe.

artechock: Das kleine Mädchen fällt einem ja schon auf, bevor seine Mutter tot ist. Weil sie ein wenig unge­wöhn­lich ist. Weil sie über Leben und Tod nachdenkt: »Wo sind die Menschen, wenn sie tot sind?« fragt sie. Dann die Tatsache, dass sie den Hasen orange malt und dafür gemaß­re­gelt wird.
Da müssen wir später noch drauf kommen: Dass es in Böse Zellen auch darum geht, inwiefern Gesell­schaft ein System ist, das die Menschen einordnet. »Gleich­schaltet« ist viel­leicht zu hart. Aber von der Tendenz her angepasst.
Mit Nordrand vergli­chen wirkt es auf mich so: Nordrand hat eine Situation geschil­dert, Böse Zellen schildert eine Weltsicht. Er hat etwas sehr Grund­sätz­li­ches... Dieser göttliche Blick von oben, das Thema Religion und Jenseits. Auch die Tatsache, dass Du Menschen zeigst, die ganz jung sind, die ganz alt sind. Sozusagen Lebens­phasen, Lebens­mög­lich­keiten zeigst...

Albert: Ja: Es geht ganz stark um Systeme. Du nennst eh' schon alles irrsinnig super, was und wie ich’s wollte. Ja: Es ist ein Film über die Gesell­schaft und über Systeme. Und über Modelle: Also über Modell­vor­schläge von Seiten der Gesell­schaft, wie man sich sicher fühlen kann, wie man Sinn haben kann. Wie man sich sicher fühlen kann, wie man sich in einem System aufge­hoben fühlen, und einen Platz finden und Sinn finden kann.
Du hast besonders Sinn, wenn Du zum Beispiel in einer TV-Show auftreten kannst. Dann bist Du ganz wichtig. Oder: Es hat Sinn, wenn Du etwas kaufst, dann bist Du wichtig.
Konsum ist für mich etwas ganz Absurdes. Dass Menschen sich dadurch voll fühlen sollen, aber eigent­lich nur leer sind. Also: Diese Modelle wollte ich alle im Film unter­bringen – bis hin zu diesen Therapien, die auch eigent­lich solche Modelle sind...

artechock: ...Du meinst diese „syste­mi­schen Aufstel­lungen“, die im Film vorkommen. Das kennen ja viele nicht...

Albert: In Deutsch­land geht es noch, aber im übrigen Ausland versteht es tatsäch­lich keiner. Viele lachen auch drüber – was auch ok ist, und mich überhaupt nicht stört. Das kann man.

artechock: Hast Du das mal selber gemacht?

Albert: Ja. Ich habe es dreimal für mich selbst gemacht, und einmal als Recherche.

artechock: Und das funk­tio­niert? Du würdest sagen, dass das was Seriöses ist?

Albert: Ja. Es ist seriös, aber man muss aufpassen, dass man einen guten Thera­peuten hat. Weil es auch sehr gefähr­lich sein kann. Weil es so wirksam ist, Auswir­kungen auf Dich haben kann. Und Du darfst nie denken, dass das jetzt „die Wahrheit“ ist, die Du dort erlebst. Du kannst Dir ein System anschauen als einen Vorschlag. Aber nicht denken: So ist es. Und dann die Familie völlig anders sehen.
Aber ich habe es auch deswegen drin gelassen – im Vorfeld hat man das bei Test­scree­nings kriti­siert –, weil für mich diese „Aufstel­lung“ auch viel mit Film zu tun hat: Figuren stehen in Beziehung zuein­ander in einem Raum. So sehe ich überhaupt das Kino – und eigent­lich auch das Leben.
Es stimmt: Dieser Film ist weniger situativ, eher ein Blick von Außen auf Systeme. Es sind sehr viele Figuren und da tun sich manche Leute schwer, mitzu­gehen. Aber die, die mitgehen, werden emotio­na­li­siert.

artechock: Ich glaube, man kann mit allen Figuren in dem Sinn mitgehen, dass man einiges an eigenen Erfah­rungen wieder­findet. Wenn ich eben sagte: Situation vs. allge­mei­nere Perspek­tive, dann meinte ich damit auch nicht, dass es nicht etwas sehr Konkretes, Erfah­rungs­be­zo­genes in Böse Zellen gäbe, sondern dass es in Nordrand eine sehr spezi­fi­sche Erfahrung war, in diesem Sinn auch eine begrenzte Erfahrung. Jetzt in Böse Zellen ist der Anspruch allge­meiner: Du gehst eine Ebene zurück, und eine Ebene höher.

Albert: Das wollte ich auch. Apropos Ebenen: Diese Geis­t­ebene, die manche Leute nicht als Geis­t­ebene sehen...

artechock: Ach!

Albert: Es gibt viele Leute, die nur sagen: Da gibt es diesen Blick von Außen, diesen komischen distan­zierten Blick.

artechock: Aber dafür ist er zu subjektiv, ist die Kamera viel zu bewegt...

Albert: Ja, finde ich auch. Aber die Leute, die das im Leben überhaupt nicht akzep­tieren, haben es völlig negiert.

artechock: Also: ich würde ja sagen, von meinen persön­li­chen Ansichten her akzep­tiere ich das auch überhaupt nicht. Ich glaube nicht an Gott und nicht ans Jenseits. Aber ich bekomme mit, dass Du mir etwas darüber erzählen willst. Dass zumindest einige dieser Figuren dran glauben. Weil diese Ebene ja dann auch nur bei manchen Figuren auftaucht.

Albert: Genau. Das war auch Absicht: Die Ebene kommt von den Figuren. Aber als Filme­ma­cherin traue ich mich zu sagen: Wer weiß... Viel­leicht...

artechock: Ja, Du gibst dem viel Credit. Du lässt Dich sehr drauf ein. Selbst diese spiri­tis­ti­sche Sitzung: Da denkt man eine Weile noch, das sei ein Fake. Das Mädchen tut nur so. Weil sie ja vorher noch Pläne schmiedet... Da denkt man ja eine Weile noch, was kommt jetzt? Verarscht sie jetzt die Anderen? Oder alle? Es ist alles möglich.

Albert: Und in dem Moment, wo ich am Schluss die Geistein­stel­lung habe, da werfe ich mich als Macherin schon sehr hinein in diese Haltung.

artechock: Würdest Du denn wirklich selber sagen: Es gibt mehr, als man sieht, „the truth is out there...“

Albert: Ich bin gespalten. Das sieht man dem Film auch an. Ich schwanke extrem zwischen einem sehr natur­wis­sen­schaft­li­cher Objek­ti­vität und der Idee: Wir sind alles Tiere...

artechock: Das wäre ja auch ein natur­wis­sen­schaft­li­cher Blick, nur ein biolo­gis­ti­scher...

Albert: Ja, stimmt. Aber es sind eben auch in mir diese unter­schied­li­chen Ansätze: Ich glaube nur, was ich sehe, und den Glauben ans Jenseits. Man kann sagen, das sei eine sehr arrogante Haltung: Dass es einen Gott geben muss, dass wir eben eine Bedeutung haben, und auch den Tod überleben. Aber ich habe trotzdem die Erfahrung gemacht, dass es Momente gibt, in denen ich mich nicht mehr auskenne. Und ich denke schon: Grund­sätz­lich gibt es mehr, als das, was ich anfassen kann. Davon bin ich überzeugt. Ob das aber aus meinem Hirn entsprungen ist oder von irgendwo anders her – das weiß ich nicht.

artechock: Würdest Du denn sagen, dass Du Dich in diesem Film ein bisschen von dem natu­ra­lis­ti­schen Blick aus Nordrand und Zur Lage weg bewegst? Dass Du mehr Welt konstru­ierst, als Welt zeigst?

Albert: Ja. In dem Film auf jeden Fall. Er ist stili­sierter, weniger natu­ra­lis­tisch. Aber trotzdem nicht weniger realis­tisch. Ich wollte eine Art Hyper­rea­lismus. Aber das ist ganz schwierig, das hinzu­kriegen. Diese Gerlinde mit dem bein­am­pu­tierten Mann ist für mich total realis­tisch. Und auf der anderen Seite diese Geis­t­ebene. Die aber Teil des Realis­ti­schen ist. Ich möchte, dass sich das vermischt, und beide Ebenen aufein­an­der­treffen lassen. Weil ich mich auch nicht zu sagen traue: Nur das eine ist Realität.

artechock: Aber Du gehst auch weg vom Doku­men­ta­ri­schen. Das meine ich mit Natu­ra­lismus. Eine stili­sierte Welt kann ja viel wahrer sein. In dem Sinn auch realis­ti­scher, als die, die nur abge­bildet wird...

Albert: Genau. Das war neu für mich. Nur in Kurz­filmen habe ich diese Ebene schon mal gestreift. Kennst Du meinen Kurzfilm Frucht Deines Leibes?

artechock: Nein, leider nicht.

Albert: Schade. Na ja, jeden­falls: Ich habe auch schon mehr stili­siert und anders gear­beitet. Aber es war auch ein Miss­ver­s­tändnis. Nordrand ist extrem durch­in­sze­niert, und wirkt doku­men­ta­risch. Aber es war immer insze­niert. Es ist für mich trotzdem nicht so, dass ich jetzt immer so weiter­ar­beiten will. Es wird sich für jeden Film immer verändern.

artechock: Die Leute, die Böse Zellen nicht so mögen, die würden Dir einen Verlust der Unschuld attes­tieren. Welche Rolle spielen für Dich Ironien?
Mir scheint, eine sehr große, und das die von Kritikern immer unter­schätzt wird, die wollen, dass Du jetzt auf immer der brave Gutmensch von Nordrand bleibst... Eine Passage ist mir zum Beispiel besonders aufge­fallen: Der Lehrer spricht die Afroös­ter­rei­cherin bei McDonalds an. Davor hat er von „schwarzen Löchern“ gespro­chen, danach singen die Schul­kinder „Zehn kleine Negerlein“. Das ist eine gegen­sei­tige Kommen­tie­rung der Szenen, die man als sehr ironische wahr­nehmen kann...

Albert: Das ist das aller­erste Mal, dass mich jemand darauf anspricht: Ich habe das schwarze Loch nie so gesehen.
Für mich ist das Schwarze Loch extrem anders zu verstehen. Das Lied dagegen hat sehr wohl mit der Sandra zu tun. Das ist für mich schon sehr ironisch. Es gibt ein paar solche Stellen. Das mag ich auch ungemein gern.

artechock: Ironie und Liebe sind ja vereinbar. Liebe zu den Figuren in diesem Fall...

Albert: Natürlich. Ich bin überhaupt kein zynischer Mensch. Ich werde auch oft in einen Topf mit ganz vielen anderen Öster­rei­chern geworfen: Haneke, seidl, das die so zynisch seien. Ich empfinde mich nicht so. Aber es soll so sein. Wurscht. Aber dieses sich-gegen­seitig-kommen­tieren der Szene – das mache ich schon gern. Das ist Kino. Film ist immer das Gesamte.
Und den Verlust der Unschuld, den finde ich nur gut. Ich mag ja Böse Zellen deshalb gern, weil er nicht so naiv ist. Nordrand ist ok, aber das hat mehr gestimmt jetzt.

artechock: Und ich nehme an, man will auch als Filme­ma­cherin mit den Erwar­tungen des Publikums auch brechen, Irri­ta­tionen schaffen...

Albert: Ja, wobei erstmal nur ich das Publikum bin. Ich denke nicht an Dritte. Sondern frage: Was für eine Geschichte kann ich grad erzählen. Man kann Publikum überhaupt nicht kalku­lieren.

artechock: Würdest Du denn sagen, dass es so etwas wie einen spezi­fisch öster­rei­chi­schen Blick gibt?

Albert: Die Sprache ist oft für Deutsche komisch, niedlich, eigen­artig oder lustig.

artechock: Das ist aber sehr ober­fläch­lich jetzt...

Albert: Ja, aber damit müssen wir uns ausein­ander setzen. Die Sprache trägt viel dazu bei, uns in eine Kategorie zu werfen.
Ein zweiter Grund ist unsere Geschichte. Früher habe ich mich dagegen gewehrt. Aber wir Öster­rei­cher haben eine andere Art von Schuld- oder Nicht-Schuld­be­wäl­ti­gung, und eine andere Schwere. Das spürt man. Unbe­wäl­tigtes. Unter­grün­diges. Und den Katho­li­zismus. Ich glaube, dass unsere Kulturen sich eigent­lich sehr unter­schied­lich sich entwi­ckelt haben. Und das macht viel aus, das verar­beiten wir in den Filmen.

artechock: Hat Böse Zellen für Dich ein Happy End?

Albert: Das letzte Bild ist sehr neutral. Davor gibt es ein paar Ansätze. Positive Momente. Mehr braucht’s nicht. Um mehr geht’s eh nicht. Wir leben und wir sterben. Und das ist es.
Das ist versöhn­lich: Wir wandeln dahin. Die zwei Figuren am Schluss sind die nicht geord­neten, die frei herum­wan­deln dürfen. Sie haben dieses Autonome und dieses Verzwei­felte. Sind frei. Das mag ich gern.

artechock: Das nächste Mal müssen wir dann noch über Shopping-Malls reden.

Albert: Oder über Öster­reich.