»Ich wollte eine Art Hyperrealismus!« |
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Böse Zellen |
Mit dem herausragenden Film Nordrand wurde die heute 34jährige Österreicherin Barbara Albert im Jahr 2000 bekannt. Das sozialrealistische Alltagsdrama passte gut zu den Werken anderer österreichischer Filmemacher – Haneke, Hausner, Seidl – die die genaue Beobachtung vor die Bewertung stellen, denen offene Fragen wichtiger sind als fertige Antworten.
Böse Zellen, Alberts neuer Film, der am 1. April in die Kinos kommt, schlägt nun eine neue Richtung ein: Ein Episodenfilm mit Anleihen an Robert Altman und Todd Solondz über den Tod und die böse Mehrheit, über Schicksal, Gnade und Verzeihung, um die Chaostheorie des Lebens. In der latenten Bedrohung und Trostlosigkeit, die im Hintergrund mitschwingt, liegt eine genaue Momentaufnahme – zugleich lassen manche Einstellungen ahnen, dass da noch mehr ist, Überirdisches vielleicht.
Mit Barbara Albert sprach Rüdiger Suchsland.
artechock: Du bist ja auch Mitproduzentin von Böse Zellen... Das Projekt, hörte man, war schwierig zu finanzieren?
Barbara Albert: Es war am Beginn der Arbeit nicht leicht gewesen, das Buch zu verfilmen. Ich habe mit „Zero Film“ schon bei Nordrand gearbeitet. Neben Österreich, der Schweiz und Deutschland ist auch Europa mit beteiligt. Wir haben ein Budget von 2,3 Millionen Euro gehabt.
artechock: Böse Zellen ist unter anderem ein Katastrophenfilm. Ein Flugzeug stürzt ab, in einem Film aus Europa sieht man so etwas selten. Wie hast Du den Flugzeugabsturz gedreht?
Albert: Die Szenen, die aufwendig scheinen, haben wir trotzdem versucht, möglichst reduziert zu drehen. Der Flugzeugabsturz am Anfang funktioniert sehr stark über die Tonspur. Wir haben in einem stehenden Flieger auf dem Flughafen vom Ljubliana gedreht. Die Wolken am Anfang sind per Computer digitalisiert – der einzige Computereffekt im Film. Für die Innenaufnahmen wurde die Kamera auf Gummibändern befestigt, um sie flexibel zu halten, ihnen eine Weichheit zu geben. Dazu kamen dann noch Rauch, Licht, Requisite...
artechock: Bist Du sofort sicher gewesen, dass das funktionieren könne? Man kennt das ja: Bei kleinem Budget schauen solche Filme im Vergleich zu internationalen Produktionen oft peinlich aus.
Albert: Am Anfang war einiges größer konzipiert. Aber aus Geldgründen musste ich reduzieren. Und ich bin froh. Oft ist es gut, so eingeschränkt zu sein. Reduktion ist immer der bessere Weg. Ich denke viel darüber nach: Wie kann ich eine große Szene möglichst reduziert erzählen? Man muss sich Alternativen überlegen. Ein guter Tondesigner ist sauwichtig.
Ich habe auch von Anfang an gewusst, wie ich den Absturz inszenieren wollte –
welche Einstellungen ich wollte. Die Nahaufnahme auf Manu war am Wichtigsten. Da arbeitet man dann mit den Maskenbildnern, dass ihr im richtigen Moment das Blut aus der Nase rinnt. Man muss dann halt an den Details arbeiten. Aber in diesen Momenten, in denen ich noch überlege, geht es mir noch gut – der wirkliche Stress und Angst kommt dann erst später am Set.
artechock: Böse Zellen hast Du gesagt, sei im Vergleich zu Nordrand für Dich ein viel persönlicherer Film. Wie meinst Du das, was steht Dir daran näher?
Albert: Nordrand ist schon der autobiographischere Film. Da gibt es Momente, die ich selbst erlebt habe, wenn auch nicht eins zu eins. Ich habe sie trotzdem abgeändert. Bei Böse Zellen sind, glaube ich, die Gefühle in vielen Momenten extrem
nachvollziehbar. Sehr wohl sind sie auf die Geschichte übertragen und eben nicht autobiographisch. Aber interessanterweise gehen die Gefühle hier für mich viel tiefer.
Zum Beispiel diese Angst vor dem plötzlichen Tod. Die hat mich immer schon irrsinnig begleitet – wahrscheinlich alle Menschen. Aber da merke ich, dass bereits beim Schreiben Gefühle in mir hochgekommen sind, durch die ich gespürt habe: Das hat viel mit Dir zu tun.
Dann gibt es Figuren, die ich sehr gut
kenne. Sie sind mir sehr nahe, sehr nachvollziehbar. Etwa ihr Alleinsein. Zum Beispiel die Verlorenheit von dem kleinen Mädchen, die nach dem Verlust der Mutter durch die Welt wie unter einer Glasglocke wandert. Fast autistisch. Das sind Gefühle, die mir vertraut sind. Insofern sind mir hier die Gefühle eher nahe.
artechock: Das kleine Mädchen fällt einem ja schon auf, bevor seine Mutter tot ist. Weil sie ein wenig ungewöhnlich ist. Weil sie über Leben und Tod nachdenkt: »Wo sind die Menschen, wenn sie tot sind?« fragt sie. Dann die Tatsache, dass sie den Hasen orange malt und dafür gemaßregelt wird.
Da müssen wir später noch drauf kommen: Dass es in Böse Zellen auch darum geht, inwiefern Gesellschaft ein System ist, das die Menschen einordnet. »Gleichschaltet« ist vielleicht zu hart. Aber von der Tendenz her angepasst.
Mit Nordrand verglichen wirkt es auf mich so: Nordrand hat eine Situation geschildert, Böse Zellen schildert eine Weltsicht. Er hat etwas sehr Grundsätzliches... Dieser göttliche Blick von oben, das Thema Religion und Jenseits. Auch die Tatsache, dass Du Menschen zeigst, die ganz jung sind, die ganz alt sind. Sozusagen Lebensphasen, Lebensmöglichkeiten zeigst...
Albert: Ja: Es geht ganz stark um Systeme. Du nennst eh' schon alles irrsinnig super, was und wie ich’s wollte. Ja: Es ist ein Film über die Gesellschaft und über Systeme. Und über Modelle: Also über Modellvorschläge von Seiten der Gesellschaft, wie man sich sicher fühlen kann, wie man Sinn haben kann. Wie man sich sicher fühlen kann, wie man sich in einem System aufgehoben fühlen, und einen Platz finden und Sinn finden kann.
Du
hast besonders Sinn, wenn Du zum Beispiel in einer TV-Show auftreten kannst. Dann bist Du ganz wichtig. Oder: Es hat Sinn, wenn Du etwas kaufst, dann bist Du wichtig.
Konsum ist für mich etwas ganz Absurdes. Dass Menschen sich dadurch voll fühlen sollen, aber eigentlich nur leer sind. Also: Diese Modelle wollte ich alle im Film unterbringen – bis hin zu diesen Therapien, die auch eigentlich solche Modelle sind...
artechock: ...Du meinst diese „systemischen Aufstellungen“, die im Film vorkommen. Das kennen ja viele nicht...
Albert: In Deutschland geht es noch, aber im übrigen Ausland versteht es tatsächlich keiner. Viele lachen auch drüber – was auch ok ist, und mich überhaupt nicht stört. Das kann man.
artechock: Hast Du das mal selber gemacht?
Albert: Ja. Ich habe es dreimal für mich selbst gemacht, und einmal als Recherche.
artechock: Und das funktioniert? Du würdest sagen, dass das was Seriöses ist?
Albert: Ja. Es ist seriös, aber man muss aufpassen, dass man einen guten Therapeuten hat. Weil es auch sehr gefährlich sein kann. Weil es so wirksam ist, Auswirkungen auf Dich haben kann. Und Du darfst nie denken, dass das jetzt „die Wahrheit“ ist, die Du dort erlebst. Du kannst Dir ein System anschauen als einen Vorschlag. Aber nicht denken: So ist es. Und dann die Familie völlig anders sehen.
Aber ich habe es auch deswegen
drin gelassen – im Vorfeld hat man das bei Testscreenings kritisiert –, weil für mich diese „Aufstellung“ auch viel mit Film zu tun hat: Figuren stehen in Beziehung zueinander in einem Raum. So sehe ich überhaupt das Kino – und eigentlich auch das Leben.
Es stimmt: Dieser Film ist weniger situativ, eher ein Blick von Außen auf Systeme. Es sind sehr viele Figuren und da tun sich manche Leute schwer, mitzugehen. Aber die, die mitgehen, werden
emotionalisiert.
artechock: Ich glaube, man kann mit allen Figuren in dem Sinn mitgehen, dass man einiges an eigenen Erfahrungen wiederfindet. Wenn ich eben sagte: Situation vs. allgemeinere Perspektive, dann meinte ich damit auch nicht, dass es nicht etwas sehr Konkretes, Erfahrungsbezogenes in Böse Zellen gäbe, sondern dass es in Nordrand eine sehr spezifische Erfahrung war, in diesem Sinn auch eine begrenzte Erfahrung. Jetzt in Böse Zellen ist der Anspruch allgemeiner: Du gehst eine Ebene zurück, und eine Ebene höher.
Albert: Das wollte ich auch. Apropos Ebenen: Diese Geistebene, die manche Leute nicht als Geistebene sehen...
artechock: Ach!
Albert: Es gibt viele Leute, die nur sagen: Da gibt es diesen Blick von Außen, diesen komischen distanzierten Blick.
artechock: Aber dafür ist er zu subjektiv, ist die Kamera viel zu bewegt...
Albert: Ja, finde ich auch. Aber die Leute, die das im Leben überhaupt nicht akzeptieren, haben es völlig negiert.
artechock: Also: ich würde ja sagen, von meinen persönlichen Ansichten her akzeptiere ich das auch überhaupt nicht. Ich glaube nicht an Gott und nicht ans Jenseits. Aber ich bekomme mit, dass Du mir etwas darüber erzählen willst. Dass zumindest einige dieser Figuren dran glauben. Weil diese Ebene ja dann auch nur bei manchen Figuren auftaucht.
Albert: Genau. Das war auch Absicht: Die Ebene kommt von den Figuren. Aber als Filmemacherin traue ich mich zu sagen: Wer weiß... Vielleicht...
artechock: Ja, Du gibst dem viel Credit. Du lässt Dich sehr drauf ein. Selbst diese spiritistische Sitzung: Da denkt man eine Weile noch, das sei ein Fake. Das Mädchen tut nur so. Weil sie ja vorher noch Pläne schmiedet... Da denkt man ja eine Weile noch, was kommt jetzt? Verarscht sie jetzt die Anderen? Oder alle? Es ist alles möglich.
Albert: Und in dem Moment, wo ich am Schluss die Geisteinstellung habe, da werfe ich mich als Macherin schon sehr hinein in diese Haltung.
artechock: Würdest Du denn wirklich selber sagen: Es gibt mehr, als man sieht, „the truth is out there...“
Albert: Ich bin gespalten. Das sieht man dem Film auch an. Ich schwanke extrem zwischen einem sehr naturwissenschaftlicher Objektivität und der Idee: Wir sind alles Tiere...
artechock: Das wäre ja auch ein naturwissenschaftlicher Blick, nur ein biologistischer...
Albert: Ja, stimmt. Aber es sind eben auch in mir diese unterschiedlichen Ansätze: Ich glaube nur, was ich sehe, und den Glauben ans Jenseits. Man kann sagen, das sei eine sehr arrogante Haltung: Dass es einen Gott geben muss, dass wir eben eine Bedeutung haben, und auch den Tod überleben. Aber ich habe trotzdem die Erfahrung gemacht, dass es Momente gibt, in denen ich mich nicht mehr auskenne. Und ich denke schon: Grundsätzlich gibt es mehr, als das, was ich anfassen kann. Davon bin ich überzeugt. Ob das aber aus meinem Hirn entsprungen ist oder von irgendwo anders her – das weiß ich nicht.
artechock: Würdest Du denn sagen, dass Du Dich in diesem Film ein bisschen von dem naturalistischen Blick aus Nordrand und Zur Lage weg bewegst? Dass Du mehr Welt konstruierst, als Welt zeigst?
Albert: Ja. In dem Film auf jeden Fall. Er ist stilisierter, weniger naturalistisch. Aber trotzdem nicht weniger realistisch. Ich wollte eine Art Hyperrealismus. Aber das ist ganz schwierig, das hinzukriegen. Diese Gerlinde mit dem beinamputierten Mann ist für mich total realistisch. Und auf der anderen Seite diese Geistebene. Die aber Teil des Realistischen ist. Ich möchte, dass sich das vermischt, und beide Ebenen aufeinandertreffen lassen. Weil ich mich auch nicht zu sagen traue: Nur das eine ist Realität.
artechock: Aber Du gehst auch weg vom Dokumentarischen. Das meine ich mit Naturalismus. Eine stilisierte Welt kann ja viel wahrer sein. In dem Sinn auch realistischer, als die, die nur abgebildet wird...
Albert: Genau. Das war neu für mich. Nur in Kurzfilmen habe ich diese Ebene schon mal gestreift. Kennst Du meinen Kurzfilm Frucht Deines Leibes?
artechock: Nein, leider nicht.
Albert: Schade. Na ja, jedenfalls: Ich habe auch schon mehr stilisiert und anders gearbeitet. Aber es war auch ein Missverständnis. Nordrand ist extrem durchinszeniert, und wirkt dokumentarisch. Aber es war immer inszeniert. Es ist für mich trotzdem nicht so, dass ich jetzt immer so weiterarbeiten will. Es wird sich für jeden Film immer verändern.
artechock: Die Leute, die Böse Zellen nicht so mögen, die würden Dir einen Verlust der Unschuld attestieren. Welche Rolle spielen für Dich Ironien?
Mir scheint, eine sehr große, und das die von Kritikern immer unterschätzt wird, die wollen, dass Du jetzt auf immer der brave Gutmensch von Nordrand bleibst... Eine Passage ist mir zum Beispiel besonders aufgefallen: Der Lehrer spricht die Afroösterreicherin bei McDonalds an. Davor hat er von „schwarzen Löchern“ gesprochen, danach singen die Schulkinder „Zehn kleine Negerlein“. Das ist eine gegenseitige Kommentierung der Szenen, die man als sehr ironische wahrnehmen kann...
Albert: Das ist das allererste Mal, dass mich jemand darauf anspricht: Ich habe das schwarze Loch nie so gesehen.
Für mich ist das Schwarze Loch extrem anders zu verstehen. Das Lied dagegen hat sehr wohl mit der Sandra zu tun. Das ist für mich schon sehr ironisch. Es gibt ein paar solche Stellen. Das mag ich auch ungemein gern.
artechock: Ironie und Liebe sind ja vereinbar. Liebe zu den Figuren in diesem Fall...
Albert: Natürlich. Ich bin überhaupt kein zynischer Mensch. Ich werde auch oft in einen Topf mit ganz vielen anderen Österreichern geworfen: Haneke, seidl, das die so zynisch seien. Ich empfinde mich nicht so. Aber es soll so sein. Wurscht. Aber dieses sich-gegenseitig-kommentieren der Szene – das mache ich schon gern. Das ist Kino. Film ist immer das Gesamte.
Und den Verlust der Unschuld, den finde ich nur gut. Ich mag ja Böse Zellen deshalb gern, weil er nicht so naiv ist. Nordrand ist ok, aber das hat mehr gestimmt jetzt.
artechock: Und ich nehme an, man will auch als Filmemacherin mit den Erwartungen des Publikums auch brechen, Irritationen schaffen...
Albert: Ja, wobei erstmal nur ich das Publikum bin. Ich denke nicht an Dritte. Sondern frage: Was für eine Geschichte kann ich grad erzählen. Man kann Publikum überhaupt nicht kalkulieren.
artechock: Würdest Du denn sagen, dass es so etwas wie einen spezifisch österreichischen Blick gibt?
Albert: Die Sprache ist oft für Deutsche komisch, niedlich, eigenartig oder lustig.
artechock: Das ist aber sehr oberflächlich jetzt...
Albert: Ja, aber damit müssen wir uns auseinander setzen. Die Sprache trägt viel dazu bei, uns in eine Kategorie zu werfen.
Ein zweiter Grund ist unsere Geschichte. Früher habe ich mich dagegen gewehrt. Aber wir Österreicher haben eine andere Art von Schuld- oder Nicht-Schuldbewältigung, und eine andere Schwere. Das spürt man. Unbewältigtes. Untergründiges. Und den Katholizismus. Ich glaube, dass unsere Kulturen sich eigentlich
sehr unterschiedlich sich entwickelt haben. Und das macht viel aus, das verarbeiten wir in den Filmen.
artechock: Hat Böse Zellen für Dich ein Happy End?
Albert: Das letzte Bild ist sehr neutral. Davor gibt es ein paar Ansätze. Positive Momente. Mehr braucht’s nicht. Um mehr geht’s eh nicht. Wir leben und wir sterben. Und das ist es.
Das ist versöhnlich: Wir wandeln dahin. Die zwei Figuren am Schluss sind die nicht geordneten, die frei herumwandeln dürfen. Sie haben dieses Autonome und dieses Verzweifelte. Sind frei. Das mag ich gern.
artechock: Das nächste Mal müssen wir dann noch über Shopping-Malls reden.
Albert: Oder über Österreich.