66. Festival de Cine de San Sebastián 2018
Blick in Abgründe von Frauenhass |
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Der Läufer von Hannes Baumgartner | ||
(Foto: Swiss Films) |
Das Gespräch führte Geri Krebs
Es war ein Fall, der die Schweiz erschütterte: der 27-jährige Mischa Ebner, von Beruf Koch und in seiner Freizeit gefeierter Langstreckenläufer, Gewinner des Frauenfelder Waffenlaufs (des traditionsreichsten Militärwettmarschs der Schweiz) von 1998 und 2001, überfällt in der Nacht zum 1. August 2002 in Bümpliz bei Bern eine Frau, verletzt sie schwer und ersticht noch in der gleichen Nacht im Nachbarort Niederwangen eine weitere Frau. Drei Wochen später wird er gefasst, er gesteht nicht nur diese Verbrechen, sondern noch 20 weitere Überfälle auf Frauen. Die Angriffe hatten im Jahr 2000 mit Entreissdiebstählen begonnen und steigerten sich zu immer brutaleren Attacken bis zum erwähnten Mord von Niederwangen. Am 24. November 2002 erhängte sich Mischa Ebner in seiner Gefängniszelle.
Basierend auf diesem realen Kriminalfall, erzählt der 1983 geborene Schweizer Regisseur Hannes Baumgartner lakonisch und weitgehend aus der Täterperspektive dieses verpfuschte Doppelleben. Dabei fokussiert er in seinem Film »Der Läufer«, der jetzt im Wettbewerb »Nuevos Directores« beim Filmfestival von San Sebastián Premiere hatte, ganz auf die letzten Monate des jungen Mannes vor dem Mord von Niederwangen. Man sieht einen ambitionierten Sportler und einen geschätzten
Berufsmann am Arbeitsplatz, der daran ist, mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Doch dass mit diesem unauffälligen Musterschweizer etwas nicht stimmt, machen bereits die Schrifttafeln am Anfang von »Der Läufer« klar: Er und sein Bruder kamen im Alter von vier, respektive sechs Jahren in völlig verwahrlostem Zustand in eine Pflegefamilie, konnten noch nicht laufen und nicht sprechen. Später im Film erfährt man, dass der Bruder 1998 Suizid beging – drei Tage nach Ebners
erstem großen Triumph als Waffenläufer.
Ohne mit diesem Hintergrund zu viel Täterpsychologie zu betreiben, schafft es »Der Läufer« mit einigen sparsamen Rückblenden, ein wenig die Abgründe einer Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Figur auszuleuchten. Dabei bleibt er aber bewusst und wohltuend weit davon entfernt, das Unerklärliche erklären zu wollen. Verkörpert wird die Figur, die im Film Jonas Widmer heißt, und die, wenn sie nicht rennt, immer unter Strom zu stehen scheint, vom 1993 geborenen
Berner Schauspieler Max Hubacher. Der »Berlinale-Shooting-Star« von 2012 ist nach dem Kriegsdrama Der Hauptmann des deutschen Regisseurs Robert Schwentke (Hubacher spielte dort einen Wehrmachtsdeserteur) nun hier bereits zum zweiten Mal innert Jahresfrist in San Sebastián in einer Hauptrolle zu bewundern. Die physische Präsenz des jungen Berners in einer Figur, die
unaufhaltsam in mörderischen Wahnsinn abdriftet, ist in beiden Filmen gleichermaßen beeindruckend. Allerdings wirkt sie in »Der Läufer« noch stärker nach, da hier die historische Distanz fehlt. Regisseur Hannes Baumgartner, Absolvent der Zürcher Filmhochschule ZhdK, hat in seinem Erstling Namen, Orte und Zeitpunkt des realen Falles so weit verändert und verfremdet, dass Der Läufer weniger zur Rekonstruktion eines Kriminalfalles wird, als vielmehr zur
brennend aktuellen Studie über Frauenhass.
Artechock: Sie waren 19, als der Fall des „Mitternachtsmörders von Bern“ die Schweiz aufwühlte. Wie haben Sie das damals erlebt?
Hannes Baumgartner: Ich kann nicht behaupten, dass ich das damals sehr bewusst mitbekommen hätte. Natürlich las und hörte man in den Medien in jener Zeit viel davon, aber es ist keinesfalls so, dass mich diese Geschichte seit damals umgetrieben hätte.
artechock: Wie und wann sind Sie dann auf die Geschichte gestoßen?
Baumgartner: Es war mein Produzent Stefan Eichenberger, der mit mir zusammen die Filmschule in Zürich abgeschlossen hat. Er war in früheren Jahren selber aktiver Läufer, er hat zwar nicht bei Waffenläufen mitgemacht, sondern jahrelang als Leichtathlet im Mittel- und Langstreckenbereich. Dabei stellte er nach Mischa Ebners Verhaftung fest, dass er selber nicht nur einige Wettkämpfe mit ihm zusammen gelaufen war, sondern dass er ihn sogar vom Sehen her flüchtig kannte. Irgendwann, Jahre später, als ich bereits meine ersten Kurzfilme realisiert hatte, erzählte mir Stefan davon und fand, wir sollten daraus doch einen fiktionalen Stoff für meinen ersten langen Spielfilm entwickeln, ich sei von meinen Kurzfilmen her prädestiniert für diese Geschichte.
artechock: Dann waren Sie also schon immer von mörderischen Männerfiguren fasziniert?
Baumgartner: Nein, so würde ich das nicht bezeichnen. Aber in meinen Kurzfilmen Teneriffa, Toter Mann, Mein bester Freund ging es letztendlich um Männer, die keinen oder nur einen sehr schwierigen Zugang zu ihren Emotionen haben. Obwohl sie vordergründig angepasst sind und funktionieren, haben sie Mühe, sich in einen sozialen Kontext zu integrieren. Der Bruch zwischen dem, was man außen lebt und innen fühlt, führt dann häufig zu Gewalt. Sei es Gewalt gegen sich selber oder gegen andere. Das hat mich interessiert.
artechock: Haben Sie dann für die Recherchen zum Drehbuch mit dem Umfeld von Mischa Ebner Kontakt gesucht, oder haben Sie die Story ganz anhand von den – sehr zahlreichen – Medienberichten entwickelt?
Baumgartner: Nein, es war für mich klar, dass ich nach Möglichkeit auch bei den Direktbetroffenen recherchieren wollte, auch wenn mir nie ein Dokudrama oder etwas Ähnliches vorschwebte. Zudem gab es 2005 ja bereits den TV-Dokumentarfilm „Mischa E. – Lebensweg eines Mörders“ von Stella Tinbergen. Darin äußerte sich vor allem die Pflegemutter des Täters sehr offen, gab der Regisseurin bereitwillig Auskunft. Sie, die
Pflegemutter, war nun auch bei unseren Recherchen eine große Hilfe. Sie machte uns aber klar, dass für sie die Geschichte seit jenem Dokumentarfilm abgeschlossen sei und dass es darin keine endgültige Wahrheit geben könne. Deshalb war sie nur unter der Bedingung bereit, mit uns über das Geschehene zu sprechen, wenn wir die Geschichte fiktional umsetzen und zu einer eigenen, persönlichen Interpretation verarbeiten würden. Aber das war ohnehin unsere Absicht und so ist unser
Verhältnis bis heute ein positives geblieben.
Noch wichtiger als sie war allerdings der Psychiater, der damals das Gutachten geschrieben hatte und der uns Einblick in die Akten gab. So erhielten wir eine vertiefte Vorstellung davon, was in diesem Menschen abgelaufen war, welche Mechanismen ihn zu seinen Taten trieben. Gleichzeitig haben wir aber immer versucht, einen Film zu realisieren, der eben gerade nicht einen linearen Kausalitätszusammenhang schafft: Das und das ist
passiert, deshalb hat er dann so und so gehandelt.
artechock: Als letztes Jahr bekannt wurde, dass ein Spielfilm über den „Fall Mischa Ebner“ realisert würde, gab es in den Kommentarspalten der Medien Reaktionen im Sinn von: Da wird doch einmal mehr ein Täter zum Opfer und wird nur Voyeurismus befriedigt. Was antworten Sie diesen Leuten?
Baumgartner: Ich denke, das wurde von Leuten geschrieben, die einen Film verurteilten, den es damals noch gar nicht gab. Und was man unserem Film sicher nicht vorwerfen kann, ist, dass er voyeuristisch oder gewaltverherrlichend sei. Der Läufer ist vielmehr ein Film, der versucht, etwas von den komplexen Ursachen und der Entstehung extremer Gewalt in unserer Gesellschaft zu verstehen.