Jenseits der vermeintlichen Gewissheiten und moralischen Argumente |
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Susanne Heinrich | ||
(Foto: Susanne Heinrich) |
»Identitätspolitiken im Film: eine Bestandsaufnahme« ist der Titel eines Workshops im Rahmen der 68. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, die kommende Woche eröffnet werden.
In der Ankündigung heißt es unter anderem: »Das identitätspolitische Paradigma ist auch im Filmbetrieb angekommen. ... Doch was sind die ökonomischen Voraussetzungen dieses neuen Paradigmas, wie verändert es die Beziehungen zwischen Herstellungsbedingungen, ästhetischen Positionen und Auswertungs- und Rezeptionszusammenhängen?«
Der Workshop wird geleitet von der Schriftstellerin und Filmemacherin Susanne Heinrich, die an der Berliner dffb studierte und 2019 mit ihrem Spielfilmdebüt Das melancholische Mädchen in Saarbrücken den Max-Ophüls-Preis gewann.
Eine Anmeldung für den Workshop ist nötig und bis zum 29. April online möglich.
Hier der Link zur Anmeldung.
Wir haben mit Susanne Heinrich über das Thema und ihre Ideen gesprochen.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland
artechock: Wir kennen dich bisher als Regisseurin des Films Das melancholische Mädchen. Wie ist es dir damit ergangen? Wenn du auf deine Erfahrungen mit diesem Film, den Preis in Saarbrücken, die Reaktionen und die sogenannte »Auswertung« zurückblickst – wie war das? Was war gut? Was war nicht so gut?
Susanne Heinrich: Erst einmal war der Film für mich persönlich ein großer Glücksfall, ein temporärer Durchbruch in meinem andauernden Kampf gegen das Verstummen als Autorin. Die Entstehungsbedingungen waren in der Rückschau geradezu paradiesisch: Wir waren als Studentinnen unabhängig von Financiers und ihren Agenden, Zeiträumen und Vorstellungen von kreativen Prozessen, mussten keine Erfolgsaussichten verbriefen, waren noch keinem Publikum verpflichtet, arbeiteten in relativer unbeobachteter Heimlichkeit, und wenn der Film nichts geworden wäre, hätten wir ihn unter den Teppich kehren können. Er ist aus einer Dynamik heraus entstanden, die viel mit den Aufständen an der dffb zu tun hatte, und war von einem Gefühl des Aufbruchs getragen, das vom ganzen Team geteilt wurde. So wurde er ja dann auch rezipiert, wenn beispielsweise der Spiegel titelte »In Pink und Türkis fängt im deutschen Kino etwas Neues an«. Später gab es Tendenzen in der Presse und Impulse von mir selbst, den Film als »feministische Kapitalismuskritik« zu vereindeutigen – auch wenn der Film selbst das eigentlich verweigert. Das geflügelte Wort, dass ein Text immer klüger ist als ein Autor, gilt zum Glück auch für Filme, zumindest die guten.
artechock:Nächste Woche führst du auf den »Internationalen Kurzfilmtagen« in Oberhausen einen Workshop zum Thema „Identitätspolitiken im Film“ durch. Was ist eigentlich genau »das identitätspolitische Paradigma«, von dem in der Ankündigung die Rede ist?
Heinrich: Ich meine Paradigma im Sinne einer bestimmten „Art des Schauens“, einer Art „Supertheorie“, die ihre eigenen Begriffe und Kategorien mitbringt. Im Ankündigungstext führe ich einige Beispiele dafür an, wie das identitätspolitische Paradigma in der Filmwelt sichtbar wird: feministische Kritiken am klassischen Filmkanon, Debatten um Repräsentation und Besetzungspolitiken und im Zuge dessen die Gründung neuer Initiativen wie »Vielfalt im Film«, Diversity-Checklisten, -Schulungen, -Tagungen und -Richtlinien (z.B. bei Amazon & Co.), neue Berufsbilder wie „Sensitivity Reader“ oder „Intimacy Coordinator“, öffentliche Appelle für eine ethisch begründete Cinephilie, die sich als »Teil eines größeren kulturell-aktivistischen Projekts« betrachtet (Girish Shambu) sowie vermehrt Filme mit offen identitätspolitischer Agenda, die also bestimmte Diskurse oder Theorien wie Critical Whiteness illustrieren. Ich fasse diese Phänomene unter dem Begriff „identitätspolitisches Paradigma“ zusammen und behaupte kühn, dass dieses Paradigma inzwischen hegemonial geworden ist. Diese Arbeitshypothese ist auch ein Hilfsmittel, um über die polarisierten öffentlichen Debatten, in denen die Frage danach, ob Identitätspolitik gut oder schlecht ist, variiert wird, hinauszukommen.
Ich glaube, das ist nicht mehr die Frage. Die Kulturinstitutionen werden gerade so umgeformt, dass in Zukunft praktisch kaum noch etwas anderes hergestellt werden kann als identitätspolitische Kulturprodukte. Wir stehen da erst am Anfang. Gleichzeitig sind wir an dem Punkt, wo das Phänomen als Ganzes vielleicht endlich historisierbar und analysierbar wird, weil die aufreibenden Positionierungskämpfe vielleicht langsam durch sind und alle sich und einander irgendwo eingeordnet haben. Dann wäre jetzt die Zeit, für so etwas wie das legendäre Panel „What was the Hipster?“, das in New York stattfand, als die Figur bzw. Marke des „Hipsters“ gerade den Höhepunkt ihrer globalen Verbreitung erreichte.
artechock: Was schwebt dir ungefähr vor? Was könntest du dir vorstellen, was der Workshop leistet, wenn es gut läuft? Mit was für Eindrücken sollen die Teilnehmer rausgehen? Hast du eine Zielvorstellung oder soll es ein möglichst offener Prozess sein?
Heinrich: Ich möchte ausgehend von einer Beschreibung unserer konkreten Arbeitsrealitäten auf eine theoretische Ebene kommen, auf der wir uns Fragen stellen können wie die nach den materialistischen Voraussetzungen für Identitätspolitik. Oder die Frage danach, was das identitätspolitische Paradigma mit der Krise des deutschen Kinos, oder besser: der heimlichen Überführung seiner kläglichen Reste in die schöne bunte neue Streamingwelt, zu tun hat. Oder welche Formate, Dramaturgien, Grammatiken, Ästhetiken dieses Paradigma sanktioniert bzw. hervorbringt und welche es abschafft. Was die Tatsache, dass immer mehr Filmemacherinnen sich weniger als Künstlerinnen denn als Aktivistinnen begreifen, mit dem Kunstbegriff macht und ob der Zuschauervertrag damit ein anderer wird. Das sind so Fragen, die mich persönlich umtreiben und wo ich hoffe, dass es mir in Oberhausen gelingt, einen Raum zu eröffnen, in dem wir frei darüber nachdenken können. Eine befreundete Professorin benutzt gern die schöne Wendung »nur mal so beiseite gesprochen«. Ich mag den Ausdruck so sehr, er ist das Äquivalent dazu, etwas ins Unreine zu schreiben: ein riskantes, ein tastendes, unabgesichertes Sprechen, das wünsche ich mir für den Workshop. Das gelingt natürlich nur, wenn wir es schaffen, jenseits der vermeintlichen Gewissheiten und moralischen Argumente verletzlich, offen, vertrauens- und lustvoll, aber eben auch eingedenk unserer eigenen Verstricktheit in die Verhältnisse über das Thema nachzudenken.
Im allerbesten Fall bildet sich dabei eine Gruppe, die ein gemeinsames Erkenntnisinteresse formuliert und Ideen für Veranstaltungsformate entwickelt, die nächstes Jahr mit mehr Vorbereitungszeit und Budget im Rahmen der Kurzfilmtage durchgeführt werden könnten. Ich persönlich hätte ja total Lust auf eine klassische Sequenzanalyse der Netflix-Serie »Dear White People«, um zu verstehen, wie diese Bilder wirken (wollen), was für eine Zuschauerin sie konstruieren. Aber was genau wir nächstes Jahr machen, hängt von dem ab, was für ein Begehren wir als Gruppe entwickeln. Ich bin sehr gespannt darauf.