28.04.2022

Jenseits der vermeintlichen Gewissheiten und moralischen Argumente

Susanne Heinrich
Susanne Heinrich
(Foto: Susanne Heinrich)

Was hat das identitätspolitische Paradigma mit der Krise des deutschen Kinos zu tun? Regisseurin Susanne Heinrich über Identitätspolitiken im Film und ihren Workshop in Oberhausen

»Iden­ti­täts­po­li­tiken im Film: eine Bestands­auf­nahme« ist der Titel eines Workshops im Rahmen der 68. Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tage Ober­hausen, die kommende Woche eröffnet werden.

In der Ankün­di­gung heißt es unter anderem: »Das iden­ti­täts­po­li­ti­sche Paradigma ist auch im Film­be­trieb ange­kommen. ... Doch was sind die ökono­mi­schen Voraus­set­zungen dieses neuen Para­digmas, wie verändert es die Bezie­hungen zwischen Herstel­lungs­be­din­gungen, ästhe­ti­schen Posi­tionen und Auswer­tungs- und Rezep­ti­ons­zu­sam­men­hängen?«

Der Workshop wird geleitet von der Schrift­stel­lerin und Filme­ma­cherin Susanne Heinrich, die an der Berliner dffb studierte und 2019 mit ihrem Spiel­film­debüt Das melan­cho­li­sche Mädchen in Saar­brü­cken den Max-Ophüls-Preis gewann.
Eine Anmeldung für den Workshop ist nötig und bis zum 29. April online möglich.
Hier der Link zur Anmeldung.

Wir haben mit Susanne Heinrich über das Thema und ihre Ideen gespro­chen.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Wir kennen dich bisher als Regis­seurin des Films Das melan­cho­li­sche Mädchen. Wie ist es dir damit ergangen? Wenn du auf deine Erfah­rungen mit diesem Film, den Preis in Saar­brü­cken, die Reak­tionen und die soge­nannte »Auswer­tung« zurück­blickst – wie war das? Was war gut? Was war nicht so gut?

Susanne Heinrich: Erst einmal war der Film für mich persön­lich ein großer Glücks­fall, ein tempo­rärer Durch­bruch in meinem andau­ernden Kampf gegen das Verstummen als Autorin. Die Entste­hungs­be­din­gungen waren in der Rückschau geradezu para­die­sisch: Wir waren als Studen­tinnen unab­hängig von Finan­ciers und ihren Agenden, Zeiträumen und Vorstel­lungen von kreativen Prozessen, mussten keine Erfolgs­aus­sichten verbriefen, waren noch keinem Publikum verpflichtet, arbei­teten in relativer unbe­ob­ach­teter Heim­lich­keit, und wenn der Film nichts geworden wäre, hätten wir ihn unter den Teppich kehren können. Er ist aus einer Dynamik heraus entstanden, die viel mit den Aufs­tänden an der dffb zu tun hatte, und war von einem Gefühl des Aufbruchs getragen, das vom ganzen Team geteilt wurde. So wurde er ja dann auch rezipiert, wenn beispiels­weise der Spiegel titelte »In Pink und Türkis fängt im deutschen Kino etwas Neues an«. Später gab es Tendenzen in der Presse und Impulse von mir selbst, den Film als »femi­nis­ti­sche Kapi­ta­lis­mus­kritik« zu verein­deu­tigen – auch wenn der Film selbst das eigent­lich verwei­gert. Das geflü­gelte Wort, dass ein Text immer klüger ist als ein Autor, gilt zum Glück auch für Filme, zumindest die guten.

artechock:Nächste Woche führst du auf den »Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen« in Ober­hausen einen Workshop zum Thema „Iden­ti­täts­po­li­tiken im Film“ durch. Was ist eigent­lich genau »das iden­ti­täts­po­li­ti­sche Paradigma«, von dem in der Ankün­di­gung die Rede ist?

Heinrich: Ich meine Paradigma im Sinne einer bestimmten „Art des Schauens“, einer Art „Super­theorie“, die ihre eigenen Begriffe und Kate­go­rien mitbringt. Im Ankün­di­gungs­text führe ich einige Beispiele dafür an, wie das iden­ti­täts­po­li­ti­sche Paradigma in der Filmwelt sichtbar wird: femi­nis­ti­sche Kritiken am klas­si­schen Filmkanon, Debatten um Reprä­sen­ta­tion und Beset­zungs­po­li­tiken und im Zuge dessen die Gründung neuer Initia­tiven wie »Vielfalt im Film«, Diversity-Check­listen, -Schu­lungen, -Tagungen und -Richt­li­nien (z.B. bei Amazon & Co.), neue Berufs­bilder wie „Sensi­ti­vity Reader“ oder „Intimacy Coor­di­nator“, öffent­liche Appelle für eine ethisch begrün­dete Cine­philie, die sich als »Teil eines größeren kulturell-akti­vis­ti­schen Projekts« betrachtet (Girish Shambu) sowie vermehrt Filme mit offen iden­ti­täts­po­li­ti­scher Agenda, die also bestimmte Diskurse oder Theorien wie Critical Whiteness illus­trieren. Ich fasse diese Phänomene unter dem Begriff „iden­ti­täts­po­li­ti­sches Paradigma“ zusammen und behaupte kühn, dass dieses Paradigma inzwi­schen hege­mo­nial geworden ist. Diese Arbeits­hy­po­these ist auch ein Hilfs­mittel, um über die pola­ri­sierten öffent­li­chen Debatten, in denen die Frage danach, ob Iden­ti­täts­po­litik gut oder schlecht ist, variiert wird, hinaus­zu­kommen.

Ich glaube, das ist nicht mehr die Frage. Die Kultur­in­sti­tu­tionen werden gerade so umgeformt, dass in Zukunft praktisch kaum noch etwas anderes herge­stellt werden kann als iden­ti­täts­po­li­ti­sche Kultur­pro­dukte. Wir stehen da erst am Anfang. Gleich­zeitig sind wir an dem Punkt, wo das Phänomen als Ganzes viel­leicht endlich histo­ri­sierbar und analy­sierbar wird, weil die aufrei­benden Posi­tio­nie­rungs­kämpfe viel­leicht langsam durch sind und alle sich und einander irgendwo einge­ordnet haben. Dann wäre jetzt die Zeit, für so etwas wie das legendäre Panel „What was the Hipster?“, das in New York stattfand, als die Figur bzw. Marke des „Hipsters“ gerade den Höhepunkt ihrer globalen Verbrei­tung erreichte.

artechock: Was schwebt dir ungefähr vor? Was könntest du dir vorstellen, was der Workshop leistet, wenn es gut läuft? Mit was für Eindrü­cken sollen die Teil­nehmer rausgehen? Hast du eine Ziel­vor­stel­lung oder soll es ein möglichst offener Prozess sein?

Heinrich: Ich möchte ausgehend von einer Beschrei­bung unserer konkreten Arbeits­rea­li­täten auf eine theo­re­ti­sche Ebene kommen, auf der wir uns Fragen stellen können wie die nach den mate­ria­lis­ti­schen Voraus­set­zungen für Iden­ti­täts­po­litik. Oder die Frage danach, was das iden­ti­täts­po­li­ti­sche Paradigma mit der Krise des deutschen Kinos, oder besser: der heim­li­chen Über­füh­rung seiner kläg­li­chen Reste in die schöne bunte neue Strea­ming­welt, zu tun hat. Oder welche Formate, Drama­tur­gien, Gram­ma­tiken, Ästhe­tiken dieses Paradigma sank­tio­niert bzw. hervor­bringt und welche es abschafft. Was die Tatsache, dass immer mehr Filme­ma­che­rinnen sich weniger als Künst­le­rinnen denn als Akti­vis­tinnen begreifen, mit dem Kunst­be­griff macht und ob der Zuschau­er­ver­trag damit ein anderer wird. Das sind so Fragen, die mich persön­lich umtreiben und wo ich hoffe, dass es mir in Ober­hausen gelingt, einen Raum zu eröffnen, in dem wir frei darüber nach­denken können. Eine befreun­dete Profes­sorin benutzt gern die schöne Wendung »nur mal so beiseite gespro­chen«. Ich mag den Ausdruck so sehr, er ist das Äqui­va­lent dazu, etwas ins Unreine zu schreiben: ein riskantes, ein tastendes, unab­ge­si­chertes Sprechen, das wünsche ich mir für den Workshop. Das gelingt natürlich nur, wenn wir es schaffen, jenseits der vermeint­li­chen Gewiss­heiten und mora­li­schen Argumente verletz­lich, offen, vertrauens- und lustvoll, aber eben auch eingedenk unserer eigenen Verstrickt­heit in die Verhält­nisse über das Thema nach­zu­denken.

Im aller­besten Fall bildet sich dabei eine Gruppe, die ein gemein­sames Erkennt­nis­in­ter­esse formu­liert und Ideen für Veran­stal­tungs­for­mate entwi­ckelt, die nächstes Jahr mit mehr Vorbe­rei­tungs­zeit und Budget im Rahmen der Kurz­film­tage durch­ge­führt werden könnten. Ich persön­lich hätte ja total Lust auf eine klas­si­sche Sequenz­ana­lyse der Netflix-Serie »Dear White People«, um zu verstehen, wie diese Bilder wirken (wollen), was für eine Zuschauerin sie konstru­ieren. Aber was genau wir nächstes Jahr machen, hängt von dem ab, was für ein Begehren wir als Gruppe entwi­ckeln. Ich bin sehr gespannt darauf.