»Jeder hat seine Abgründe« |
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Moritz Bleibtreu als Versuchskaninchen |
Der Hamburger Hirschbiegel dreht seit 1986 TV-Filme, dreimal gewann er den renommierten Grimmepreis. Der auf einer wahren Geschichte basierende Film Das Experiment, der heute in die Kinos kommt, ist Hirschbiegels Filmdebüt, für das er im Januar prompt mit drei Bayerischen Filmpreisen ausgezeichnet wurde.
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland
artechock: Bisher sind Sie „nur“ als Fernsehregisseur bekannt geworden – immerhin mit einigem Erfolg. Was für ein Verhältnis hatten Sie bisher zur großen Leinwand, warum plötzlich – mit immerhin schon 43 Jahren – ein Kinofilm?
Oliver Hirschbiegel: Fernsehen mag und achte ich sehr. Man kann da vieles sehr gut erzählen, für manche Geschichten gibt es mehr Raum, und mehr Möglichkeiten. Vielleicht ist Fernsehen das tolerantere Medium, jedenfalls verzeiht es mehr. Außerdem ist es natürlich für einen Regisseur angenehm zu wissen, dass er garantiert ein bis zwei Millionen Menschen erreicht, in Glücksfällen noch wesentlich mehr. Es ist tatsächlich nicht so, dass ich
es per se geringer schätze, als Kino, und »eigentlich immer schon Kinofilme machen wollte.« Andererseits waren Filmregisseure schon immer meine Lehrmeister. Ich habe beim Kino gelernt, und versucht, mich auch bei Fernsehfilmen immer eher am Kino zu orientieren. Das hat, glaube ich, der Qualität meiner TV-Arbeiten nicht geschadet.
Darüberhinaus gilt natürlich, dass Kino letztlich das künstlerisch anspruchsvollere Medium ist, dass man manches eben nur im Kino machen kann:
Geschichten, die dem Publikum mehr abverlangen, die Konzentration erfordern, oder einen komplizierteren Aufbau haben, der sich nicht auf den ersten Blick erschließt. So war das bei Das Experiment. Das ist ein Kinostoff par excellence.
artechock: Welcher Regisseur hat Sie besonders beeinflusst?
Hirschbiegel: Hawks und Hitchcock. Auch Fassbinder. Aber ich schätze auch asiatische Filme sehr, besonders japanische. Kurosawa und Kitano sind große Meister, die mich besonders in Das Experiment beeinflusst haben
artechock: Die stilisierten Räume, die insgesamt reduzierte Ästhetik – das alles wirkt sehr japanisch...
Hirschbiegel: Ja. Aber auch in meiner Art Geschichte zu erzählen, glaube ich viel von dort gelernt zu haben. Ich schätze übrigens auch die Romane von Murakami sehr.
artechock: Wie ist es überhaupt zu dem Film gekommen?
Hirschbiegel: Nico Hoffmann bot mir das Projekt zuerst an. Ich war sofort begeistert, doch leider kam es nicht zustande. Ich habe dann andere Produzenten gefunden, und mit zwei Autoren zu dritt an dem Drehbuch gearbeitet.
artechock: Dem Drehbuch liegt Mario Giordanos Roman „Black Box“ zugrunde, diesem wiederum eine wahre Geschichte: Das berühmte „Stanford Prison Experiment“ aus dem Jahr 1971? Wie verhält sich ihr Film zu diesen beiden Bezugspunkten?
Hirschbiegel: Mich hat der reale Kern der Geschichte am meisten fasziniert. Nur musste man diese wissenschaftliche Seite dramatisieren, um ein breites Publikum an die Geschichte heranzuführen. Giordanos Roman finde ich gut, er ging mir aber an einigen Stellen – auch weil es eben ein Buch ist – zu weit von der tatsächlichen Geschichte weg. Mein Film hält sich an Giordanos Rahmenhandlung, aber er greift in vielen Einzelheiten des Ablaufs, besonders der Beziehung zwischen Wärtern und Sträflingen auf das reale Geschehen zurück. Ich habe die Videoaufzeichnung von 1971 angesehen. Das war für mich erschreckend und faszinierend zugleich – vieles davon floss in meinen Film ein.
artechock: Was macht diese Geschichte für Sie so interessant?
Hirschbiegel: Die Dramatik des Stoffes, dabei sein Realitätsgehalt. Man erkennt erschreckt, wie schnell scheinbar geregelte Strukturen in wüste Gewalt umkippen können. Wer sich umschaut, erkennt Ähnliches an den Neonazi-Anschlägen und an der Hilflosigkeit, der Unentschlossenheit, mit der wir darauf reagieren. Ähnlich im Fall Haider. Die anfangs entschlossene EU ist schnell eingeknickt. Das was ich beschreibe, und was in Stanford seinerzeit passierte, ist wie sich brave Bürger binnen Tagen zu Faschisten entwickeln können. Weil ihnen die inneren Maßstäbe fehlen! Weil sie nur Sekundärtugenden haben an die sie sich halten können – wie Ordnung und Sauberkeit.
artechock: Ist der Mensch von Natur aus schlecht?
Hirschbiegel: Ich glaube an das Gute im Menschen. Aber jeder hat seine Abgründe. Und wir alle sind solchen Extremsituationen wie im Film viel näher, als wir denken.
artechock: Wer Ihren Film sieht, könnte glauben, Sie hätten eine sehr skeptische Einstellung gegenüber der Wissenschaft...
Hirschbiegel: Nein. Ich würde zwar nicht selbst an so einem Experiment teilnehmen, aber ich verstehe die Leidenschaft der Forscher ganz gut. Gefährlich wird es nur, wenn Realitätsverlust einsetzen, wenn Leute egoistisch handeln, oder in einer Art Forscher-Wahn verhaftet sind. In der Vernunft sehe ich keine Gefahr. Aber auch den Wahn kann ich manchmal gut verstehen. Wenn man sich kurz vor dem Ziel glaubt, dann bricht man eben nicht ab.
artechock: In Das Experiment spielen Überwachungsphantasien eine wichtige Rolle. Es scheint wie ein Kommentar unserer fast komplett videoüberwachten Welt, in der wir zugleich selbst am Abend vor dem Fernseher zum freiwilligen Wärter jener Gefangenen des „Big Brother“ werden...
Hirschbiegel: Ein bisschen ist der Regisseur auch ein Überwacher. Man lässt spielen, guckt mal ein bisschen zu. Der Vergleich mit „Big Brother“ hält nicht. Da wird Realität simuliert, bei uns ist die Situation starrer.
artechock: Aber die „bösen“ Wärter reagieren so enthemmt, weil sie sich selbst überwacht und in diesem Sinn kontrolliert glauben...
Hirschbiegel: Ja, sie glauben zu spielen, und erkennen gar nicht, wenn es ernst wird. Das gibt’s im Leben oft.