08.03.2001

»Jeder hat seine Abgründe«

Moritz Bleibtreu als Versuchskaninchen
Moritz Bleibtreu als Versuchskaninchen

Oliver Hirschbiegel über seinen Film Das Experiment

Der Hamburger Hirsch­biegel dreht seit 1986 TV-Filme, dreimal gewann er den renom­mierten Grim­me­preis. Der auf einer wahren Geschichte basie­rende Film Das Expe­ri­ment, der heute in die Kinos kommt, ist Hirsch­bie­gels Filmdebüt, für das er im Januar prompt mit drei Baye­ri­schen Film­preisen ausge­zeichnet wurde.

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Bisher sind Sie „nur“ als Fern­seh­re­gis­seur bekannt geworden – immerhin mit einigem Erfolg. Was für ein Verhältnis hatten Sie bisher zur großen Leinwand, warum plötzlich – mit immerhin schon 43 Jahren – ein Kinofilm?

Oliver Hirsch­biegel: Fernsehen mag und achte ich sehr. Man kann da vieles sehr gut erzählen, für manche Geschichten gibt es mehr Raum, und mehr Möglich­keiten. Viel­leicht ist Fernsehen das tole­ran­tere Medium, jeden­falls verzeiht es mehr. Außerdem ist es natürlich für einen Regisseur angenehm zu wissen, dass er garan­tiert ein bis zwei Millionen Menschen erreicht, in Glücks­fällen noch wesent­lich mehr. Es ist tatsäch­lich nicht so, dass ich es per se geringer schätze, als Kino, und »eigent­lich immer schon Kinofilme machen wollte.« Ande­rer­seits waren Film­re­gis­seure schon immer meine Lehr­meister. Ich habe beim Kino gelernt, und versucht, mich auch bei Fern­seh­filmen immer eher am Kino zu orien­tieren. Das hat, glaube ich, der Qualität meiner TV-Arbeiten nicht geschadet.
Darü­ber­hinaus gilt natürlich, dass Kino letztlich das künst­le­risch anspruchs­vol­lere Medium ist, dass man manches eben nur im Kino machen kann: Geschichten, die dem Publikum mehr abver­langen, die Konzen­tra­tion erfordern, oder einen kompli­zier­teren Aufbau haben, der sich nicht auf den ersten Blick erschließt. So war das bei Das Expe­ri­ment. Das ist ein Kinostoff par excel­lence.

artechock: Welcher Regisseur hat Sie besonders beein­flusst?

Hirsch­biegel: Hawks und Hitchcock. Auch Fass­binder. Aber ich schätze auch asia­ti­sche Filme sehr, besonders japa­ni­sche. Kurosawa und Kitano sind große Meister, die mich besonders in Das Expe­ri­ment beein­flusst haben

artechock: Die stili­sierten Räume, die insgesamt redu­zierte Ästhetik – das alles wirkt sehr japanisch...

Hirsch­biegel: Ja. Aber auch in meiner Art Geschichte zu erzählen, glaube ich viel von dort gelernt zu haben. Ich schätze übrigens auch die Romane von Murakami sehr.

artechock: Wie ist es überhaupt zu dem Film gekommen?

Hirsch­biegel: Nico Hoffmann bot mir das Projekt zuerst an. Ich war sofort begeis­tert, doch leider kam es nicht zustande. Ich habe dann andere Produ­zenten gefunden, und mit zwei Autoren zu dritt an dem Drehbuch gear­beitet.

artechock: Dem Drehbuch liegt Mario Giordanos Roman „Black Box“ zugrunde, diesem wiederum eine wahre Geschichte: Das berühmte „Stanford Prison Expe­ri­ment“ aus dem Jahr 1971? Wie verhält sich ihr Film zu diesen beiden Bezugs­punkten?

Hirsch­biegel: Mich hat der reale Kern der Geschichte am meisten faszi­niert. Nur musste man diese wissen­schaft­liche Seite drama­ti­sieren, um ein breites Publikum an die Geschichte heran­zu­führen. Giordanos Roman finde ich gut, er ging mir aber an einigen Stellen – auch weil es eben ein Buch ist – zu weit von der tatsäch­li­chen Geschichte weg. Mein Film hält sich an Giordanos Rahmen­hand­lung, aber er greift in vielen Einzel­heiten des Ablaufs, besonders der Beziehung zwischen Wärtern und Sträf­lingen auf das reale Geschehen zurück. Ich habe die Video­auf­zeich­nung von 1971 angesehen. Das war für mich erschre­ckend und faszi­nie­rend zugleich – vieles davon floss in meinen Film ein.

artechock: Was macht diese Geschichte für Sie so inter­es­sant?

Hirsch­biegel: Die Dramatik des Stoffes, dabei sein Reali­täts­ge­halt. Man erkennt erschreckt, wie schnell scheinbar geregelte Struk­turen in wüste Gewalt umkippen können. Wer sich umschaut, erkennt Ähnliches an den Neonazi-Anschlägen und an der Hilf­lo­sig­keit, der Unent­schlos­sen­heit, mit der wir darauf reagieren. Ähnlich im Fall Haider. Die anfangs entschlos­sene EU ist schnell einge­knickt. Das was ich beschreibe, und was in Stanford seiner­zeit passierte, ist wie sich brave Bürger binnen Tagen zu Faschisten entwi­ckeln können. Weil ihnen die inneren Maßstäbe fehlen! Weil sie nur Sekun­där­tu­genden haben an die sie sich halten können – wie Ordnung und Sauber­keit.

artechock: Ist der Mensch von Natur aus schlecht?

Hirsch­biegel: Ich glaube an das Gute im Menschen. Aber jeder hat seine Abgründe. Und wir alle sind solchen Extrem­si­tua­tionen wie im Film viel näher, als wir denken.

artechock: Wer Ihren Film sieht, könnte glauben, Sie hätten eine sehr skep­ti­sche Einstel­lung gegenüber der Wissen­schaft...

Hirsch­biegel: Nein. Ich würde zwar nicht selbst an so einem Expe­ri­ment teil­nehmen, aber ich verstehe die Leiden­schaft der Forscher ganz gut. Gefähr­lich wird es nur, wenn Reali­täts­ver­lust einsetzen, wenn Leute egois­tisch handeln, oder in einer Art Forscher-Wahn verhaftet sind. In der Vernunft sehe ich keine Gefahr. Aber auch den Wahn kann ich manchmal gut verstehen. Wenn man sich kurz vor dem Ziel glaubt, dann bricht man eben nicht ab.

artechock: In Das Expe­ri­ment spielen Über­wa­chungs­phan­ta­sien eine wichtige Rolle. Es scheint wie ein Kommentar unserer fast komplett videoü­ber­wachten Welt, in der wir zugleich selbst am Abend vor dem Fernseher zum frei­wil­ligen Wärter jener Gefan­genen des „Big Brother“ werden...

Hirsch­biegel: Ein bisschen ist der Regisseur auch ein Über­wa­cher. Man lässt spielen, guckt mal ein bisschen zu. Der Vergleich mit „Big Brother“ hält nicht. Da wird Realität simuliert, bei uns ist die Situation starrer.

artechock: Aber die „bösen“ Wärter reagieren so enthemmt, weil sie sich selbst überwacht und in diesem Sinn kontrol­liert glauben...

Hirsch­biegel: Ja, sie glauben zu spielen, und erkennen gar nicht, wenn es ernst wird. Das gibt’s im Leben oft.