24.11.2022

»Es ist, als würde man das Leben mit dem Kino betrügen«

Chronique d'une liaison passagère
Küchengespräch: Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne
(Foto: Neue Visionen)

Anlässlich von Emmanuel Mourets Tagebuch einer Pariser Affäre spricht der französische Schauspieler Vincent Macaigne über das Doppelleben, die Fallstricke der Sprache und über die Missverständnisse im Kino

Vincent Macaigne ist womöglich einer der unschein­barsten Schau­spieler Frank­reichs: Bislang war er vor allem in Neben­rollen zu sehen, meist als einer, der sich von männ­li­chen Alpha­tieren verdrängen lässt, immer unsicher, immer um Worte ringend. Mit begin­nender Glatze, klein und untrai­niert, könnte er auch für den durch­schnitt­li­chen Franzosen gelten. Der aber gerade deshalb so reizvoll ist. Man sollte ihn sich von nun an unbedingt merken, als einer, der locker die Nachfolge von Jean-Pierre Bacri einnehmen könnte. Vincent Macaigne hat als Thea­ter­re­gis­seur abseits der stan­dar­di­sierten Comédie Française debütiert. Von seinen viel­be­ach­teten Insze­nie­rungen hat vor allem »Idiot!« nach Dosto­jewski 2009 am Théâtre Chaillot für Furore gesorgt. Macaigne spielte dort den gutmü­tigen Naiven, und irgendwie ist ihm das haften geblieben. Auch in seinen Film­rollen (wo er nicht selbst insze­niert) kehrt die reizvolle Mischung aus liebens­wertem Naivling und Sonder­ling wieder, bei Olivier Assayas in Doubles vies (Zwischen den Zeilen), und jetzt bei Regisseur Emmanuel Mouret, bei dem Macaigne schon zum zweiten Mal den Schüch­ternen gibt. Die roman­ti­sche Komödie Chronique d’une liaison passagère (Tagebuch einer Pariser Affäre) eröffnete letzten Donnerstag das 71. Inter­na­tio­nale Film­fes­tival Mannheim Heidel­berg (IFFMH) und ist jetzt auch bei der Fran­zö­si­schen Filmwoche in Berlin und München zu sehen, bevor der Film nächstes Frühjahr in den Kinos startet.

Im Gespräch in der Nähe des Mann­heimer Bahnhofs, mit Sprach-Verwir­rungen und dem Sagen des Unsag­baren, wird klar: Vincent Macaigne sitzt einfach dieser besondere Schalk im Nacken. Die Erkenntnis aus dem Interview: Er ist ein Schau­spieler, der organisch ganz und gar er selbst ist, selbst wenn er doch nur spielt. Oder?

Das Gespräch führte Dunja Bialas

artechock: Monsieur Macaigne, Ihre Rolle in Emmanuel Mourets Chronique d’une liaison passagère (Tagebuch einer Pariser Affäre) hat mich stark an Olivier Assayas' Doubles vies (Zwischen den Zeilen) erinnert, wo Sie an der Seite von Juliette Binoche einen strau­chelnden Schrift­steller spielen, der mit der Verlags­gattin eine Affäre hat. Finden Sie nicht auch?

Vincent Macaigne: Ja, sie haben vieles gemeinsam. Auch, was die Liebe zur Sprache und zum Text anbelangt. Assayas und Mouret sind beides Filme­ma­cher, die an den Dialog glauben. Im Dialog von einer Handlung zu sprechen, ist für beide eigent­lich wichtiger, als die Handlung selbst zu insze­nieren. Das ist anders als bei anderen Filme­ma­chern, für die Kino als aller­erstes ein Medium der großen Bilder ist. Mouret ist ein Filme­ma­cher, der ganz an den Dialog und das Drehbuch glaubt.

artechock: Auch in Chronique geht es wie in Doubles vies um das Scheitern, um einen, der nicht wirklich zum Zug kommt, der nie wirklich Erfolg hat. Was inter­es­siert Sie an den Rollen?

Vincent Macaigne: In Doubles vies gibt es die Idee des Betrugs, das steckt ja schon im Titel: Doppel­leben. Es sind beides Filme über… wie heißt es noch… mir fällt das Wort nicht ein… habe ich ein Gedanken-Co-Vide? …das ist noch dazu ein absolut normales Wort… äh… Also auf jeden Fall sind es beides Filme über Pärchen, die sich betrügen… ich habe das genaue Wort jetzt vergessen…

artechock: …Ehebruch?

Vincent Macaigne: Ehebruch! Das ist es, jetzt haben wir’s! L’adultère! Beides sind Filme über den Ehebruch. Aber sie sind doch unter­schied­lich. In Doubles vies geschieht alles mit einer großen Leich­tig­keit, der Ehebruch vollzieht sich hier in einer Zone der Unter­hal­tung, des Amuse­ments, während in Chronique alles auf bizzare Weise mit einer … nicht Schwer­fäl­lig­keit, lourdeur …, sondern…

artechock: Schwere?

Vincent Macaigne: Ja, Schwere, gravité! …mit enormer Schwere passiert. Das ist es. Diese enorme Schwere in Mourets Film über­wäl­tigt, wenn der Film uns von vielen leeren Räumen erzählt, von all diesen Räumen und Plätzen, wo das Liebes­paar war, wo sie sich getroffen haben, wo sie mitein­ander gespro­chen haben.

Mouret erzählt jenseits des Ehebruchs aber noch viel mehr: Vom Risiko, das wir eingehen, wenn wir dem Anderen begegnen. Diese Begegnung ist gefähr­lich. Davon hatte er auch schon in Les choses qu’on dit les choses qu'on fait erzählt. Dem Anderen zu begegnen, ist gefähr­lich, sogar eine verrückte Tat. Oft vergleicht man Emmanuel Mouret auch mit Woody Allen, mit Manhattan zum Beispiel. Damit bin ich nicht ganz einver­standen. Sicher­lich hat Mouret eine Form der Schnel­lig­keit, Fröh­lich­keit und viel Humor. Aber mit jedem Film erzählt er immer mehr von dem, was man verpasst und was man verpatzt. Auf eine wunder­schöne, leichte Weise. Weil er im Grunde ein heiterer Typ ist. Ich denke, und das ist jetzt ein bisschen tragisch, dass Mouret ein Filme­ma­cher ist, der, je älter er wird, sich umso bewusster über die Dinge ist, die er nicht mehr erreichen wird. Deshalb erzählt er, obwohl es in seinem Werk eigent­lich immer um die Liebe geht, mit jedem Film immer auch von etwas anderem … also das preist ihn jetzt überhaupt nicht an … er erzählt irgendwie auch vom Tod. Aber nicht auf eine traurige Weise. Das ist nicht trüb und nicht finster bei ihm! Er erzählt eigent­lich nur von seinem eigenen Älter­werden, die Geschichte des Lebens, das ist sehr selten.

artechock: Und es geht ihm um die Mensch­lich­keit im Allge­meinen. Auch seine Dialoge kreisen um eine Leere, da geht es viel um das, was man nicht sagt, das Ungesagte.

Vincent Macaigne: Genau.

artechock: Und um die Miss­ver­ständ­nisse, die sich daraus ergeben.

Vincent Macaigne: Ja, richtig. Sein ganzes Werk geht über das Miss­ver­ständnis. Das ist verrückt. Das ist auch ein Aspekt des Mensch­li­chen. Oft geht den Konflikten und dem Scheitern voraus, dass man bestimmte Dinge nicht sagen kann, oder etwas, über das man sich nicht verstän­digt hat. Aber beide, Assayas und Mouret, sind Filme­ma­cher, die an »die Leute« glauben, sogar auf eine etwas naive Weise. Es gibt verschie­dene Arten von Leuten. Pessi­misten, die aber zur gleichen Zeit auch opti­mis­tisch sind.

artechock: Das betrifft auch die Humor­ebene, das ist auch eine Spezia­lität des fran­zö­si­schen Kinos: In den guten Komödien gibt es immer auch die dunklen Momente, die Schat­ten­seiten der Seele. Chronique ist so eine Komödie, die sehr dunkle Seiten hat. Und gleich­zeitig schraubt sich die Sprache hoch wie bei Marivaux…

Vincent Macaigne: Ja, das ist absolut Marivaux. Was schön ist in dem Film: Er ist sehr abgehoben, sehr schnell. Mouret war beim Dreh immer alles zu langsam, ständig wollte er, dass wir schneller sprechen. Die Dialoge sind wahn­sinnig viel Text. Aber im Leben, also hier, wenn wir ein Drehbuch schreiben müssten darüber, was wir uns sagen, dann wäre das auch sehr lang! Während es aber eigent­lich ganz kurz ist! Weil man einfach schnell spricht. Jeden­falls ich spreche sehr schnell. Man lebt auch sehr schnell! Das Kino wirkt aber oft so, dass es das Leben verlang­samt. Mouret verlang­samt die Sprache nicht, er insze­niert sie fast auf realis­ti­sche Weise. Und das muss im Film sogar noch ein wenig schneller werden.

artechock: Ja, seine Figuren rennen sogar! Was aber in der Insze­nie­rung dann wiederum auffällt, sind seine langen Plan­se­quenzen, seine enorm langen Szenen, in denen überhaupt kein Schnitt fällt. Hat Sie das mit Ihrer Thea­ter­ar­beit verbunden?

Vincent Macaigne: Nein, das gar nicht. Ich selbst komme zwar vom Theater, aber mehr von dem, was Frank Castorf entspricht, da bin ich weit von Mourets Filmen entfernt. Es gibt auch eine Verwir­rung darüber, wofür das Theater angeblich steht. Gerade das deutsche Theater hat revo­lu­ti­onär gewirkt, mit Christoph Marthaler an der Berliner Volks­bühne, oder Matthias Lili­en­thal bei den Münchner Kammer­spielen. Sie haben ein Theater ohne Text gemacht. Da hat sich viel umgewälzt. Viele Thea­ter­re­gis­seure haben die Idee vom Text zerstört! Während es in den Filmen oft mehr Text als heute im Theater gibt.

artechock: Welche Bedeutung sehen Sie dann in den Plan­se­quenzen?

Vincent Macaigne: In ihnen versenkt sich Mouret auf ganz emotio­nale Weise in seinen Film. Er ist sehr präzise, was den Text anbelangt. In den einzelnen Szenen aber, vor der Insze­nie­rung, weiß er nicht, was genau er dort sehen möchte. Er versucht eher, die Emotion der Sequenz zu verstehen, einzu­fangen, was ihn im Bild bewegt und berührt. Man könnte sagen, er öffnet in den Plan­se­quenzen hallu­zi­nie­rende Türen des Kinos. Sie führen uns direkt an das Kino zurück, das ist der »état brut«, der Rohzu­stand des Kinos. Es geht ihm um die grund­sätz­liche Frage: Wie bewegen die Kadrie­rung und das Bild emotional?

Mouret hat ein enormes Vertrauen in die Sprache. Das kommt aber nicht vom Theater, das kommt bei ihm vom Leben. Daran glaubt er. Er glaubt daran, dass sich die Leute zuhören, während es im Theater ganz viele Regis­seure gibt, die eben nicht mehr daran glauben. Der Glaube an das Mensch­liche, nicht an das Theater, ist der Ort, an dem wir, Emmanuel und ich, uns treffen. Und Mouret glaubt auch daran, dass das Publikum seinen Filmen zuhört, und versteht, was die Figuren sagen. Das versöhnt auch mit dem Menschen.

artechock: Wenn es bei Mouret so einen großen Unter­schied zwischen der Sprach- und Szenen­in­sze­nie­rung gibt: Wie hat er mit Ihnen jeweils konkret gear­beitet?

Vincent Macaigne: Die Dialoge sind bei Mouret sehr geschrieben, die stehen fest. Das ist, als würde man ein Stück von Marivaux einstu­dieren, den Text muss man einfach lernen. Für die Technik haben wir mit einem Coach zusam­men­ge­ar­beitet, das war ziemlich gut. Bevor es an den Dreh ging, haben wir den Text schon hundert Mal gespro­chen, den Text mussten wir einfach können. In der Insze­nie­rung vertraut Mouret aber ganz seinen Schau­spie­lern. Einer­seits arbeitet er also ganz präzise, ande­rer­seits lässt er sich davon über­ra­schen, wie wir uns in der Szene bewegen, was wir machen.

artechock: Die Plan­se­quenzen sind nicht choreo­gra­fiert?

Vincent Macaigne: Das schon, aber das findet erst unmit­telbar vor dem Dreh statt, ganz spontan. Wir kommen ans Set, gehen die Szenen durch. Da kommen die Einfälle. Hier findet er die Diskus­sion zu lang: mach dir hier einen Kaffee – dann hat der andere die Zeit, dieses und jenes zu machen. Oder: Hier ist es nicht gut, dich zu filmen, man muss dich jetzt nicht sehen, besser kommst du erst wieder hier ins Bild. Das ist eine kleine Choreo­grafie der Dinge. Wenn er ans Set kommt, weiß er das alles noch nicht. Es ist die Emotion, die in den Szenen durch die Körper der Schau­spieler erst zum Vorschein kommt, nicht durch die Dialoge. Wenn er auf den Rücken von Sandrine Kiberlain draufhält, weil sie von einer Emotion bewegt wird, weiß er vorher noch nicht, wie sie zu diesem Punkt gelangen wird. Die Choreo­grafie ergibt sich erst, wenn er die Kadrie­rung sieht. Und dann erst kann die Emotion der Szene erfasst werden.

artechock: Das erklärt auch, warum die Szenen impro­vi­siert wirken, obwohl man genau weiß, dass die Dialoge bis ins kleinste Detail geschrieben sind. Das Bild teilt eine Spon­ta­n­eität mit.

Vincent Macaigne: Ja, das ist spontan. Und gleich­zeitig präzi­siert Mouret mit jedem Film mehr, was seine Idee vom Kino ist. Er ist gerade dabei, ein großer Regisseur zu werden.

artechock: Und er arbeitet mit tollen Schau­spie­lern zusammen. Neben Ihnen spielt Sandrine Kiberlain. Über sie zu sagen, sie sei eine erfahrene Schau­spie­lerin, wäre schon eine ziemliche Unter­trei­bung.

Vincent Macaigne: Sandrine passt perfekt ins Universum von Mouret. Sie hat etwas Leichtes, ist sehr präzise und gleich­zeitig sehr agil. Ins Spiel von Mouret muss man eine Form des Lebens hinein­bringen, um die Szenen im Fluss zu halten, die natür­li­chen Gesten des Alltags, die Art, wie man einen Kaffee zube­reitet. Mit Sandrine an der Seite wird das alles ganz einfach, während es eigent­lich ziemlich schwierig ist. Sie ist randvoll mit Emotionen und geheim­nis­voll. Das habe ich selten erlebt. Sie ist eine sehr große Schau­spie­lerin.

artechock: Und sie verströmt Vertraut­heit und Nähe. Mit ihr hat man das Gefühl, sich in einer Familie wieder­zu­finden.

Vincent Macaigne: Ja, im wahrsten Sinne: Das ist eine Familie! Mit Mouret zusammen Chronique zu machen, das war nach Corona, hat mich fast gerettet. Ich hatte das Gefühl, in eine Familie zu kommen. Nicht in seine reale Familie mit vier Kindern, sondern in seine andere, in seine Film­fa­milie. Mouret führt mit dem Kino ein Doppel­leben! In seiner Kino­fa­milie sind Freunde aus seiner Schulzeit, mit denen er zusam­men­ar­beitet, sie bleiben sich alle außer­or­dent­lich treu, arbeiten teilweise schon seit 25 Jahren mit ihm. Das ist seine zweite Familie, mit der er alle zwei Jahre einen neuen Film macht.

Auch das verbindet ihn mit Olivier Assayas. Das sind beide sehr mensch­liche Regis­seure, die Filme machen, um ihre Humanität in der Film­fa­milie wieder­zu­finden. Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt eine Ambition als Filme­ma­cher haben… oder ob das Filme­ma­chen nicht eher eine Entschul­di­gung dafür ist, wieder zusam­men­sein zu können. Und während­dessen sind sie unfassbar große Regis­seure. Aber eigent­lich geht es um das Zusam­men­sein, der Film ist nur eine Ausrede. Nach dem Motto: Lasst uns was zusammen machen, damit wir zusam­men­sein können! Das Filme­ma­chen ist dann eine Form, dem Leben zu entkommen. Es ist, als würden sie ihr eigenes Leben mit dem Kino betrügen und damit, dass sie Filme machen.