14.09.2000

Ich hab nie dazu gehört, aber ich habe einen sehr guten Einblick gehabt

Bibiana Beglau und Alexander Beyer in DIE STILLE NACH DEM SCHUSS
Bibiana Beglau und Alexander Beyer in Die Stille nach dem Schuss
(Foto: Arthaus)

Volker Schlöndorff über deutschen Terrorismus, eigene Erlebnisse und Die Stille nach dem Schuss

Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland

artechock: Wie am es zu Ihrem neuen Film Die Stille nach dem Schuss

Volker Schlön­dorff: Die lang­wei­lige, aber echte Variante der Entste­hungs­ge­schichte ist, dass Dreh­buch­autor Wolfgang Kohlhaase und ich uns eines Tages in der Berliner Akademie der Künste kennen­ge­lernt haben...

artechock: Vorher kannten Sie sich gar nicht?

Schlön­dorff: Nein, wir sind uns mal so über den Weg gelaufen, bei offi­zi­ellen Veran­stal­tungen. Jeden­falls haben wir schnell mitein­ander sympa­thi­siert, auch aufgrund unserer gemein­samen Vergan­gen­heiten – er mit 40 Jahren in der DDR aufm Buckel, ich über 30 Jahre Filme – und gesagt: Mensch machen wir doch mal was zusammen.
Ich bin damals nach Berlin gekommen, um irgend­welche »Berlin-Filme« zu machen: Natürlich mensch­liche Geschichten, aber die sich jetzt aus dieser neuen Situation nach 89 ergeben. Unser Stichwort war Pitter­wall [??; R.S.] wenn Ihnen das was sagt...

artechock: Nein, überhaupt nicht.

Schlön­dorff: Das gibt’s seit 150 Jahren, mindes­tens seit Ende des 19.Jahr­hun­derts, das ist so ein jähr­li­cher Band, da werden die spek­ta­kulärsten Krimi­nal­fälle aufge­führt, das ist unter Autoren so ein Stichwort; früher jeden­falls, in den 30er oder 40er Jahren hat man da seine Stoffe oft herbe­zogen. Das eine Randnotiz.
Also wir dachten eher an einen eini­gungs­be­dingten Wirt­schafts­krimi oder Ähnliches. Und dann sagte der Wolfgang: Du hast doch die Geschichte gelesen. Na klar hatte ich die gelesen, ich hab sogar die Ausschnitte bei mir gesammelt, einfach so aus alter Anhäng­lich­keit und Interesse. Und er sagte: Das wärs doch.
Ich war erst nicht so begeis­tert, weil ich dachte: Ach Du lieber Gott, Katharina Blum und das ist ja irgendwie alles..., also ich hab eigent­lich erst so reagiert, wie das Publikum heute reagiert: Der Terro­rismus, das liegt doch Jahr­zehnte zurück – in der ersten Reaktion.

artechock: Hat es Sie auch genervt, dass Sie selbst damit noch mal zu tun haben sollten...

Schlön­dorff: Ja, ich hatte irgendwo das Gefühl, ich hätte meinen Tribut schon gezahlt. Und ich konnte mir erst nicht vorstellen, dass ich da noch etwas Neues entdecke. Aber innerhalb des gleichen Gespräches war natürlich auch die Neugier geweckt. Zuerst mal im Sinne dieser beiden Fragen, die sofort wieder da waren: Warum hat die DDR denn so etwas gemacht, sich auf diese unsi­cheren Kandi­daten einzu­lassen. Politisch ein absolutes Abenteuer, das ihnen nichts bringen kann, aber mit aller­höchstem Risiko, wenn das auffliegt, sind sie doch blamiert.

Das war die eine Frage, die andere war natürlich diese mensch­liche Frage: Ich hab' ja nun einige gekannt von denen früher. Ich hab' nie die Inge Viett persön­lich gekannt, aber ich kannte sie indirekt sehr gut von früher, denn ich habe so zwischen 1975 und 1980 in München sehr aktiv mit dem Fritz Teufel in der soge­nannten „Roten Hilfe“ gear­beitet. Wir haben da – wie das hieß – „Knast­ar­beit“ gemacht, also Gefäng­nis­be­suche, die Margit Schenkie und den Rolf Heißler, die 'ne Bank gemacht hatten, – was meine Frau, meine damalige, [= Marga­rethe von Trotta; R.S.] unter dem Titel Das zweite Erwachen der Christa Klages verfilmt hat –, und der Fritz Teufel schwärmte immer so von der Inge Viett.

artechock: Aus welchen Gründen?

Schlön­dorff: Der sagte, das sei die einzige patente Frau da drin, die nicht so aus bürger­li­chen Kreisen kommt, und die einfach ist und vernünf­tigen, klaren Menschen­ver­stand hat und nicht in irgend­einer Weise gewalt­ver­sessen ist. Sondern eine ganz ruhige, abwägende, die immer auch versucht, zu klären: »Wie können wir das jemandem vermit­teln, der nicht so verschro­bene poli­ti­sche Ideen hat?« – dieser Ansatz.

Und da war der Name in mir hängen­ge­blieben. Der Teufel hat mir auch einen dicken Akten­ordner mit Briefen... – er war Anfang der 70er Jahre in Berlin im Knast, und die Inge Viett auch, vor Ihrem ersten Ausbruch – und da haben sie sich geschrieben, wöchent­lich, und diesen ganzen Brief­wechsel, den hat der mir damals anver­traut, und den hatte ich 20 Jahre später noch – sorg­fältig wie ich bin – zu Hause. Den hab' ich übrigens im letzten August [= 1999; R.S.] der Inge Viett gegeben, die eben ihre eigenen Briefe nicht hatte. So dass ich also, im Gegensatz zu dem, was die immer behaupten: das sei alles Kasper­le­theater oder so – Ich hab nie dazu gehört, aber ich habe einen sehr guten Einblick gehabt. Wie diese Atmo­sphäre war, wie diese Aufbruch­stim­mung war, wo man wirklich glaubte, alles sei möglich. Wie sagt sie einmal im Satz: »Wir dachten, wir können das Unrecht abschaffen und den Staat gleich mit.« Und so verkürzt muss man das leider sagen, wurde das auch geglaubt.

artechock: Gehörten Sie zu den Über­zeugten?

Schlön­dorff: Also ich war damals schon sehr gespalten, wenn wir diese Sitzungen hatten, die dann also wirklich wie bei Dosto­jewski in irgend­wel­chen ausge­dienten Kellern statt­fanden, mit viel Rauch und wenig arti­ku­lierten Gedanken – das waren jetzt nicht die Aktiven, sondern das war die Unter­s­tüt­zer­szene.

artechock: Waren die Ideen wirklich so simpel, wie Sie es im Film zeigen? Das kommt einem so ironi­siert vor.

Schlön­dorff: Ja, ich konnte das damals schon nur ironisch aufnehmen. Da war die Marga­rethe von Trotta dabei, und wenn wir immer nach Hause gingen, haben wir immer nur den Kopf geschüt­telt und gesagt: »Träumen die völlig, oder in welcher Welt leben die eigent­lich?« Aber es waren dann doch irgendwie sympa­thi­sche Träumer – das waren ja wie gesagt keine Gewalt­tä­tigen, sondern welche die von außen dabei waren, die berühmte Unter­s­tüt­zer­szene. Übrigens waren da einige dabei, die dann später abge­stürzt sind und in die nächste Gene­ra­tion rein­ge­kommen sind – wie der Christoph Wacker­nagel oder die eine Biene genannte, wie hieß sie? Sabine Plambeck glaub' ich.

artechock: Juliane Plambeck?

Schlön­dorff: Ja, das waren zwei Schwes­tern. Ich hab' die Namen fast vergessen. Die dann übrigens so 'nen tödlichen Auto­un­fall hatte,

artechock: In Bietig­heim-Bissingen...

Schlön­dorff: Sie kennen sich ja aus. Also das waren Leute, die kamen auch zu mir in die Toskana ins Haus in Ferien, und kochten da nachts Scho­ko­la­den­pud­ding und alle Töpfe waren ange­schmort

artechock: Das war aber bevor sie gesucht wurden?

Schlön­dorff: Das war alles bevor sie gesucht wurden. Wenn man das so will, war das alles so eine abschüs­sige Ebene. Also sei es, dass die krimi­na­li­siert und schi­ka­niert wurden, bloß weil sie sich immer um die Leute da im Gefängnis kümmerten, sei es weil sie für sich selbst keinen anderen Ausweg mehr fanden. Oder dass sie beinahe durch 'ne Erpres­sung reinkamen: das dann einer getürmt ist und dann auftaucht und versteckt wird, und dem man seine Papiere gibt – das reichte meistens. Das war dann ja schon Beihilfe zu irgend­etwas, was weiß ich – wie hieß das? – Land­verrat, nein Land­frie­den­bruch. Jeden­falls KV, Krimi­nelle Verei­ni­gung.

artechock: Haben Sie den Eindruck, dass viele, die da rein­ge­rutscht sind, jeden­falls in den zweiten und dritten Gene­ra­tionen, dass die da halb unfrei­willig mitge­macht haben?

Schlön­dorff: Würde ich unbedingt sagen. Wo der freie Wille des Menschen anfängt, ist ja in der Philo­so­phie sehr umstritten.

artechock: Sie glauben doch auch, dass nicht alles deter­mi­niert ist?

Schlön­dorff: Klar. Nein, jeder hat immer die Wahl, was er macht. Und sie hätten immer die Wahl gehabt, das nicht zu tun.
Aber alles, worüber wir jetzt sprechen, ist eigent­lich nicht der Film. Das wäre ein voll­kommen anderer Film geworden. Und solche Themen veralten übrigens nie, da glaube ich auch nicht dran. Das kann jemand sicher noch mal inter­es­sant erzählen. Aber da muss man sehr, sehr weit ausholen, um das eini­ger­maßen richtig darzu­stellen.
Um auf den Anfang des Gesprächs zurück­zu­kommen: Was uns inter­es­sierte war: Wie werden die mit der DDR fertig? Wie wird die DDR mit denen fertig?
Wichtig ist da die erste Kontakt­auf­nahme: Das die so beiläufig am Flughafen Schö­ne­feldt läuft, das wusste ich nicht. Dass dann der Stasi-Offizier die einfach „anzählt“, wie die das nennen, im Warteraum, ihr dann ihren Pass gibt, und ihre Pistole – was ja auch erstaun­lich ist. Unser­einer hat nicht mal ein Rowohlt-Taschen­buch da durch­ge­bracht, und die bringen gleich 'ne Waffe durch. [LACHT]
Und bis es dann zur endgül­tigen Einreise kommt und einer von denen sagt: Warum eigent­lich nicht, wir kennen das Land ja nur von der Durch­reise, ich will mich jetzt mal darauf einlassen. Und da wiederum war von all den Charak­teren – es sind ja 11 gewesen – die Inge Viett die einzige, die von sich aus damit einfach gebrochen hat. Die anderen waren, wenn man so will, kaputt und waren ein Gewicht am Bein der Aktiven und waren zu nichts mehr nütze.
Inge Viett aber hat durchaus noch im Voll­be­sitz ihrer geistigen Kräfte gesagt: Ich will das nicht mehr mitmachen. Das hat aber haupt­säch­lich auch damit zu tun, dass die paar Übrig­ge­blie­benen von der „Bewegung 2.Juni“ gerade von der RAF absor­biert wurden. Und die RAF dann die großen Töne spuckte, und sie auf einmal dann im Abseits stand. Also es gab viele Gründe.

artechock: Also hier ist die Rita, Ihre Haupt­figur, der Inge Viett sehr nahe?

Schlön­dorff: Da ist sie ihr sehr nahe. Natürlich ging das nicht so Knall auf Fall wie im Film: Direkt nach dem Schuss auf den Poli­zisten in Paris der Ausstieg. Die hat sich noch ein gutes Jahr, andert­halb Jahre in Syrien mit den Paläs­ti­nenser rumge­trieben, hat diese Macho-Gesell­schaft nicht ertragen, und ist dann frei­willig nach­ge­kommen.
Wir hatten zuerst ein sehr doku­men­ta­risch geschrie­benes Drehbuch über das Leben der Susanne Albrecht. Wie sie da als Hanseaten-Tochter reinkommt, wie das alles passiert ist. Wenn man so will, wie die Jungfrau zum Kind. Das war aber eine passive Heldin. Was ein Wider­spruch in sich ist.

artechock: Die Albrecht wusste vorher auch gar nichts von der Ponto-Aktion?

Schlön­dorff: Nein, sie wusste: die gehen da mit den Waffen rein, aber das die auf einmal losbal­lern, damit hatte sie nicht gerechnet. Also der Satz: »Es sollte nichts passieren«, den jetzt wieder unsere Rita nach der Gefäng­nis­be­freiung sagt, entspricht ihrer Haltung, dieser Naivität.
Insofern ist der fertige Film jetzt zum Schluß eine Erfindung, der sich der Elemente bedient. Wie jede Literatur vom Werther bis sonst wohin, oder bei Dosto­jewski.

Nicht weniger wichtig sind aber die Erfah­rungen der Rita in der DDR. Auch da geht es mir nicht um Ideologie, sondern um die Menschen in der DDR. Und was mir heute noch sympa­thisch ist an den Menschen in der DDR, das ist, das die in einem ausge­spro­chen schlechten Staats­wesen trotzdem versucht haben, als Menschen zurecht zu kommen. Das macht sie einfach sympa­thisch nicht die Über­zeugten – um Gottes Willen. Sondern das die ganz normalen Leute einfach mit der List die das Volk auszeichnet, irgendwie mit ihrem Staat fertig werden – egal wie ungerecht oder wie unvoll­kommen der ist, wie verlogen in seinen Parolen. Aber jeder Einzelne hat doch versucht, seine Würde zu wahren, sich nicht einver­nehmen zu lassen. Das ist ja eine gewisse Qualität, weil es Bewusst­sein voraus­setzt. Und das ist die Haltung, die mir gefällt. Die sagen: Ich erwarte mir von keinem Staats­wesen mehr das Heil der Mensch­heit – und auch nicht von der Markt­wirt­schaft. Diese Skepsis den Ideo­lo­gien gegenüber, die ist ihnen ja geblieben. Das muß man nicht belächeln.

artechock: Das ist ja auch eine poli­ti­sche Haltung...

Schlön­dorff: Ganz klar. Und das war es, das ich in den wenigen Begeg­nungen der Rita zeigen wollte. Wir zeigen ja nie, wie der Staat funk­tio­niert, oder die Stasi, sondern die Begegnung mit Menschen. Daran kann man viel mehr ablesen. Das sind Begeg­nungen, die wir alle nicht gehabt haben, wir sind ja wirklich nur durch­ge­reist.
Und das sie nach den ganzen Jahren der Verfol­gung sich darauf einläßt – es wird irgend­wann 'mal ange­deutet, dass sie auch aus einer kaputten Familie kommt: Die Mutter ist mit 40 gestorben, der Vater wird gar nicht erwähnt –, dass sie sich da wohl fühlt, ist bemer­kens­wert. Eine Welt in der es diese Verfol­gung nicht gibt, aber auch nicht diesen Konsum­terror, wo nicht das Mate­ri­elle alles bestimmt, in der eine gewisse spar­ta­ni­sche Lebens­weise vorherrscht. Sie fühlt sich wohl. Und das verwech­selt sie natürlich dann, als es untergeht da sagt sie dann: »Das kann doch nicht das Ende sein«. Wobei sie zugleich spürt: Das ist auf jeden Fall das Ende. Wogegen die Rike – sprich Susanne Albrecht, die da von der Jenny Schily gespielt wird, die ja damit auch aus Bürger­kreisen kommt, von der Besetzung her – die empfindet das natürlich als die große Erleich­te­rung. Die wird sich wahr­schein­lich zwei Monate später scheiden lassen von ihrem Chor­leiter, und mit ihrem Kind rüber­ziehen.

artechock: Aber sie wird erst einmal inhaf­tiert werden, nicht, Susanne Albrecht ist glaube ich auch erst einmal mehrere Jahre in Haft gewesen.

Schlön­dorff: Das ist klar.

artechock: Haben Sie eigent­lich Kontakt zu Ex-RAF-Mitglie­dern?

Schlön­dorff: Nein, überhaupt nicht. Gar nicht mehr. Ich hab den auch nicht mehr gesucht. Ich habe diese Besuche auch bewusst vom Wolfgang machen lassen. Denn die sind ja alle jetzt über 50, und ich wollte für den Film lieber das Bild der End-Zwan­zig­jäh­rigen im Kopf behalten. Aber im Zuge der Recher­chen – es gibt ja das Spiegel-Archiv, und Stefan Aust mit seinen Büchern und Kontakten – haben wir buchs­täb­lich mit jedem gespro­chen, bis hin zu Leuten im Betrieb, wo die waren, um uns ein Bild zu machen.

Denn erst dann kann man frei erfinden, wenn man die Sicher­heit hat: Ich kenne den doku­men­ta­ri­schen Teil jetzt so gut, dass ich mich traue, zu erfinden. Als das in Hamburg vorge­führt wurde, habe ich den Stefan Aust angerufen, und er hatte gerade Zeit, und kam später heraus und sagte: »Es stimmt so genau, und trotzdem glaubt man kein Wort. Genauso ist es gewesen, der General war der General Neubert, der sieht dem sogar ähnlich« – das hab ich nicht gewusst, da hab ich mich nie drum gekümmert.
Der den der Martin Wuttke spielt, der war nur noch jovialer und herbergs­va­ter­mäßig...

artechock: Der hat im Film etwas Dämo­ni­sches...

Schlön­dorff: Ja, wenn der schon so sympa­thisch ist, wollte ich ihn wenigs­tens mit einem Schau­spieler besetzen, der sonst den Bösewicht spielt. Damit man nicht verharm­lost wird. Zudem wissen wir, dass er in seiner Funktion auch ganz anders sein kann.
Jeden­falls hat mir der Stefan – der auch sehr hart umspringen kann mit mir, wir kennen uns ja seit Ewig­keiten, und haben damals Der Kandidat über Strauß gemeinsam gemacht und Deutsch­land im Herbst, diese Filme – er sagt: »es stimmt im kleinsten Detail, ich erkenne alles wieder, und trotzdem sitze ich da und denke: Das kann doch nicht wahr sein.«

artechock: Mir – ich kenne das ja nicht aus eigenem Erleben – ging es so, dass ich manches sehr ironi­sie­rend fand – etwa diese poli­ti­schen Gespräche am Anfang des Films in Paris...

Schlön­dorff: Ja das ist aber auch ironi­sie­rend. Das ist eine stilis­ti­sche Entschei­dung: Der Bankü­ber­fall ist wie Kasperl­theater insze­niert, das weiß ich auch, dass das nicht ganz so abge­laufen ist. Dass die auch Angst hatten, oder so was.
Aber ich dachte, als Einstieg mit dem Zusatz »Das waren die heiteren Jahre« – das ist eine Stilfrage. Wenn ich Musiker wäre, hätte ich ein Scherzo davor gesetzt: Nicht ganz ernst genommen, das sieht ja wohl jeder, dass man das nicht ganz ernst meint.

Aber es gibt dann andere Momente, wo plötzlich die Kamera zum Still­stand kommt und man Ruhe hat. Und diese Ausein­an­der­set­zung in Paris – natürlich: In der Verkür­zung wirkt die immer absurd. Wir haben es nicht darauf angelegt, die schlimmsten Sätze zu nehmen oder so was. Wir haben im Gegenteil versucht, moderat zu bleiben.
Aber das entlarvt sich selbst. Ich weiß überhaupt bis heute nicht – übrigens: in der Bleierne Zeit spielt der Luc Bondy so 'ne Szene, wo er da als Terrorist reinkommt, und solche Sprüche ablässt. Das sollte auch sehr über­zeu­gend sein und ist voll­kommen lächer­lich – ich kenne bis heute keinen Fall wo das wirklich glaub­würdig ist. Aber ich würde 'mal sagen: Im Gegensatz zu Breloers Todes­spiel werden sie trotzdem nicht denun­ziert. Man sieht einfach: Das ist ein armer Haufen. Und als es an die persön­liche Ausein­an­der­set­zung geht, und die sich vorwerfen: Du fickst rum, und Du trägst Desi­gner­jeans, und Du fährst 'ne Honda – da ist es am wahr­haf­tigsten. Das kann ich mir auch sehr gut vorstellen, dass das so läuft. Und dass das natürlich ein Psycho­terror ist. Die waren ja nur maximal zwölf Leute, alle sehr jung, und mit ihren Bedürf­nissen, und die Part­ner­wahl konnte nur innerhalb der Gruppe statt­finden und der Part­ner­wechsel auch. Nach draußen gabs keine Kontakte. Dass das in 'ner Psycho­kiste endet, das kann jeder Psycho­loge nach­weisen.

artechock: Da muss man kein Psycho­loge sein. Was würden Sie sagen, auch dem Jüngeren, der Ihnen gegenüber sitzt, was bleibt von der RAF? Was ist es, dass man heute damit anfangen kann und mit dem Ansatz einer radikalen poli­ti­schen Verän­de­rung?

Schlön­dorff: Also ich finde, das erste ist: Es muss einem sehr fremd sein. Es ist nur in der damaligen Zeit denkbar gewesen, nur in dem Umfeld der Sprüche, die damals beinahe Gemeingut waren, konnten die ihren Dialog auf diese Sprüche verkürzen. Auch ihre Vorstel­lung, dass man das Unrecht in der Welt auf einen Schlag mit einem kleinen Grüppchen abschaffen kann. Allein die Vorstel­lung, dass so ein Grüppchen einen mächtigen NATO-Staat aushebeln könnte, von den Verbün­deten ganz zu schweigen, ist nur in der damaligen Zeit denkbar gewesen. Und das haben damals sehr kluge Leute gedacht.
Das erste, was man wirklich fest­stellen kann: Das ist eine Sache, die sich mit der damaligen Zeit überholt hat, und insofern auch nicht weiter­wirken kann.

artechock: Nur als Einschub: Was sind denn heute die klugen Sprüche, die uns in 20, 30 Jahren lächer­lich vorkommen werden?

Schlön­dorff: Nun ganz bestimmt viel von dem Karrie­re­denken, dem Traum der ewigen Jugend, und das Glück aus dem Internet. Wie sich überhaupt eine gesamte Zivi­li­sa­tion aus dem Internet berau­schen kann, das wird einem spätes­tens in 15 Jahren wie eine Verirrung vorkommen.

Aber das ist etwas anderes: Ja, warum dann überhaupt so eine Geschichte erzählen? Es ist wie es bei Kleist von seinem „Michael Kohlhaas“ gesagt wird: Einer der beein­dru­ckendsten und entsetz­lichsten Menschen zugleich. Das heißt es gibt Leute, die so eine altru­is­ti­sche Ader haben – man kann es auch Idea­lismus nennen – die sind dann glaube ich doch die Hefe der Mensch­heit. Die scheitern oft, aber ande­rer­seits: Alle ihre Ansätze zusammen bewirken dann eben doch, dass wir dran glauben, dass eben die Mensch­heit sich bessert.

So einen zu beschreiben, ist immer wieder inter­es­sant. Und das die scheitern liegt auch in der Natur dieser Sache. Aber dass sie auch im Scheitern nie zu Kreuze kriechen, und nie bedauern, was sie gemacht haben, das gehört auch zu dieser Art Charakter. Man kann sagen: sie sind unein­sichtig. Man kann aber auch sagen: Sie sind unge­bro­chen.
Der aufrechte Gang war auch ein Slogan im Westen. Natürlich ist das auch ein jugend­li­ches Phänomen. Klar gibt es immer wieder diese Haltung. Deshalb ist es eine schöne Haltung. Das sind die erzäh­lens­werten Biogra­phien für mich.

artechock: Ist es auch erzäh­lens­wert, an diesem Anspruch einer radikalen poli­ti­schen Verän­de­rung fest­zu­halten?

Schlön­dorff: Glaube ich nicht. In den schlimmsten Fällen führt das dann zu Funda­men­ta­lismus reli­giöser Art. Also: Ich glaube überhaupt, das durch den Radi­ka­lismus nie etwas Gutes geschehen kann. Ich glaube mehr an so eine prak­ti­sche moderate Demo­kratie wie die ameri­ka­ni­sche: Ablösung durch Wahlen. Wo man aber auch weiß: es kommt auf Indi­vi­duen an. Ich habe da eine hoff­nungslos huma­nis­tisch indi­vi­dua­lis­ti­sche Einstel­lung. Die jeden­falls verirren sich nie ganz. Das ist ein positives Mittelmaß. Und sie erwarten sich nie so viel von der Politik und den Poli­ti­kern. Ich glaube, das ist sogar das Wich­tigste. Sie merken, meine poli­ti­sche Über­zeu­gung ist noch nicht 'mal mehr eine linke.

artechock: Ja, es wundert mich, dass sie da so milde sind.

Schlön­dorff: Ja, aber an eine Revo­lu­tion, eine Plan­wirt­schaft, an die Diktatur einer Partei – da habe ich mal dran geglaubt, aber das glaube ich nicht mehr. Dafür sind die Gegen­be­weise zu erdrü­ckend. Es geht nur ganz schritt­weise. Und ohne den enormen Einsatz des Einzelnen geht gar nichts.

artechock: Kann Film etwas leisten?

Schlön­dorff: Da hab ich übrigens noch nie dran geglaubt...

artechock: Aber Sie haben poli­ti­sche Filme gemacht, im Gegensatz zu vielen anderen...

Schlön­dorff: Aber wenn Sie so wollen, da muss man doch mal ehrlich sein: Diese poli­ti­schen Filme, die predigten zu Über­zeugten. Und das ist auch wichtig. Man muss den Über­zeugten Mut machen. Die anderen erreiche ich sowieso nicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich durch einen soge­nannten „poli­ti­schen Film“ Anders­den­kende bekehre. Aber sich in den eigenen Reihen Mut zu machen – so wie ich einen Roman von Böll oder Text von Marcuse lese. Natürlich entdecke ich etwas, aber ich fühle mich oft auch bestätigt in etwas, was ich unklar empfunden habe. Und insofern gehören poli­ti­sche Filme natürlich zur Bewusst­seins­bil­dung.

artechock: Sie sind aber heute selten.

Schlön­dorff: Ja natürlich. Es kann heute keinen poli­ti­schen Film in dem Sinne geben, als es keine poli­ti­schen Ideen gibt.
Es kann jemand einen Film machen gegen das Töten von Seerobben oder Ölpipe­lines in Afrika, und über Menschen­rechts­ver­let­zungen – also über konkrete Zustände. Aber man kann es nicht mehr im Namen einer Ideologie machen, nur im Namen einer allge­meinen Frei­heits­suche des Menschen. Im Grunde sind wir wieder zurück­ge­worfen auf den Anfang des 19.Jahr­hun­derts: Schiller: »Geben Sie Gedan­ken­frei­heit.« Aber immerhin um die Erfahrung berei­chert, dass die tota­li­täre Ideologie nicht die Lösung ist. Dagegen ist die Mensch­heit jetzt auf absehbare Zeit immun. Das ist ja auch was.

artechock: Sie glauben, es ginge ganz ohne poli­ti­sche Utopie?

Schlön­dorff: Ich kann mir es mir nicht vorstellen. Aber ich weiß nicht, wo die nächste herkommen soll.

artechock: Und wie geht man gegen extre­mis­ti­sche Heraus­for­de­rungen vor, etwa die Neonazis zur Zeit?

Schlön­dorff: Mit denen ist schon die Weimarer Republik nicht fertig geworden.

artechock: Aber es fragt sich, wie man gegen die vorgeht.

Schlön­dorff: Ich glaub nur mit Law and Order [Lacht]. Auch das ist eine erstaun­liche Erfahrung, dass man da hin kommt. Aber ich glaube, das Aller­wich­tigste ist einfach: Wenn einer dem Anderen in die Fresse haut, dann gehört er erst mal dafür bestraft. Und zwar nicht mit 'nem Prozeß in 12 Monaten und dann 3 Wochen auf Bewährung, sondern wie bei Guiliani in New York: Auf der Stelle. Das kommt mir zum eigenen Erschre­cken so über die Lippen.
Dagegen reduziert sich das bei uns auf diese Plakate mit Günter Jauch und anderen – aber die featuren nur sich selbst, für mich kommt das nicht in Frage.

artechock: Können Sie sich denn vorstellen, in 20 Jahren einen Film über die Neonazis zu drehen, einen Neonazi in ähnlicher Weise zu vermensch­li­chen, wie jetzt ein RAF-Mitglied?

Schlön­dorff: Das ist eben sehr schwer. Ich hab in Hoyers­werda sehr lang mit einem US-Jour­na­listen recher­chiert. Der hat darüber in „Esquire“ geschrieben, fast 40 Seiten, so wie die Ameri­kaner das dann machen – inves­ti­ga­tive jour­na­lism. Daraus ist dann das Drehbuch für den Film mit Edward Norton geworden, American History X. Erinnern Sie sich an das Knacken des Kopfes da am Bürger­steig – das kommt alles aus Hoyers­werda. Da sieht man es aber auch: Obwohl der Film sehr stark ist, hat er seine Grenzen.
Ich kann es nicht anders sagen: Für die Linken, auch die Gewalt­tä­tigen, die ich gekannt habe, für die konnte ich mehr empfinden, mensch­lich, als für manche von diesen Rechten, bei denen ich das Gefühl habe, das sind in erster Linie sadis­ti­sche Schläger und in zweiter Linie ordnen sie sich ein. Aber der Sadismus ist zuerst da. Und das ist schon ein erheb­li­cher Unter­schied. Weshalb man mit denen auch sehr schwer argu­men­tieren kann. Man kommt da gar nicht 'ran. Die haben auch ein Brett vorm Kopf.

Leider ist der Rechts­ra­di­ka­lismus mit seiner Frem­den­feind­lich­keit in Deutsch­land eine Grund­ten­denz. Ich komme sehr viel herum, und sie begegnen dem immer wieder: Wozu brauchen wir überhaupt Ausländer? Anti­se­mi­tismus, das sitzt so tief, und auch in den „aller­besten Kreisen“. Das ist einfach ein Urübel in der deutschen Gesell­schaft, und das drücken diese Rechts­ra­di­kalen im Grunde aus.
Deswegen ist gerade diese Einwan­der­erde­batte ganz wichtig. Wir müssen einfach begreifen, dass jeder Einwan­derer eine Berei­che­rung ist. Das muss Allge­meingut werden.