»Eine epische Reise der Improvisation« |
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Tamer el Said | ||
(Foto: Axel Timo Purr) |
Das Gespräch führte Axel Timo Purr
Autorenfilme aus Ägypten sieht man in Deutschland selten. Um so überraschender ist deshalb das bei der Berlinale 2016 mit dem „Caligari-Preis“ und zahlreichen anderen Preisen ausgezeichnete Debüt des ägyptischen Regisseurs Tamer El Said, das nun endlich auch in den deutschen Kinos anläuft. In den letzten Tagen der Stadt verbindet Fiktion mit Dokumentarischem und ist ein ambivalentes, poetisches Porträt Kairos und der Beziehung der Einwohner zu ihrer Stadt. Saids Film wirft aber auch Fragen nach der Identität arabischer Kultur und Politik auf und eröffnet einen Diskurs jenseits der westlichen Perspektive und der üblichen Kontextualisierungen arabischer Kultur mit Terrornetzwerken und eines unbelehrbaren Islams.
artechock: Das ist ihr erster Film und ein Film, der in Ägypten normalerweise nicht finanziert werden würde. Wie haben Sie das dennoch geschafft?
Tamer el Said: Das ist richtig. Weil es ein Independent-Film ist. Hier in Deutschland, in Europa, werden unabhängige Filme staatlich unterstützt, um die kulturelle Identität und den Diskurs darüber zu fördern. In Ägypten und den arabischen Anrainerstaaten ist das völlig anders. Hier erhalten unabhängige Filmemacher keine Unterstützung von irgendwem. Und weil sie unabhängig vom kommerziellen Filmbetrieb sind, bedeutet das auch gleichzeitig, dass sie in Opposition zum Staat stehen. Denn der Staat hat hier eine ganz klare Idee davon, wie Filme aussehen sollen und müssen und nicht selten erinnert das wirklich an Gehirnwäsche. Kritische Fragen werden grundsätzlich als gefährlich gewertet. Für konforme Mainstream-Filme gibt es in Ägypten deshalb tatsächlich eine staatliche Filmförderung, für Leute wie mich ist das völlig ausgeschlossen. Das hieß, dass ich mich an internationale Produktionsgesellschaften und Förderprogramme wenden musste. Was natürlich völlig grotesk ist: Ägypten ist die größte Industrienation der Region und die Filmindustrie produziert in ihren besten Jahren 40-50 Filme und dann ist da noch die riesige Fernsehlandschaft – lange Zeit war jeder arabische Film selbstverständlich auch ein ägyptischer Film. Und dann komme ich aus Ägypten und verlange in Ländern nach einer Förderung, die nur einen Bruchteil von dem produzieren, was Ägypten jährlich ausstößt! Sehen Sie sich allein die Schweiz an, die nur 8-10 Filme jährlich produziert. Wäre ich Tunesier oder Libanese, wäre das natürlich etwas anderes. Aber ein Ägypter aus der Wiege des arabischen Films?! Und dabei sind natürlich noch gar nicht die vielen anderen Probleme berücksichtigt: weil Film in Ägypten eine rein kommerzielle Angelegenheit ist, sind die Preise für Equipment und Schauspieler hoch, ist es in diesem Umfeld natürlich schwer überhaupt zu vermitteln, warum man denn einen ganz anderen Film als einen kommerziellen Film drehen will. Es gibt kein Produktionsmodell für unabhängige „Arthouse“-Filme. Das sind tief verankerte Pattern, die zu ändern oder in Frage zu stellen, ist wirklich schwer. Für mich stand also ein Produktionsmodell im Vordergrund, dass den Inhalt des Films unangetastet lässt. Das hatte zur Folge, dass ich in Ägypten keinen Produzenten fand, der dieses Risiko eingehen wollte. Allein schon der schwer nacherzählbare, poetische Plot des Films war ein Problem. Aber auch im Ausland war das schwer. Ein Verantwortlicher von arte etwa sagte mir: wäre das dein vierter Film, würde ich ja sagen, aber dieses Konzept umzusetzen, braucht Erfahrung, das ist mir zu riskant für einen Debütfilm. Also habe ich einfach angefangen. Ein Jahr an dem Skript gearbeitet und die ganze Zeit Mitstreiter gesucht, eine Infrastruktur aufgebaut, die es mir erlaubt, den Film zu realisieren. Wenn ich das mal in Zahlen ausdrücken darf: 95% meiner Zeit und meiner Mühe gingen für diesen Aufbau einer Infrastruktur drauf, der kleine Rest war die eigentliche Arbeit am Film. Am Ende stammten 15% des Budgets aus fremdfinanzierten Mitteln, der Rest aus meinen eigenen Ersparnissen. Und es war immer ein Springen, gegen die Empfehlung anderer, die mir gesagt hatten: beginne erst mit dem Dreh, wenn die Finanzierung steht. Ich habe es in Abschnitten erledigt. Das war vielleicht die falsche Entscheidung, aber wer weiß, was gewesen wäre, wenn wir es anders gemacht hätten.
artechock: Bedeutet das, dass sie mit dem fertigen Film nicht wirklich zufrieden sind?
el Said: Nein, das nicht. Aber statt drei Monate Shooting brauchten wir halt zwei Jahre für den Dreh. Wir begannen Anfang 2009 und schlossen Ende 2010 ab, ein paar Wochen vor der Frühlingsrevolution. Und das ging dann so: Drehen, nach Finanzierung suchen, Drehen, mit dem gedrehten Material nach Finanzierung suchen usw.. Eine epische Reise der Improvisation. Die schlimmste und gleichzeitig die schönste Zeit meines Lebens. Über Jahre hatte ich das Gefühl durch eine endlose Wüste bei Nacht zu laufen, mit lauter Leuten hinter mir, ohne genau zu wissen, wohin es geht, wo sich die Oase befindet, die wir unbedingt brauchten. Und auf all die Fragen, die natürlich aufkamen, ob ich wirklich weiß, wo es lang geht, musste ich lernen zu lügen, viel zu lügen. Weil es auch diesen Ehrenkodex in der Filmindustrie gibt, der besagt, dass der Filmemacher immer alles weiß. Und das ging und geht mir gegen den Strich und auch das habe ich versucht zu ändern, weil ich merke, dass ich eigentlich erst im Prozess mit den anderen und mit dem Material kreativ werde und das erreiche, was ich im Kopf habe.
artechock: Da die Postproduktion so langwierig war – es sind ja fast sieben Jahre seit dem Dreh vergangen – wäre der Film, würden Sie ihn heute drehen, ein anderer? Ist Kairo heute eine andere Stadt als damals? Wenn ich Bilder aus ihrem Film sehe, wie die großartige, morgendliche Fahrt durch Downtown Kairo, die Mohammed Farid Street entlang, an der Pension Roma vorbei, scheint alles beim Alten. Ein paar Häuser werden gerade renoviert. Aber die Panzer sind verschwunden, die Reformen eingeschlafen, als ob alles nur ein Traum gewesen ist.
el Said: Ja, ich weiß, was sie meinen, das ist gleich bei meinem Büro. Aber statt sie zu renovieren, zerstören sie die Häuser, nehmen ihnen den Charakter. Aber zurück zu Ihrer Frage: wäre der Film heute ein anderer? Einer meiner Hauptziele für diesen Film war es, die Magie des Ortes, die Schattenlinie unter dem Licht in meinen Film zu inkorporieren und mich selbst besser zu verstehen, auch meine Beziehung zu Kairo, und meine Schwächen sollten dabei nicht ausgenommen werden.
artechock: Also trägt der Film auch starke autobiografische Züge, können wir vom Hauptprotagonisten als ihrem Alter ego sprechen?
el Said: Nein, keinesfalls. Wir wissen ja im Grunde nur sehr wenig über Khaled und nichts in dem Film erzählt wirklich etwas über mein Leben, meine Probleme, meine Kämpfe. Es ist vielleicht ein persönlicher Film, aber keine Autobiografie. Es ist am ehesten ein Porträt über eine Stadt, über eine schöne Stadt, die ein Porträt verdient hat, es aber bislang noch nicht bekommen hat. Und natürlich ein Porträt der Beziehungen von Menschen zu dieser Stadt, Beziehungen die mal schön, dann aber wieder auch sehr schwer und kompliziert sind. So, wie in vielleicht jeder wirklich großen Stadt. Auch New York hat diese Widersprüche. Es hat ein wenig etwas von einer masochistischen Liebesbeziehung. Die Stadt zeigt Dir dann und wann eine Ahnung von ihrer Schönheit, nur um sie im nächsten Moment wieder zu verbergen. Und dann war da natürlich im Kern immer diese Idee, die Hoffnung zu zeigen, die Hoffnung, dass sich bald irgendetwas ganz Wichtiges ändert. Und gleichzeitig hatten wir auch Angst davor, Angst vor einem Neuanfang, Angst vor dem Ende, obwohl das Regime unter Mubarak offensichtlich am Ende war. Und auch diesen Moment wollte ich zeigen. Und weil es diese Momente waren, ist daraus auch dieser Film geworden, der heute mit Sicherheit ein anderer wäre, würde ich heute von vorne anfangen. Und wir haben natürlich viel antizipiert: erinnern Sie sich an die Szene, die die Freunde auf dem Dach über dem Tahrir Square zeigt – da konnte keiner von uns wissen, dass ein Jahr später der Tahrir zum Symbol der Revolution werden würde. Dabei half uns natürlich, dass ich Politik nicht en Detail, sondern nur das Gefühl dieser zwei Jahre vor der Revolution schildern wollte. Das war dann später auch wie ein Paradox. Denn während ich die Jahre nach dem Dreh an den 250 Stunden Film schnitt und jeden Tag durch die Straßen ging, in denen ich gedreht hatte, fragte ich mich natürlich auch ständig: hat sich wirklich etwas geändert, ändert sich hier was, wird sich noch etwas ändern. Und die Frage lässt sich einfach nicht eindeutig beantworten. Der Film funktioniert heute eher wie ein Echo und mit jedem Jahr scheint sich dieses Echo zu verstärken, so dass ich glaube, dass der Film heute relevanter ist als damals, als er gedreht wurde, Anfang 2009. Das ist sch ön und es ist traurig.
artechock: Das erinnert mich an den letzten Freitag, als ich durch Downtown ging: ein Filmteam drehte vor dem Gericht, während 50 Meter davon entfernt der Verkehr zum Erliegen kam, weil in allen Hinterhöfen und Häusern die Menschen ihr Freitagsgebet praktizierten. Dieser völlig unbegreifliche Kontrast der Welten.
el Said: Ganz genau – wir leben in einem ganzen Set von extremen Kontrast, von denen das bedeutenste weiterhin dieses doppelte, duale System aus Politik und Glauben ist. Wir haben zum einen eine moderne nationalistische Diktatur und gleich daneben eine sehr traditionelles religiöses System. Und genauso wie 2009 gibt es auch keinen dritten Weg, gibt es nur dieses duale System, und für eine Seite muss sich jeder entscheiden.. Und beide Systeme bekämpfen sich, können aber gleichzeitig nicht ohne den anderen. Und das ist auch Teil dieses Echo meines Films, es verstärkt genau diese Gegenwart.
artechock: Was mich vor allem an In den letzten Tagen der Stadt beeindruckt, ist nicht nur seine Poesie, sondern auch das Narrativ über arabische Identität und Kultur, die im Westen fast nur noch mit Terrornetzwerken und einem unbelehrbaren Islam kontextualisiert wird. Auch hier gibt es Widersprüche. Auf der einen Seite verstehen sich die Freunde aus unterschiedlichen Nationen in ihrem Film über ihre Nationalität hinaus, auf der anderen Seite gibt es fanatischen Hass, ich denke da an die Szenen, die das legendäre Fußballqualifikationspiel zwischen Ägypten und Algerien thematisieren. Gibt es also eine arabische Identität, ist Sprache genug, um einen nationenübergreifenden Kulturkreis zu definieren?
el Said: Ich mag diese Identitätsgeschichte im Grunde gar nicht. Weil sie so limitiert, weil sie vorausgesetzt wird, weil wir sie uns nicht aussuchen können. Wir wurden ja alle mit dieser große Idee des panarabischen Gedankens groß gezogen, die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Religion, die gemeinsame Kultur. Was hier in Ägypten natürlich immer auch einen gehörigen Chauvinismus beinhaltet, nämlich das uns, wenn es um das Panarabische geht, die Führungsrolle zusteht, das wir besser als die anderen sind. Das mag ich überhaupt nicht. Denn wir sind es nicht. Aber so sind wir sozialisiert worden und das macht diesen irren Widerspruch aus: zum einen vertieft diese Sozialisierung überregionale Freundschaften, zum anderen führt es zu solcher Gewalt wie bei dem Fußballspiel. Und das gibt es nicht nur um Fußball, sondern auch in der Kultur. Und die Freunde im Film zeigen genau das: sie sind Freunde in Ländern, die alle an dem gleichen Dualismus kranken, den ich vorhin erwähnt habe. Der Film zeigt, dass es die Grenzen weder im Guten noch im Schlechten gibt, so wie er auch die Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm aufhebt.
artechock: Ihr Film hat zahlreiche Preise gewonnen und ist inzwischen in Berlin angelaufen und nun auch in München. Wie geht es Ihnen damit?
el Said: Trotz der Preise war es lange Zeit sehr ernüchternd. Ich habe den Caligari-Preis in Berlin gewonnen, der Film wurde erfolgreich in New York gezeigt, auch im MOMA, im größten Saal, der ausverkauft war und einem Q & A, das zwei Stunden dauerte und mit einer Frau aus Bukarest, die der Film an ihre Stadt, an die Situation Bukarests erinnerte und ihre Situation, als sie im Exil in New York lebte. Ich konnte also sehen, dass die Leute den Film mochten, dass er überregional funktioniert, aber da Ägypten inzwischen kaum mehr von den Medien wahrgenommen wird, haben wir keinen Verleih gefunden. Ich hatte das Gefühl, dass der Film nicht mehr lebt. Un diese Entwicklung setzte sich fort. Am bittersten war es für mich, dass ich meinen Film nicht im eigenen Land zeigen konnte. Obwohl bei zwei ägyptischen Filmfestivals eingeladen, wurde er kurz vor Start der Festivals wieder ausgeladen. Man kann sich vorstellen, wer dahinter stand.
artechock: Um welche Festivals handelte es sich da?
el Said: Das „Cairo International Film Festival“ gab im September 2016 bekannt, dass es den Film im internationalen Wettbewerb starten lassen würde. Aber ein paar Wochen vor der Eröffnung des Festivals im November 2016 gaben sie bekannt, dass sie den Film zurückziehen würden, weil er bereits auf zu vielen Festivals gezeigt worden sei. Das Groteske daran ist, dass sie mich im Vorfeld gebeten hatten, die arabischsprachige Premiere des Films übernehmen zu dürfen, worauf ich die Einladungen anderer Festivals aus der Region wie das in Karthago oder Dubai ausschlug. Ich machte das natürlich, um den Film zum ersten Mal in der Stadt zu zeigen, um die es in dem Film auch geht. Das war wirklich ein Skandal, es gab dann sogar eine von 1200 Cineasten aus 56 Ländern unterzeichnete Petition, die von Filmemachern wie Costa Gavras, Volker Schlöndorff, Jean-Pierre Dardenne, Béla Tarr, Guy Maddin, Danis Tanovic und vielen anderen unterzeichnet wurde. Natürlich wussten alle, dass der Staat seine Fäden im Hintergrund zog und ein paar Monate später passierte dann das gleiche auf dem Sharm Al Shiekh Film Festival. Auch hier wurde der Film für den internationalen Wettbewerb eingeladen und genauso wie in Kairo wurde der Film ein paar Wochen vor dem Festivalstart im Februar 2017 wieder ausgeladen. Unsere Mutmaßungen wurden dann durch das Verhalten der Zensurbehörde bestätigt. Bis heute, also zehn Monate, nachdem wir den Antrag eingereicht haben, haben wir weder ein Ja noch ein Nein von der Behörde erhalten. Normalerweise dauert sowas ein paar Tage, maximal eine Woche.
artechock: Haben Sie versucht den Film in Privatvorstellungen in Ägypten zu zeigen?
el Said: Das würde nicht nur die Menschen, sondern auch den Veranstaltungsort einem hohen Risiko aussetzen.
artechock: Da kommt es Ihnen ja gelegen, dass sie inzwischen ihren Hauptwohnsitz nicht mehr nur in Kairo haben…
el Said: Oh ja, ich pendele zwischen Kairo und Berlin, da ich inzwischen einen kleinen Sohn in Berlin habe und das ist wirklich die allerbeste Sache der Welt!
artechock: Haben Sie trotz ihrer Ernüchterung und Zweifel bzgl. des Filmgeschäfts wieder Zutrauen gefasst, arbeiten Sie an einem neuen Film?
el Said: Das hat lange gebraucht, sehr lange, bis ich mich an ein neues Projekt herantraute. Es war ja im Grunde so: als der Film fertig war, schien sich alles ins Gegenteil zu verkehren. Statt ein neues Filmprojekt anzugehen, dachte ich ans Aufhören, an einen ganz neuen Beruf. Statt Gelder für den fertigen Film zu bekommen, war ich pleite. Aber irgendwann habe ich mir gesagt: ich habe so viel durch In den letzten Tagen der Stadt gelernt, ich sollte jetzt einfach das, was ich gelernt habe, versuchen anzuwenden.