»Ich wollte keinen Film machen, der nur jammert« |
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Weggetreten, und doch da | ||
(Foto: Movienet) |
Marta (Isabella Ragonese) hat die größten Denker des Abendlands studiert. Hat dafür von ihren Professoren sogar Umarmung und Küsschen bekommen. Aber das Abendland ist auch nicht mehr, was es mal war: Für die junge, hochqualifizierte Philosophiestudentin hat es grad noch einen Brotjob-Platz im Callcenter.
Aus dieser Ausgangssituation macht Tutta la vita davanti
allerdings kein zerknirschtes Sozialdrama, sondern eine bunte, märchenhafte, musikalische, schlaue Komödie. Der Film ist eines der begeisterndsten Hoffnungszeichen für einen dringend nötigen, frischen Wind im italienischen Kino.
Mit dem Regisseur Paolo Virzì sprach Thomas Willmann.
artechock: Wenn jemand aus einem Callcenter Sie anruft, wie reagieren Sie?
Paolo Virzì: (Lacht.) Früher habe ich manchmal übelgelaunt reagiert. Seit ich den Film gemacht habe, versuche ich mit dem Typen ein Gespräch zu führen. Wie alt sind sie? Wieviel verdienen sie in dem Job? Und die sind dann oft verwirrt. (Lacht.)
artechock: Wie kamen Sie zu dem Thema dieses Films?
Virzì: Mich haben schon immer Geschichten aus der Welt der Arbeiter interessiert. Mein erster Spielfilm handelte von der Geschichte einer kleinen Familie während der Krise der Metallindustrie in einer kleinen Industriestadt in der Nähe von Livorno. Es war ein Film über das traditionelle System der Arbeit in einer Fabrik.
Ich und mein Co-Autor Francesco Bruni fragten uns, wie sich diese Welt verändert hat. Wir begannen mit einer Recherche über die Möglichkeit der jungen Generation heute, einen Job zu finden. Und wir fanden eine Idee, die uns anregte, in einem Buch namens Il mondo deve sapere, geschrieben von einer jungen, gebildeten Uni-Absolventin, Michaela Murgia, die in einem Callcenter für ein US-Franchise-Unternehmen arbeitete, das Staubsauger verkauft. Wir waren sehr geschockt von dem geschilderten Trainings-System: Wie versucht wird, die Arbeiter jeden Morgen singen und tanzen zu lassen, wie in der japanischen Industrie der 60er. (Lacht.) Wir fanden, dass dieses System und Verhalten sehr ähnlich war wie das in gewissen Fernsehsendungen à la Big Brother, und dass diese Art der Entwürdigung wahrscheinlich deswegen akzeptiert wird, weil die jungen Männer und Frauen daran gewöhnt sind, diese Art TV-Sendungen zu schauen und sie sich selbst als Teil der Besetzung einer solchen TV-Sendung fühlen.
artechock: Kennen Sie persönlich viele junge, bestausgebildete, hochintelligente Menschen, die trotzdem keine Arbeit finden können?
Virzì: Ja. Das ist die Realität. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meiner Tochter, die 20 ist. Sie studiert das selbe wie die Hauptfigur des Films, Philosophie. (Lacht.)
Der Film wirkt wie ein Märchen. Aber er ist ein realistischer Albtraum. Er beruht völlig auf der Wirklichkeit. Jeder einzelne Satz der Chefin im Film entspricht tatsächlich dem, was laut Michaela Murgia ihre „Team-Leaderin“ zu den jungen
Angestellten dort gesagt hat. Ebenso dieses System mit den Belohnungen und dem Applaus für die erfolgreichsten Verkäufer – wie in einer „Big Brother“-Sendung.
artechock: Sie sagten schon: Der Film wirkt in gewisser Weise wie ein Märchen. Was ich an ihm großartig finde, ist eben der ungewöhnliche Tonfall.
Virzì: Der war sehr schwer zu finden. Es war mir wichtig, eine tragische Frage auf humoristische Art zu erzählen. Ich wollte keinen Film machen, der nur jammert, kein politisches Pamphlet. Ich versuchte, die apokalyptische Atmosphäre eines historischen Moments zu erzählen: Das Klima des Endes einer historischen Epoche – als eine Art bitteres Musical. Wo die Leute verrückt sind. Gestresst von dem Druck, die Zukunft zu ignorieren. Ziel des Films war, das Tragische und das Komische zu vermischen. Ich weiß nicht, ob es eine Komödie ist – es ist wohl eine dunkle Komödie.
artechock: Der Film scheint mir sehr wahrhaftig, ohne „realistisch“ im ästhetischen Sinne des Neo-Realismus zu sein...
Virzì: Er ist neo-neo-realistisch. (Lacht.) Das System, von dem wir erzählen, von der Arbeit und dem Training, basiert auf realer Recherche. Aber der Erzählstil ist anders – wir benutzen Weitwinkelobjektive, wie die Kamera bei Terry Gilliam, um diese Geschichte nicht im Stil einer Dokumentation sondern im expressionistischen Stil eines großen, tragischen Märchens zu erzählen.
artechock: Auch die Rollenverteilung von Helden und Bösewichte ist keineswegs eindeutig. Ich denke, im italienischen Kino vor zwei Generationen wäre der Typ von der Gewerkschaft immer der klare Held gewesen.
Virzì: Ja. Es gibt keine Helden. Das italienische Plakat des Films war eine Art lustige Reproduktion eines berühmten Gemäldes namens „Il quarto stato“(„Der vierte Stand“) von Pellizza da Volpedo – das ein Symbol der traditionellen Arbeiterklasse war. Wir haben versucht, dieses Gemälde zu parodieren. Indem wir da diese jungen Manager mit ihren pinken Krawatten reingemacht haben, die Chefs und die Arbeiter zusammen – als wären sie dieselben Opfer des Systems. Selbst der Chef des Callcenters im Film, Claudio, ist ein weiteres Opfer. Ich kann in einer solchen Situation nicht die Guten und die Bösen erkennen, denn sie sind alle Opfer.
artechock: Aber wenn es keine Helden gibt, gibt es auch keine klare Lösung des Problems, oder?
Virzì: Natürlich. (Lacht.) Ich weiß keine. Das gehört zur Atmosphäre dieses Moments, dass es nur die Angst vor der Zukunft gibt.
Wir müssen das System ändern, die Art des Konsumierens und Produzierens. Aber das ist eine sehr schwere Frage für einen armen, kleinen Filmemacher, der einfach nur Geschichten erzählt. (Lacht.)
artechock: Marta hat im Film ihre Theorien darüber, was Heidegger über Big Brother gesagt hat. Was, glauben Sie, hätte er wirklich davon gehalten?
Virzì: (Lacht.) Das war nur so eine Art Witz. Marta ist eine junge Philosophin, und sie transformiert das, was sie erlebt, in einer Art Metapher. Uns hat die Vorstellung Spaß gemacht, dass die Autorin einer Arbeit über „Heidegger und Arendt“ an Big Brother und dem Callcenter-System interessiert wäre, um etwas über das SEIN zu sagen.
artechock: Aber irgendwie sagt das ja tatsächlich etwas Wesentliches über zumindest unser heutiges Dasein aus – wie Ihr Film ja beweist...
Virzì: In gewisser Weise ist die Philosophie nützlich für Marta, um sich selbst zu schützen. Sie ist stärker als etwas Sonia, ihre Mitbewohnerin. Weil sie gebildet ist. Sie kann ihre dialektischen Fähigkeiten anwenden und das, was sie sieht, in eine Art platonisches Gleichnis verwandeln. Wenn der Film etwas nahelegen will, dann dass humanistische Kultur nützlich ist. (Lacht.)
artechock: Wie war die Reaktion in Italien?
Virzì: Ziemlich gut. Der Film hat eine große Diskussion angestoßen, auch politisch. Er lief ganz gut an den Kinokassen. Ich habe viele Preise bekommen. (Lacht.) Manche waren auch reichlich sauer – die Chefs vieler Callcenter etwa versuchten, mich ins Gefängnis zu bringen. (Lacht.)
artechock: Wurden Sie verklagt?
Virzì: Nein. (Lacht.) Ich wurde in Zeitungen angegriffen. Die Manager von Vodafone behaupteten, ich würde nicht die Wahrheit zeigen. (Lacht.) Nach dem Film haben auch Angestellte eines Callcenters einen Prozess gegen ihren Arbeitgeber gewonnen. Darauf waren wir sehr stolz.
artechock: Am Ende des Films steht eine Utopie: Drei Generationen vereint am Esstisch.
Virzì: Ja, die Vorstellung einer Art von Solidarität unter Frauen verschiedener Generationen: Ein kleines Mädchen, das von der Philosophie als eine Art Märchenerzählung träumt; eine junge, gebildete Frau; eine junge Mutter die keine Ahnung hat, wie ihre Zukunft aussieht, und eine alte Dame, verzweifelt wegen des Verlusts ihres Neffen, zusammen an einem Tisch mit Grillhühnchen, die ein Doris Day-Lied singen. (Lacht.)
artechock: Wo wir grade von Frauen sprechen: Wie haben Sie die wunderbare Isabella Ragonese gefunden?
Virzì: Durch eine ganze Menge Vorsprechen. Wir haben hunderte junge Schauspielerinnen gesehen. Ich wollte ein Mädchen mit einem normalen Gesicht. Sie sollte nicht berühmt sein. Ich habe dann diese junge sizilianische Schauspielerin gefunden, die zuvor im Kino nur eine kleine Rolle gespielt hatte in Nuovomondo von Emanuele Crialese –
ein sehr schöner Film über italienische Immigranten in Amerika. Dann hat sie schließlich vorgesprochen, und sie war für mich die leibhaftige Figur.
Der andere Teil der Besetzung ist in Italien ziemlich bekannt: Sabrina Ferilli, die die Teamchefin Daniela spielt, Massimo Ghini als Claudio, Valerio Mastandrea, Elio Germano – mit denen hatte ich in meinen vorherigen Filmen zusammengearbeitet. Und ich entdeckte auch Micaela Ramazzotti, die junge Schauspielerin, die Sonia
spielt. Sie war eine Fernseh-Schauspielerin, jetzt spielt sie viel im Kino.
Ich liebe diese Besetzung. Ich habe sogar eine von ihnen geheiratet! (Lacht.)
artechock: Wen?
Virzì: Micaela. (Lacht.) Ich liebe sie also auch... (Lacht.)
artechock: Ganz offensichtlich! Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.