Türkei/F/D 2009 · 110 min. Regie: Pelin Esmer Drehbuch: Pelin Esmer Kamera: Özgür Eken Darsteller: Nejat Isler, Mithat Esmer, Tayanç Ayaydin, Laçin Ceylan, Savas Akova u.a. |
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Gang durch Istanbul |
Die erste Einstellung richtet sich vom Bosporus aus auf das alte Viertel rund um den mittelalterlichen Galataturm. Der Blick der Kamera lugt von einem Fährboot aus durch den Eingang eines Bootsstegs hindurch, der zugleich wie ein Rahmen wirkt, der den Blick trapezförmig verengt. Man sieht einen alten Mann. Er steht nur noch wackelig auf den Beinen, aber man spürt seine Willenskraft, die innere Energie. Ihn begleitet man als Zuschauer nun durch sein Leben. Langsam schlurfend geht er am Wasser entlang, später durch die engen Gassen bergauf zu seiner Wohnung. Nachdem er sich ein paar Lebensmittel besorgt hat, kauft er gleich fünf Tageszeitungen: Dann geht er an Flohmarktständen vorbei, wo alte Kasettenrecorder und längst verblichene Illustrierte angeboten werden. Liebevoll betrachtet der Mann die Dinge, kauft dies und das ein. Dann geht es noch in ein Buch-Antiquariat: Bevor er nachfragen kann, kommt der Buchhändler schon, und muss ihn enttäuschen: Nein, es ist nichts da. Das von dem alten Mann, dessen Namen Mithat Bey man nun erfährt, gesuchte Buch, ist eine alte »Enzyklopädie von Istanbul«, genauer gesagt, ihr Band »10-11«, der diesem Film seinen Namen gibt.
Dann sieht man Mithat Bey in seiner Wohnung: Sie ist randvoll gestopft mit Zeitungsstapeln, auf die er immer die neugekauften ungelesenen dazulegt. Auf ausrangierten Tonbändern laufen alte Radionachrichten, wie die vom Staatsstreich 1960. Oder er hört alte Frank Sinatra-Platten. Dies alles zusammen ist Mithat Beys Sammlung – für sie lebt der alte Mann. Er ist ein Archivar seines eigenen Lebens, der Enzyklopädist des vergessenen Istanbul.
Pelin Esmers Langfilmdebüt 10 to 11 ist fürs türkische Kino in vieler Hinsicht etwas Besonderes. Es gibt, um einmal damit zu beginnen, immer noch nicht viele türkische Regisseurinnen. Filmen ist Männersache, und der Blick der Generation der knapp 50-jährigen rund um Nuri Bilge Ceylan, der zu jenen Auserwählten gehört, die im renommierten Wettbewerb von Cannes, wo er schon drei Preise gewann, einen Stammplatz haben, und um Semih Kaplanoglu, den Regisseur von Bal, dem türkischen Goldenen Berlinale-Bär von 2010, bestimmt nach wie vor Richtung wie Grenzen des türkischen Kinos: Die ersten Filmwissenschaftler schreiben an den Istanbuler Universitäten bereits Aufsätze über jene Männerfiguren dieser Filme, die dem immergleichen Muster zu folgen scheinen: störrisch-schweigsame Akademiker, die zu Frauen ein latent sadistisches Verhältnis haben, mit sich selbst und ihrer Existenz als urbane Intellektuelle hadern, und in den Filmen der Genannten ein ums andere Mal aufbrechen, um irgendwo auf dem Land »ihre Wurzeln zu finden«. Und in den Wonnen der Tradition sich selbst zu vergessen. Vor diesem Hintergrund muss man 10 to 11 verstehen.
Dies ist ein Film, der nicht auf dem Land endet, der in der Stadt spielt und Partei nimmt für Urbanität in allen Facetten: Für den Ausgleich von Gegensätzen, für Toleranz. Ein Film, der den Wert des Wissens feiert, der Neugier, der sich über die Selbstquälerei einer Figur offen mokiert. Und die Tradition, die hier gepriesen wird, ist die der kemalistischen Erziehungsrepublik – ohne dass der Film auf der anderen Seite deren osmanische Vorgeschichte verdammen würde: In einer bezeichnenden Szene besucht Mithat Bey einen alten Friedhof. Dort begegnet er einer jungen Akademikerin, der er helfen kann, weil er noch die arabischen Inschriften der Grabsteine lesen kann. Zwar ist der Film alles andere als geschwätzig, aber die Menschen reden doch miteinander, und zwar auch über normale, alltägliche Dinge und in gelassenem Tonfall. Auch das Milieu ist nicht das frustrierter Bildungsbürger. Als das Haus verkauft werden soll findet Mithat Bey in einem jungen Hausmeister seinen Helfer, aber auch geistigen Antipoden.
»Nostalgie für die Gegenwart« nennt der Filmtheoretiker Frederic Jameson jene Haltung, die auch diesen Film bestimmt. Auf subtile Weise erzählt Pelin Esmer in ihrem wunderbaren Film von der alten und der neuen Türkei, von Spekulanten und dem Wandel Istanbuls – und vom Verschwinden des Wissens und der Liebe zu den Dingen. Ein zärtlicher, weicher, aber auch ein sehr respektvoller Film.