USA/GB 2013 · 135 min. · FSK: ab 12 Regie: Steve McQueen Drehbuch: John Ridley Kamera: Sean Bobbitt Darsteller: Chiwetel Ejiofor, Michael Fassbender, Lupita Nyong'o, Brad Pitt, Paul Giamatti u.a. |
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Heute fast König, morgen ein Sklave |
Die unglaublichsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Ein leider allzu häufig bemühter Topos, der im Hinblick auf das Sklavendrama 12 Years a Slave jedoch seine Berechtigung besitzt. Was dieser Film erzählt, scheint auf den ersten Blick den nimmermüden Hollywood-Fantasien entsprungen, ist letztlich aber ein historisch verbürgter, schier unfassbarer Leidensbericht. Ein Bericht, der das Mainstream-Kino endlich dazu veranlasst hat, sich ernsthaft mit Sklaverei und deren konkreten Auswirkungen zu beschäftigen. Basierend auf den autobiografischen Aufzeichnungen des Afroamerikaners Solomon Northup, schildert der Brite Steve McQueen das Schicksal eines vormals freien Mannes, der 1841 in einen Hinterhalt gelockt wird und sich plötzlich auf einem Sklavenschiff in Richtung Louisiana wiederfindet. Abgeschnitten von seiner nichts ahnenden Familie, beginnt für Solomon ein neues Leben, das ihn über Umwege in die Arme des jähzornigen Plantagenbesitzers Edwin Epps führt.
Die Fallhöhe des Protagonisten ist beträchtlich. Denn es handelt sich nicht nur um einen freien Bürger aus dem Bundesstaat New York. Sondern auch um einen feingeistigen Menschen, versiert im Geigenspiel und des Schreibens mächtig. Eigenschaften, die Solomon zu einem Sonderfall unter den Sklaven machen. Ihn hervorstechen lassen. Sehr bald aber auch in Konflikt mit seiner neuen Existenz bringen. Er wolle leben, nicht nur überleben, erklärt der verschleppte Mann zu Beginn einem anderen Sklaven. Eine ehrbare Haltung, die sich jedoch mehr und mehr ins Gegenteil verkehrt. Leben, so wie er es zuvor gewohnt war, ist im repressiven Plantagensystem nicht möglich. Sklaven werden behandelt wie Tiere, sollen gehorchen und fleißig sein. Wer lesen und schreiben kann, ist eine potenzielle Gefahr. Weshalb Solomon sein Wissen und damit einen Teil seiner Identität unterdrücken muss. Einzig sein musikalisches Talent darf er ausleben. Auf Geheiß und zur Belustigung seines Herrn, der die Sklaven sogar mitten in der Nacht zu einem perfiden Tanz bittet. Und sie genüsslich mit ihrer ausweglosen Situation konfrontiert.
Anders als im Historienfilm üblich, wächst Solomon nie zu einem überlebensgroßen Heilsbringer heran. Durchläuft nicht die klassische Heldenreise, bei der sich ein vormals angepasster Mensch zu einem glorreichen Kämpfer entwickelt. Wenn eine Rebellion in 12 Years a Slave stattfindet, dann nur im kleinen, ganz alltäglichen Rahmen. In Solomons persönlichem Umgang mit seinem Schicksal. Trotz aller Demütigungen lässt er sich nicht brechen und macht, entgegen seiner Ankündigungen, das Überleben zu seinem wichtigsten Ziel. Im Vordergrund stehen keine großen Gesten, sondern kleine Handlungen und Strategien, die den versklavten Mann jeden neuen Tag überstehen lassen.
Auch wenn Solomon einen Weg findet, sich an die unmenschlichen Lebensumstände anzupassen, stellt ihn das von Angst und Leiden geprägte Plantagenklima immer wieder vor neue Herausforderungen. Bis an den Rand des Erträglichen geht McQueen, wenn er die offen zur Schau gestellten Erniedrigungen und Beschimpfungen mit gewaltsamen Strafaktionen verbindet. So hängt Solomon in einer Szene nach einer Unbotmäßigkeit minutenlang an einem Strick, während das geschäftige Treiben um ihn herum einfach weiterläuft. Wir als Zuschauer beobachten einen Mann, der verzweifelt Halt sucht, von anderen Menschen umgeben ist und doch keine Hilfe erwarten kann. Ebenso quälend gestaltet sich die Sequenz, in der Plantagenbesitzer Epps den Protagonisten zwingt, eine andere Sklavin auszupeitschen. Das nervenaufreibende Spiel der Blicke, die wüsten Anweisungen des Sklavenhalters und die kompromisslosen Bilder des geschundenen Rückens verlangen dem Zuschauer einiges ab. Dürften ihn verstören. Vielleicht sogar anwidern. Und doch sollte man sich ihnen stellen. Ein Wegschauen vermeiden. Denn authentischer hat das amerikanische Kino wahrscheinlich nie von der Brutalität und Willkür der Sklaverei erzählt.
Überhaupt gelingt dem Drama eine bemerkenswert facettenreiche Darstellung des Plantagenlebens, zu dem freilich auch die Worksongs der Sklaven gehören. Elemente, die aus anderen medialen Aufarbeitungen bekannt sind, hier allerdings äußerst raffiniert als Kritik am heuchlerischen Auftreten der Sklavenhalter eingesetzt werden. Immerhin überlagern die Lieder mehrfach den Dialog. Ganz besonders dann, wenn ein Weißer das gepeinigte Arbeitervolk durch einen Bibelvortrag in christlichem Benehmen zu unterweisen versucht. Obwohl Unterdrücker und Unterdrückte immer wieder deutlich gegenüber gestellt werden, unterschlagen McQueen und Drehbuchautor John Ridley keineswegs die vielgestaltigen Ausprägungen und die Durchlässigkeit der Sklaverei-Maschinerie. An einer Stelle erfahren wir von einer Afroamerikanerin, die auf einem Nachbargut lebt und dessen Besitzer geehelicht hat. Sie genießt die Privilegien ihres neuen Lebens in vollen Zügen und fungiert für manch andere Sklavin als Vorbild. Gleichzeitig gibt es auf Solomons Plantage einen weißen Mann, der in Ungnade gefallen ist und sich von nun an als Arbeiter verdingen muss. Interessant ist auch die Figur des Sklavenhalters William Ford, der den Protagonisten nach dessen Ankunft in Louisiana kauft, seine Talente erkennt, gewisse Freiheiten gewährt, nur um ihn am Ende unter fadenscheinigen Beteuerungen an Epps weiterzureichen.
Ähnlich differenziert wie die Erzählung sind auch die Darbietungen des recht prominenten Schauspielerensembles. Allen voran ist Chiwetel Ejiofor zu nennen, der den beschwerlichen Kampf der Hauptfigur, ihre schier unerträglichen inneren Spannungen glaubwürdig nach außen kehren kann. Und das oft nur über kleine Regungen im Gesicht. Michael Fassbender wiederum verkörpert den Sklavenhalter als psychopathischen Berserker und versieht ihn mit einer wirklich furchteinflößenden Aura. Einen bemerkenswerten Kurzauftritt hat überdies Paul Giamatti in der Rolle eines zynisch-umtriebigen Sklavenhändlers, der die kalkulatorische Seite des Ausbeutungssystems repräsentiert.
12 Years a Slave gelingt, was nicht viele Historienfilme von sich behaupten können. Er stellt ein außergewöhnliches Einzelschicksal in den Mittelpunkt und erzählt doch vom grausamen Ausmaß eines ganzen Unrechtssystems. Eines Systems, in dem selbst ein freier Bürger zu einem hilflosen Objekt degradiert, für Jahre von seiner Familie getrennt und damit um einen Teil seines Lebens beraubt werden konnte. Solomon Northup hat all dies ertragen. Hat überlebt und seine Erfahrungen festgehalten. Ihm verdanken wir eine erstaunliche Hinterlassenschaft, die leider lange Zeit wenig Beachtung fand, durch McQueens Werk nun aber gebührende Aufmerksamkeit erfährt. Zum Glück, möchte man laut ausrufen!
Es wird geprügelt, es wird gepeitscht, immer wieder. Die Musik von Hans Zimmer, die wir dabei hören, ist schön, viel zu schön und eingängig für das, was wir sehen. Das Gras ist grün, die Sonne des amerikanischen Südens scheint Goldgelb. All dies soll das, was wir sehen, nicht etwa erträglicher und konsumierbar machen – sie soll den Schrecken noch vergrößern.
Und tatsächlich werden wir in diesem Film Zeugen einer schrecklichen Geschichte, eines facettenreichen Panoramas aus dem Alltag der Sklaverei in den USA Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der Held des Films ist Solomon Northup, und der ist so wenig eine erfundene Figur, wie das was ihm hier geschieht, ausgedacht ist. Northup lebte wirklich, von 1807 bis in die späten fünfziger, frühen sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts – man weiß das so genau, denn sein Schicksal ist überaus ungewöhnlich: Northop war ein Schwarzer, der in den amerikanischen Nordstaaten, wo Sklaverei schon einige Zeit vor der allgemeinen Sklavenbefreiung verboten war, als freier Mann lebte. Und er war einer von etwa 300 Männern, die von Schlepperbanden entführt und versklavt wurden – widerrechtlich auch nach der damaligen rassistischen Gesetzgebung. Aber einmal gefangen, verkauft und auf eine Sklavenplantage verschleppt, interessierte sich kaum jemand für sein Schicksal. Er konnte lesen und schreiben, und hatte doch keine Möglichkeit, seine Familie oder Freunde im Norden zu kontaktieren, die ihm vielleicht auf juristischem Weg hätten helfen können. Durch glückliche Umstände kam dann nach zwölf Jahren unvorstellbarer Leiden doch noch frei und schrieb sein Schicksal auf. In einem Augenzeugenbericht unter dem Titel »12 Years a Slave«, »12 Jahre ein Sklave«, der auch diesem Film seinen Titel gab – ein Buch, das im Gegensatz zu schwächeren Sklavereiportraits wie »Onkel Toms Hütte« fast vergessen war – bis es der Regisseur Steve McQueen jetzt wiederentdeckt und verfilmt hat.
Steve McQueen ist kein Amerikaner, er ist ein Engländer, der als Videokünstler berühmt wurde und der im Kino aus der Position eines Independent arbeitet. Das zu sagen ist wichtig, denn jetzt, wo dieser Film im großen Ganzen gefeiert und mit zahlreichen Ehrungen bedacht wird, wo er in ein paar Wochen als Favorit ins Oscar-Rennen geht, muss man daran erinnern, dass dies kein Hollywood-Produkt ist. Kaum ein amerikanischer Darsteller stand zur Verfügung, nur Brad Pitt, der den Film aber auch mitproduziert hat.
McQueens Erzählweise ist von ruhiger Bestimmheit, sie ist klar und aufrichtig, geprägt vom Respekt für ihren Gegenstand. Alles an diesem Kinowerk erscheint perfekt, angemessen, richtig. 12 Years a Slave ist ein Film, der vollkommen makellos, ästhetisch gediegen und geschmackvoll vom Horror erzählt. Der nichts falsch macht. Und der gerade darum zwar viel Respekt, aber keine Begeisterung hinterlässt – eher den einen schalen Beigeschmack eines Films, der immer etwas zu sehr auf der sicheren Seite zu stehen scheint.
Die Schauspieler scheinen perfekt ausgewählt: Paul Giamatti als schmieriger Sklavenhändler, Brat Pitt als netter Sklavenhalter Michael Fassbinder als weniger netter Sklavenhalter und Plantagenbesitzer, der seine bestaussehensten Sklavinnen mit Bibelfersen auf den Lippen vergewaltigt. Hinter dem hübschen glatten Antlitz dieses modernen Marlborough-Manns und Frauenschwarms entdeckt der Regisseur Brutalität und pervers-sadistische Abgründe – ohne das Fassbender jemals ein bisschen weniger gut aussähe. Und natürlich Chiwetel Ejiofor in der Hauptrolle – die großartige One-Man-Show eines Darstellers, der bislang in vielen bekannten Filmen mitspielte, aber oft im Schatten anderer stand.
Perfektion gilt auch für die Inszenierung: Alles ist wunderbar kontrolliert. Der Licht fällt hier immer richtig, die Kamera steht immer am perspektivisch idealen Punkt. Nichts stört, nichts ist fragwürdig, nichts lässt Erschütterung ahnen. Selbst die schrecklichsten Momente dieses an schrecklichen Momente reichen Films sind gedämpft, wirken seltsam aseptisch, selbst das Blutigste erscheint blutleer. Sehr sehr schön sind die Bilder, die die Schreckensgeschichte der Vereinigten Staaten mit dem prächtigen blauen Himmel Louisianas kontrastieren, Sonnenstrahlen, die zwischen den Baumwipfeln hindurchstrahlen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Filme über hässliche Dinge müssen nicht selbst hässlich sein, im Gegenteil. Und es ist beglückend, einen Filmemacher ohne sadistische Neigungen zu erleben, ohne jede versteckte Lust daran, sein Publikum leiden zu lassen. McQueen will einfach zeigen und ein authentisches Bild des Themas bieten.
Mit der Authentizität ist es aber eine vertrackte Sache. Sie liegt zunächst einmal im Auge des Betrachters: Viele halten diesen Film für authentisch, ich finde ihn schon deshalb unauthentisch, weil er von einer absoluten Ausnahmefigur erzählt: Solomon Northup kann lesen und schreiben, er ist musikalisch, er war frei. Er wurde aus der Freiheit als Erwachsener entführt. Und schließlich sieht er gut aus, ein Obama unter den Darstellern. All dies, nur weil McQueen seine Zuschauer in
den weißen Wohlstandsgesellschaften der Gegenwart nicht schockieren, sondern ihnen schmeicheln will. Weil man ihnen offenbar keinen hässlichen Analphabeten, keinen Sklaven der vierten Generation, keinen afrikanischen Wilden zumuten will, keinen Kunta Kinte.
Alles ist hier historisch korrekt, nichts ist innerlich wahr.
Authentizität ist aber sowieso etwas völlig anderes: Sie ist nicht Rekonstruktion, nicht Naturalismus. Sie liegt nicht in der Darstellung, nicht in Kostüm und Setting, oder gar in Sprache und Bewegung (die sowieso kaum zu rekonstruieren, aber auch schwer zu überprüfen sind). Authentizität liegt allein im Auge des Betrachters, und das auch insofern, als dass sie nur vorhanden ist, wo und wenn sie sich beim Zuschauer einstellt. Authentizität ist ein Gefühl, das ich als Betrachter empfinde, nicht etwas, was dem Film eigen ist. Ein Film ist immer gemacht. Und das Rohe, die offen ausgestellte Gemachtheit eines Tarantino-Films ist authentischer, als die vertuschte Gemachtheit, die lackierte Authentizität in 12 Years a Slave.
Fast schon ideologisch ist in diesem Zusammenhang, dass der Film uns ein Happy End vorgauckelt. Dabei erging es Solomon Northup vier Jahre, nachdem er freikam, übel: Vermutlich wurde er ein zweites Mal entführt und ermordet, weil er ein unbequemer Zeuge war. Jedenfalls verschwand er plötzlich spurlos auf Nimmerwiedersehen.
Kino ist Zeigen. Und darum ist es auch richtig, dass 12 Years a Slave nicht wegguckt. Aber ein bisschen wundern darf man sich schon. Darüber, dass diesem Film offenkundig alles erlaubt wird, was man Filmen ansonsten gern verbietet. Quentin Tarantino warf man man vor Jahresfrist Exploitation vor, »Ausbeutung« der Leiden also, als er vom Verbrechen der Sklaverei erzählte – mit einem Happy End.
Nichts dergleichen heute. Dabei könnte man über Steve McQueens Film das Gleiche sagen. Aber der Unterschied liegt darin, dass dieser Film im Gegensatz zu Tarantino versteckt eben doch moralisiert. Dass er sein Publikum ästhetisch durch Gewaltexzesse verstört, aber keine ausgleichende Erleichterung durch ästhetische Schöheits- und Popexzesse bietet. Er sagt zwischen den Bildern, ästhetische Erfahrung bringt der Verzicht aufs Wegsehen, aber keinen Mehrwert.
12 Years a Slave ist makellos. Leider. Das makellose Historiengemäde der amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft – und wie auf einem Historiengemälde bändigt auch hier die Macht der Kunst die Gewalt der Geschichte.