Libanon/N/F/Q 2019 · 100 min. Regie: Oualid Mouaness Drehbuch: Oualid Mouaness Kamera: Brian Rigney Hubbard Darsteller: Nadine Labaki, Mohamad Dalli, Gia Madi, Rodrigue Sleiman, Ghassan Maalouf u.a. |
||
Mit dem Rücken gegen die Wand | ||
(Foto: Mec Film) |
Immer wieder ziehen Flieger hoch oben über den strahlend hellblauen Himmel. Man sieht nur ihre Kondensstreifen, man sieht, dass sie sehr schnell sind und dass sie immer in die eine gleiche Richtung fliegen.
Es ist ein einziger Tag, den uns dieser Film zeigt, allerdings ist es nicht irgendein Tag; es ist ein Tag, der alles verändern wird. Der letzte Schultag vor den Sommerferien im Sommer 1982. Der Film zeigt uns ein paar Kinder auf einer noblen Privatschule in Beirut. Man trägt
Uniform und singt die Nationalhymne: »Wir alle! Für unser Vaterland, unseren Ruhm und Flagge! Unser Schwert und unsere Schriften...« Der Libanon ist ein französisch geprägtes Land.
Es ist eine in jeder Hinsicht gemischte Klasse, also sowohl Jungen und Mädchen, aber auch verschiedene religiöse, nationale und ethnische Zugehörigkeiten – im Libanon, einem Land, in dem religiöse Identität sehr wichtig ist, ist das keine Selbstverständlichkeit.
Mit wenigen Strichen und Momentaufnahmen skizziert Regisseur Oualid Mouaness einen Mikrokosmos der libanesischen Gesellschaft. Der Filmemacher wiegt seine Zuschauer in der gleichen entspannten Sicherheit und Selbstzufriedenheit wie seine Figuren, die Kamera zeigt uns die umliegende prächtige Landschaft mit Wäldern und Büschen und fängt die Schönheit und den trügerischen, prekären Frieden dieses Landes ein. Der Schulhof wimmelt von Schülern, das Schulgebäude ist selbstbewusst und rational und erscheint dem Betrachter ein wenig wie ein Palast, der mit seinen verblassten, liebevoll an den Wänden angebrachten Landkarten, Schülermalereien und dem Fußballfeld hinter den Fenstern bereits in wenigen Sekunden seltsam vertraut ist, eine Erinnerung an etwas, das wir nie kannten.
Noch überwiegt das Private, Persönliche. Schüler wie Lehrer leben weit entfernt und distanziert von der Politik und dem Konflikt, dessen Grollen schon zu hören ist und der sie alle überrollen wird. Noch dominieren letzte Prüfungen und das Wissen um die nahen Sommerferien.
Im Zentrum steht der etwa elfjährige Wissam. Er ist zum ersten Mal richtig verliebt. Wie seine gleichaltrigen Mitschüler beginnt Wissam die riskante gefahrvolle Kunst des Balzens erst zu lernen. Das Objekt seiner Leidenschaft ist Joana, gleich alt, aber wie die meisten Mädchen in dem Alter reifer und gelassener. Ihre Mutter ist Französin, heißt es, und Wissam kann ihr nicht sagen, wie haltlos er in sie verliebt ist.
Aus dem Radio klingen die ersten Nachrichten. Blutspender werden gesucht. Immer lauter und immer öfter dröhnen Flieger über den Himmel. Am Tag zuvor haben Kämpfe begonnen, aber es ist nicht mehr der Bürgerkrieg, an den sich alle schon lange gewöhnt haben, sondern, das beginnt man erst zu verstehen: Israel hat die Grenze überschritten.
Der Angriff der Israelis am 6.Juni 1982, das war die Operation »Frieden für Galiläa«. Es war ein Tabubruch in jeder Hinsicht: Erstmals griff Israel einen Nachbarn an, führte keinen Verteidigungskrieg und auch keinen Präventivschlag gegen einen bereits feststehenden Angriff.
Der Schrecken über dieses Ereignis und die Ahnung kommender, noch größerer Schrecken spiegelt sich vor allem im Gesicht der Lehrerin Yasmine, gespielt von Nadine Labaki.
Sie versucht, sich vor den Kindern zurückzuhalten, keine Angst zu zeigen in der Hoffnung, Ordnung und Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten. Aber ihr Gesicht verrät sie immer wieder und immer öfter. So wird ihre Figur zu einer Metapher für das fragile Gleichgewicht der Situation, in der einerseits das Leben und der Alltag weitergehen, und zugleich nichts so bleibt, wie es ist. Mouaness reflektiert sehr genau die Art und Weise, wie das Leben selbst in Zeiten von Kriegen weitergeht, so kleinlich und albern wie immer. Persönliche Ängste sind nicht weniger wichtig als das allgemeine Chaos.
Dies ist kein nostalgischer Film. Erst zu den Abspann-Credits gestattet sich der Film eine Popsong-Referenz. Regisseur Oualid Mouaness sublimiert in 1982 nicht die Tragödie zum Triumph der Liebe. Sondern er spielt mit unser aller Sehnsucht nach der Kindheit und dem Wissen der Erwachsenen, dass wir alle früher oder später dem Unglück ins Auge sehen müssen. Den verpassten Gelegenheiten, die uns unterlaufen sind. Den verlorenen Welten, in denen wir gelebt haben.
1982 ergreift dabei nicht Partei für die Unschuld der Jugend, aber er übernimmt ihre Perspektive: Fassungslos blicken die Kinder auf die zunehmend surrealere Erwachsenenwelt.