1982 – Neunzehnhundertzweiundachtzig

1982

Libanon/N/F/Q 2019 · 100 min.
Regie: Oualid Mouaness
Drehbuch:
Kamera: Brian Rigney Hubbard
Darsteller: Nadine Labaki, Mohamad Dalli, Gia Madi, Rodrigue Sleiman, Ghassan Maalouf u.a.
Filmszene »1982 - Neunzehnhundertzweiundachtzig«
Mit dem Rücken gegen die Wand
(Foto: Mec Film)

Der Morgen vor dem Sturm

In der Hitze eines Sommertags: Regisseur Oualid Mouaness erzählt in 1982 vom letzten Tag des Friedens im Libanon

Immer wieder ziehen Flieger hoch oben über den strahlend hell­blauen Himmel. Man sieht nur ihre Kondens­streifen, man sieht, dass sie sehr schnell sind und dass sie immer in die eine gleiche Richtung fliegen.
Es ist ein einziger Tag, den uns dieser Film zeigt, aller­dings ist es nicht irgendein Tag; es ist ein Tag, der alles verändern wird. Der letzte Schultag vor den Sommer­fe­rien im Sommer 1982. Der Film zeigt uns ein paar Kinder auf einer noblen Privat­schule in Beirut. Man trägt Uniform und singt die Natio­nal­hymne: »Wir alle! Für unser Vaterland, unseren Ruhm und Flagge! Unser Schwert und unsere Schriften...« Der Libanon ist ein fran­zö­sisch geprägtes Land.
Es ist eine in jeder Hinsicht gemischte Klasse, also sowohl Jungen und Mädchen, aber auch verschie­dene religiöse, nationale und ethnische Zugehö­rig­keiten – im Libanon, einem Land, in dem religiöse Identität sehr wichtig ist, ist das keine Selbst­ver­ständ­lich­keit.

Mit wenigen Strichen und Moment­auf­nahmen skizziert Regisseur Oualid Mouaness einen Mikro­kosmos der liba­ne­si­schen Gesell­schaft. Der Filme­ma­cher wiegt seine Zuschauer in der gleichen entspannten Sicher­heit und Selbst­zu­frie­den­heit wie seine Figuren, die Kamera zeigt uns die umlie­gende prächtige Land­schaft mit Wäldern und Büschen und fängt die Schönheit und den trüge­ri­schen, prekären Frieden dieses Landes ein. Der Schulhof wimmelt von Schülern, das Schul­ge­bäude ist selbst­be­wusst und rational und erscheint dem Betrachter ein wenig wie ein Palast, der mit seinen verblassten, liebevoll an den Wänden ange­brachten Land­karten, Schü­ler­ma­le­reien und dem Fußball­feld hinter den Fenstern bereits in wenigen Sekunden seltsam vertraut ist, eine Erin­ne­rung an etwas, das wir nie kannten.

Noch überwiegt das Private, Persön­liche. Schüler wie Lehrer leben weit entfernt und distan­ziert von der Politik und dem Konflikt, dessen Grollen schon zu hören ist und der sie alle über­rollen wird. Noch domi­nieren letzte Prüfungen und das Wissen um die nahen Sommer­fe­rien.

Im Zentrum steht der etwa elfjäh­rige Wissam. Er ist zum ersten Mal richtig verliebt. Wie seine gleich­alt­rigen Mitschüler beginnt Wissam die riskante gefahr­volle Kunst des Balzens erst zu lernen. Das Objekt seiner Leiden­schaft ist Joana, gleich alt, aber wie die meisten Mädchen in dem Alter reifer und gelas­sener. Ihre Mutter ist Französin, heißt es, und Wissam kann ihr nicht sagen, wie haltlos er in sie verliebt ist.

Aus dem Radio klingen die ersten Nach­richten. Blut­spender werden gesucht. Immer lauter und immer öfter dröhnen Flieger über den Himmel. Am Tag zuvor haben Kämpfe begonnen, aber es ist nicht mehr der Bürger­krieg, an den sich alle schon lange gewöhnt haben, sondern, das beginnt man erst zu verstehen: Israel hat die Grenze über­schritten.

Der Angriff der Israelis am 6.Juni 1982, das war die Operation »Frieden für Galiläa«. Es war ein Tabubruch in jeder Hinsicht: Erstmals griff Israel einen Nachbarn an, führte keinen Vertei­di­gungs­krieg und auch keinen Präven­tiv­schlag gegen einen bereits fest­ste­henden Angriff.

Der Schrecken über dieses Ereignis und die Ahnung kommender, noch größerer Schrecken spiegelt sich vor allem im Gesicht der Lehrerin Yasmine, gespielt von Nadine Labaki.

Sie versucht, sich vor den Kindern zurück­zu­halten, keine Angst zu zeigen in der Hoffnung, Ordnung und Selbst­be­herr­schung aufrecht­zu­er­halten. Aber ihr Gesicht verrät sie immer wieder und immer öfter. So wird ihre Figur zu einer Metapher für das fragile Gleich­ge­wicht der Situation, in der einer­seits das Leben und der Alltag weiter­gehen, und zugleich nichts so bleibt, wie es ist. Mouaness reflek­tiert sehr genau die Art und Weise, wie das Leben selbst in Zeiten von Kriegen weiter­geht, so kleinlich und albern wie immer. Persön­liche Ängste sind nicht weniger wichtig als das allge­meine Chaos.

Dies ist kein nost­al­gi­scher Film. Erst zu den Abspann-Credits gestattet sich der Film eine Popsong-Referenz. Regisseur Oualid Mouaness subli­miert in 1982 nicht die Tragödie zum Triumph der Liebe. Sondern er spielt mit unser aller Sehnsucht nach der Kindheit und dem Wissen der Erwach­senen, dass wir alle früher oder später dem Unglück ins Auge sehen müssen. Den verpassten Gele­gen­heiten, die uns unter­laufen sind. Den verlo­renen Welten, in denen wir gelebt haben.

1982 ergreift dabei nicht Partei für die Unschuld der Jugend, aber er übernimmt ihre Perspek­tive: Fassungslos blicken die Kinder auf die zunehmend surrea­lere Erwach­se­nen­welt.