19

Japan 2000 · 83 min.
Regie: Kazushi Watanabe
Drehbuch:
Kamera: Masakazu Oka
Darsteller: Daijiro Kawaoka, Kazushi Watanabe, Takeo Noro, Ryo Shinmyo u.a.
Ver- und Entführer

Unfreiheitsberaubung

Entführt zu werden ist im Allge­meinen eine schreck­liche Sache. Von einer Sekunde auf die andere wird man gewaltsam der eigenen Selbst­be­stim­mung beraubt, die körper­liche Unver­sehrt­heit liegt in der Hand eines Fremden und egal wie eine Entfüh­rung endet, so hinter­lässt sie doch immer Leid, Schmerzen, Alpträume.
Dass eine Entfüh­rung aber auch eine Befreiung sein kann, zeigt der äußerst sehens­werte japa­ni­sche Film 19, der auf raffi­nierte Weise verdeut­licht, wie wenig es braucht, um die Geisel eines Verbre­chers, einer Gruppe, einer Gesell­schaft oder von sich selbst zu werden.

Wie für jedes Entfüh­rungs­opfer, so kommt auch für Usami das Unheil aus heiterem Himmel. Eben noch auf seinem Moped unterwegs, wird er von drei jungen Männern seines Alters ange­spro­chen und gewaltsam in ihr Auto gezogen. So beginnt für ihn eine Reise ins Ungewisse, voller Wider­sprüche und scheinbar ohne Grund.
Denn weder erhärtet sich der anfäng­liche Eindruck, Usami sei von seinen Entfüh­rern als »Stadt­führer« zwangs­re­kru­tiert worden, noch versuchen sie sich durch ihn zu berei­chern (eher im Gegenteil) oder ihn zu ihrem Vergnügen zu miss­han­deln. Dass das Ganze dabei nicht nur ein harmloser Spaß ist, muss er schmerz­haft nach unge­schickten Lügen oder Flucht­ver­su­chen erfahren.

Seine Versuche zu entkommen werden bald kraft­loser, und langsam beginnt sich Usami zu fügen, wobei das nicht so einfach ist, da weder die Menschen noch die Umstände, denen er sich fügen soll bzw. will, greifbar sind.
Die Geisel­nehmer (der smarte Anführer, der wortkarge Schläger und der nette Fotograph) sind Menschen ohne Identität, ohne Vergan­gen­heit und scheinbar ohne Ziel, die sich alles, was sie zum Leben brauchen, einfach (notfalls mit Gewalt) nehmen und die die beste­henden Regeln voll­kommen miss­achten.
Sie verwei­gern ihrem Opfer jede Erklärung darüber, was sie von ihm erwarten oder wie er sich verhalten soll, weshalb Usami gezwungen ist, seine Hand­lungen selber zu bestimmen und zu verant­worten. Für den schüch­ternen Studenten, der bisher wie jeder normale Japaner in ein Korsett aus gesell­schaft­li­chen Konven­tionen und Regeln einge­zwängt war, beginnt somit ausge­rechnet in seiner Gefan­gen­schaft eine Phase der uner­war­teten Freiheit.

Doch die indi­vi­du­elle Freiheit erträgt nicht jeder, noch dazu, wenn man jahrelang nach den Vorgaben anderer gelebt hat, weshalb Usami zunehmend verbis­sener versucht, sich als gleich­wer­tiges Mitglied in den Kreis der Entführer einzu­fügen.
Als sie bei einem Trip ans Meer einen weiteren jungen Mann in ihre Gewalt bringen, sieht der beinahe eifer­süch­tige Usami die Möglich­keit, seine Loyalität gegenüber der Gruppe zu beweisen, indem er die Flucht­ver­suche des Neuen nicht unter­s­tützt und damit zum Scheitern verur­teilt.
Die Situation eskaliert daraufhin und die Geschichte nimmt eine dras­ti­sche Wendung, die den Film für kurze Zeit zum span­nenden Thriller werden läßt, um dann über­ra­schend, schlußend­lich jedoch konse­quent logisch, zu enden.

Der Regisseur Kazushi Watanabe insze­niert sein Spiel­film­debüt als viel­fäl­tige Reflexion über Zwänge, Freiheit, Unter­drü­ckung und Unter­wer­fung, mit klaren Verweisen auf das inter­na­tio­nale Auto­ren­kino, ohne jedoch die japa­ni­schen Kino­tra­di­tionen aus dem Auge zu verlieren.
Er spielt geschickt mit den Techniken der Bild­ge­stal­tung (Nach­be­ar­bei­tung der digitalen Video­bilder, um sie z.B. wie nach­ko­lo­riert oder monochrom einge­färbt aussehen zu lassen), des Sound­de­signs (von bewußt einge­setzter Stille bis zum wabernden Feedback-Gewitter, das stark an Neil Youngs Sound­track zu Dead Man erinnert) und der Insze­nie­rung (wackelige Hand­ka­mera im engen Auto ebenso, wie statisch male­ri­sche Aufnahmen am endlosen Strand) und folgt damit einem welt­weiten Trend.

Nicht nur aus klas­si­schen Film­na­tionen, sondern auch aus Ländern wie Mexiko, Öster­reich oder gar Island waren im letzten Jahr bemer­kens­werte Filme zu entdecken, die einen ähnlichen Weg beschreiten, wie die (im besten Sinne) globa­li­sierte, progres­sive Popmusik, die ja ihrer­seits oft als Filmmusik dient.
Ähnlich den inno­va­tiven Musikern und DJs, die etwa indische Gesänge mit der Titel­me­lodie aus »Knight Rider« mischen oder Samples von Edward Elgar oder Moondog in House- und Tech­no­tracks einbauen, haben auch zahl­reiche Regis­seure alle gewohnten Genre­schranken hinter sich gelassen und eignen sich ohne Rücksicht auf geogra­phi­sche oder kultu­relle Grenzen all die Dinge an, die ihnen richtig erscheinen. Die Verbin­dung dieser unter­schied­li­chen Einflüsse zu einer kompakten und originären Einheit, die ihre Herkunft offen zu erkennen gibt und trotzdem univer­sell vers­tänd­lich ist, ist die Leistung dieser neuen Gene­ra­tion von Regis­seuren.

Auch Watanabe gelingt dieser Spagat, weshalb die Geschichte seines unver­kennbar japa­ni­schen Films auch bei uns und auf der ganzen Welt seine Gültig­keit besitzt und sich einem die äußere Form von 19 trotz aller fremd­ar­tiger Eigen­s­tän­dig­keit unmit­telbar erschließt.
Schließ­lich besitzt 19, so wie bereits zuvor 101 Reykjavik, Y tu mama tambien oder Blue Moon die lobens­werte Eigen­schaft, keinem konkreten Genre zuor­denbar zu sein. Der Film ist mal komisch, mal spannend, mal verwir­rend, mal kafkaesk, mal bedrü­ckend, mal träu­me­ri­schen, mal drama­tisch oder kurz gesagt; er ist wie das Leben, nur konzen­trierter und stili­sierter.

Genügend Gründe also, um sich von 19 für die Länge eines Films in eine andere Welt entführen zu lassen.