Spanien 2023 · 128 min. · FSK: ab 6 Regie: Estibaliz Urresola Solaguren Drehbuch: Estibaliz Urresola Solaguren Kamera: Gina Ferrer García Darsteller: Sofia Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain, Itziar Lazkano, Sara Cózar u.a. |
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Kindliche Identitätskrise als breites Familienporträt | ||
(Foto: DCM Film Distribution GmbH) |
»Werde ich wie Papa, wenn ich groß bin?«, fragt Aitor seine Mutter Ane, die erwidert: »Wieso fragst du?« Der Junge antwortet: »Weil ich nicht so sein will.« Ane versichert ihm: »Du kannst so sein, wie du willst.« Doch so einfach ist das nicht, wie sich in 20.000 Arten von Bienen, dem ersten langen Spielfilm der spanisch-baskischen Autorin und Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren, rasch herausstellt. Der Dialog, den beide nach etwa einer halben Filmstunde führen, zeigt nicht nur die emotionale Distanz des Kindes zum Vater Gorka auf, dessen Ehe mit Ane in der Krise steckt. Sondern er lässt auch das Dilemma der sensiblen Mutter ahnen, die ihrem Kind beistehen will, sich aber schwertut zu akzeptieren, dass Aitor sich in einem männlichen Körper nicht wohlfühlt und sich zum Beispiel für Frauenkleider interessiert. Ihre Sentenz »Es gibt keinen Jungs- und keinen Mädchenkram« klingt zunächst liberal, dient aber auch als Ausrede, um sich vor Entscheidungen zu drücken.
Dass Aitors Identitätskrise das Leben der Eltern, seiner Schwester Nerea und seines Bruders Eneko belastet, wird deutlich, als die Familie anlässlich der Taufe eines Neffen von Bayonne in Anes Heimatdorf im spanischen Baskenland reist. Das Kind mit den geschminkten Fingernägeln will sich nicht von seinen langen Haaren trennen und möchte lieber mit seinem Spitznamen Cocó gerufen werden, der immerhin geschlechtsneutral ist. Doch damit eckt Aitor immer wieder bei Verwandten und Bekannten an. So wie bei seiner frommen katholischen Großmutter Lita, die zwar sagt, dass Gott das Kind perfekt geschaffen habe, an anderer Stelle aber auch Ane ermahnt: »Setz ihm Grenzen. Der Junge ist verwirrt.«
Mehr Verständnis findet Aitor/Cocó bei der alleinstehenden Großtante Lourdes, die Bienen züchtet und zu einer Art Vorbild wird. Sie macht das gender-diverse Kind mit den Geheimnissen der Bienenzucht und der heilsamen Wirkung des Honigs vertraut und nimmt zugleich dessen seelische Nöte ernst. Die Vielfalt der Bienenvölker avanciert zugleich zu einer Metapher für die Vielgestaltigkeit der sexuellen Identitäten. Die empathischen Begegnungen der beiden Figuren gehören zu den stärksten Szenen des Films.
Ane nutzt den Aufenthalt im Heimatdorf auch, um in der Werkstatt ihres verstorbenen Vaters, eines Bildhauers, selbst wieder Kunstwerke anzufertigen, die sie für eine Bewerbung als Dozentin an einer Kunstschule in Bayonne benötigt. Während dieses Sommeraufenthalts findet Aitor mit Hilfe von Lourdes auch endlich einen passenden Namen für sich: Als beide eine Kirche besuchen, zeigt die Großtante ihm eine Statue der Heiligen Lucía. Fortan möchte das Kind Lucía heißen: die ins Licht Geborene.
Im Zentrum des Films, der mit rund zwei Stunden einige szenische Redundanzen aufweist, stehen die Beziehungen des Transkindes zu den weiblichen Bezugspersonen, an denen es sich beim Versuch, sich als feminin zu definieren, auch weitgehend orientiert. Männer spielen dagegen nur marginale Rollen und vertreten hier in Sachen Gender eher konservative Positionen. Die größte Unterstützung leistet noch Aitors älterer Bruder Eneko, auch wenn sich die beiden hin und wieder zanken. Eneko ist jedenfalls der Erste, der am Schluss, als die Familie nach dem bei einer Tauffeier verschwundenen Geschwister sucht, Lucía ruft statt Aitor.
Die 1984 in Bilbao geborene Regisseurin bettet die kindliche Identitätskrise in ein breites Familienporträt ein, in dem auch andere Probleme verhandelt werden. So sieht sich die dreifache Mutter Ane angesichts ihrer Ehekrise gezwungen, sich beruflich neu zu orientieren. Angesichts des Konformitätsdrucks neigt die Großmutter dazu, Konflikte unter den Teppich zu kehren, die damit jedoch nicht verschwinden. Und immer wieder beleuchtet der Fall des Transkindes, wie stark die provinzielle Dorfgemeinschaft noch einem patriarchalisch geprägten Denken verhaftet ist, das abweichendes Verhalten nicht duldet.
So schwierig und schmerzhaft der geschilderte Transitionsprozess für Aitor/Cocó/Lucía auch sein mag, Estibaliz Urresola Solaguren gewährt ihrer Hauptfigur am Ende eine gute Portion Hoffnung. Damit steht sie in der Tradition von Transkindfilmen wie Mein Leben in Rosarot (1997) oder zuletzt Oskars Kleid (2022). Suchte Alain Berliner noch Zuflucht im Märchenhaften und kleidete Hüseyin Tabak die Transmädchen-Problematik in ein komisches Gewand, so schlägt die baskische Regisseurin deutlich ernstere Töne an. Dazu passen die sparsam eingesetzte diegetische Musik und der konsequente Einsatz der Handkamera, deren ständige Unruhe mit der Verunsicherung der Hauptfigur korrespondiert.
Mit der neunjährigen Sofia Otero ist der Regie bei der Besetzung der komplexen Hauptrolle ein Glücksgriff gelungen. Sie spielt Aitor/Cocó/Lucía mit großer Natürlichkeit und Ausdrucksstärke. So etwa in einer Schlüsselszene kurz vor Schluss, als sie ihre Großtante fragt: »Kann ich sterben und als Mädchen zur Welt kommen?« Woraufhin diese sagt: »Du bist schon ein Mädchen, und wunderschön.« Auf den Berliner Filmfestspielen 2023 gewann Otero für ihre Leistung einen Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin. Damit ist sie die jüngste Preisträgerin in der Geschichte der Berlinale.