22 Bullets

L'immortel

Frankreich 2010 · 117 min. · FSK: ab 18
Regie: Richard Berry
Drehbuch:
Kamera: Thomas Hardmeier
Darsteller: Jean Reno, Kad Merad, Richard Berry, Gabriella Wright, Marina Foïs u.a.
Alles, was ein guter Thriller braucht

Überleben und Sterben in Marseille

Eine mora­li­sche Geschichte. Sie handelt von dem Hochmut, der vor dem Fall kommt, und auch nach ihm noch nicht gebrochen ist. Sie handelt davon, dass man erst Demut lernen muss, bevor man siegen kann. Eine mora­li­sche Geschichte, aber erst recht eine archai­sche. Frauen kommen in diesem Film nicht vor. Oder nur am Rande. Sie sind Mütter und Töchter, und Ehefrauen, also Witwen. Früher oder später jeden­falls. Sieht man den Trailer zu Richard Berrys fran­zö­si­schen Mafiafilm 22 Bullets, hört man nur, worum es geht, dann spricht so ziemlich alles gegen diesen Film. Außer das Jean Reno die Haupt­rolle spielt, und dass der Film in Frank­reich weit über 1 Million Zuschauer ins Kino lockte. Wenn man ihn gesehen hat, weiß man, warum.

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»Nur Ludwig XIV. hat Marseille verstanden. Er ließ die Wall­an­lagen nieder­reißen und die Kanonen von St. Jean und St. Nicholas auf die Stadt zielen. Das war damals eine eindeu­tige Ansage. Wissen Sie, was seine Devise war: Es ist immer die Ungeduld zu siegen, die zur Nieder­lage führt.« – Der Poli­zei­boss in 22 Bullets

Am Anfang der Tod. Eine Opernarie, »E lucevan le stelle i« erklingt. Sie stammt aus dem dritten Akt von Puccinis »Tosca« und sie handelt von der Vorbe­rei­tung auf den Tod, die erfüllt ist von der Liebe zum Leben. Ein Todge­weihter singt das Lied, er muss sterben, wie alle in der Oper. Auch in diesem Film werden viele sterben, und auch hier wieder fungiert die Oper als ein Kraftwerk der Gefühle, eines das die Kino­bilder antreibt, obwohl das Kino diesen Antrieb doch gar nicht nötig hat.

Ein Vater fährt mit seinem kleinen Sohn an der südfran­zö­si­schen Küste entlang, erreicht Marseille. Beide singen die Arie. Wenige Minuten später hat der Vater, den Jean Reno spielt, 22 Kugeln im Leib. Schon hier, in den wenigen Minuten des Anfangs, entfaltet 22 Bullets eine über­ra­schende Inten­sität. Er hält seine Spannung. Nichts ist cheasy, alles ange­messen. Im Rahmen des Erwart­baren, aber am oberen Limit. Die Bilder sind stylisch, der Schnitt ist schnell, die Musik drängt sich in den Vorder­grund. Alles etwas aufdring­lich, etwas vulgär, aber dabei ganz gut. Die Schießerei, besser: das Massaker zu Beginn, das ellenlang vorbeitet ist, und mit dem jeder Zuschauer rechnet, ist ein bisschen zu lang, ein bisschen zu elegisch insze­niert.

Dann wird alles ökono­mi­scher, unglaub­lich klug und viel­schichtig und elegant geschnitten, auf drei Ebenen zugleich erzählend, und im Rückblick versteht man, was einem schon bei den ersten Tönen der »Tosca« hätte klar sein müssen: Auch wenn dies ein Film aus Frank­reich ist, muss man ihn mit den gleichen Augen ansehen, mit denen man auch einen Film von John Woo anguckt, oder seit Mitte der 90er von Johnnie To. Alles ist Bühne, also Oper, Ballett, Choreo­gra­phie, der Plot nur Staffage. Trotzdem ernst zu nehmen, denn es geht um die Produk­tion tiefer Gefühle.

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Ein Mann, der im Sterben liegt, denkt zurück. Aber Gott­sei­dank folgt kein Rückblick, sondern Reno, der hier Charly Matteï heißt, lebt einfach weiter, und erinnert sich an gerade mal an das, was wir wissen müssen, um die Handlung zu verstehen: »Ich hab 'nen komischen Job. Einmal drin ist es aus. Du kommst nicht mehr raus. Es ist ein Fluch. Du bist zum Weiter­ma­chen verdammt. Und dazu, dabei zu krepieren. Blut trocknet nicht.«

Dann mischt sich die Erin­ne­rung an die alte Stimme eines alten Mafiosi hinein: »Blut trocknet nicht, Kleiner. Niemals. Du wirst Dein Leben lang Angst haben. Wenn du einmal nicht aufpasst, bist du dran. Das Gefängnis unter­bricht das Spiel nur. Du bist wegen einer Dummheit hier. Danke deinem Schicksal. In einem Monat bist du draußen. Vergiss es und lebe als freier Mann. Glaub mir Kleiner. Es ist nichts Gutes darin, auf unserer Seite zu sein.« Natürlich wurde Charly trotzdem einer von ihnen. Denn bald, nachdem er wieder frei war, wurde der 85-jährige Mafia-Führer erschossen, ein Zyklus der Rache setzte ein, und Charly witterte die einmalige Gele­gen­heit. Drei Freunde verbün­deten sich, und der Mord am Mörder des Paten diente ihnen als Initia­tion.

Die Frauen, wie gesagt leiden. Die Poli­zistin, die den Anschlag auf Charly aufklären soll, hört auch gern Opern. Ihr Mann ist tot, erschossen von irgend­wel­chen Gangstern.

Charly bricht aus und jagt dieje­nigen, die ihn töten wollten, weil seine rechte Hand gelähmt ist, muss er alles mit links machen. Es gibt Verfol­gungs­jagten und viele Tote; voller Seelen­ruhe rächt Charly den Mord­an­schlag, rote Rosen auf einem hellen Grabstein und eine Blutlache. Auch hier wieder ist dieser Film Oper, John-Woo-Kino, zugegeben: John Woo für Arme – aber weil es eben John Woo ist, ist das immer noch eine Menge. Und bitte auch zugegeben: In Europa kann und darf nur Luc Besson, der den Film insze­nierte, so etwas: mit schnellem Schnitt und reinen Bild­folgen erzählen, ohne den Überblick zu verlieren oder peinlich zu werden. An Schnitt und Kamera ist kaum etwas auszu­setzen, und erst im letzten Viertel verlieren Film und Regisseur und das Amt für Geschmacks­si­che­rung mitunter die Kontrolle, und alles ist ein bisschen sehr over the top. Da wird die Oper zur Operette.

Aber dann wieder sitzt das Bild von Sarkozy im Büro des Poli­zei­chefs wie ein Hieb. Und wenn man es kaum noch erwartet, wird dieser Film zum philo­so­phi­schen Diskurs, als Charly, der Rächer endlich auf Zac trifft, seinen alten Kumpel, der, wie man schon früh wissen musste, der war, der die Häscher schickte:

»Verstehen? Was willst Du verstehen?«, sagt Zac. »Du lebst zurück­ge­zogen, schiebst ne ruhige Kugel, urteilst über andere. Ich, ich habe weiter gekämpft. ... Du glaubst, Du bist anders, Charly. Besser. Aber wir ähneln uns. Du bist nicht besser. Wir haben beide krumme Dinger gedreht. Leute mussten sterben. Das kannst du nicht auslö­schen. Du hast wie ich Blut an den Händen. Das geht nicht weg. Du bist auf der falschen Seite. Einer, der gegen Regeln verstößt. Erzähl mir also nichts. Knall mich ab, aber nicht im Namen deiner Scheiß­moral. Deine selektive Moral: Erpres­sung ja, Drogen nein. Rache ja, aber die Familie nicht anfassen. Schießen ja, aber nicht auf Poli­zisten. Das ist Folklore. Böse bleibt böse. Das muss man akzep­tieren.«

Wie gesagt: Das ist eine mora­li­sche Geschichte. Und kann man Zac wieder­spre­chen? Und dann: »Du bringst mich um, weil Du die Wahrheit nicht erträgst.« »Ich bring Dich um, weil Du mich verraten hast.« glaubt Charly, aber Zac entwaffnet ihn mit seinem nächsten unglaub­li­chen Satz: »Nicht lange nach­denken, sonst wird’s nichts.«

Zac hat über Charly gesiegt. Denn das Leben, in das Charly nach dem Attentat zurück­kehrt, ist genau das, das er um jeden Preis zurück­lassen wollte. Sterben und Überleben sind keine saubere Sache.

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Richard Berrys Film ist ein harter Thriller. Er heißt im Original L’immortel und entstand nach dem gleich­na­migen Roman des Star­jour­na­listen Franz-Olivier Giesbert. Dessen Haupt­figur Charly wiederum wurde inspi­riert vom Leben des Jacques »Mad Jacky« Imbert. 1929 geboren war er in den 60er und 70ern einer der gefürch­tetsten fran­zö­si­schen Mafiosi – und ein Freund von Alain Delon, mit dem zusammen er einen Trab­renn­stall besaß. Nach einem Mord­an­schlag durch seinen Haupt­kon­kur­renten 1977 blieb sein rechter Arm gelähmt, und er lernte mit links zu schießen. Elf Männer seines Konkur­renten wurden bald darauf erschossen.

Das alte Testament regiert, klar, es geht nicht um Vergebung, sondern um Auge um Auge. Das muss Charly schmerz­haft lernen. Was für eine schnöde Moral mancher Kritiker, wenn sie hier trotzdem nach der Moral des Films fragen. Denn natürlich wird hier, wenn man so will, ein Verbre­cher stili­siert, dessen Vergan­gen­heit und gegen­wär­tige Taten durch die mora­li­sche Frag­wür­dig­keit seiner Gegner nivel­liert werden. Ja und? Kunst ist keine Gerichts­ver­hand­lung und das Verlangen nach Gerech­tig­keit immer archaisch. An die Laterne mit dem Nicht­rau­cher Zac, was denn sonst?

Bei John Woo würde auch kein vernünf­tiger Mensch alltags­prag­ma­ti­sche Moral­fragen stellen. Und daher sollte man sich auch hier besser an die Filme von Verneuil und Melville halten, in denen man derglei­chen nicht mal zu denken wagte.