Georgien/D/GB/F 2000 · 98 min. Regie: Nana Dzhordzhadze Drehbuch: Nana Dzhordzhadze, Irakli Kvirikadze Kamera: Phedon Papamichael Darsteller: Nino Kukhanidze, Yevgeni Sidikhin, Shalva Iashvili, Pierre Richard u.a. |
Es war einmal in Georgien. Irgendwann in der Niemandszeit zwischen untergehender Kommunistenherrschaft und neuer Ordnung; die Kanonen krachen am Straßenrand, doch das stört nicht die gute Stimmung der Menschen, die im wackeligen Überlandbus durch die Berglandschaft holpern. So kommt ein frühreifes blondes Mädchen in eine namenlose Kleinstadt, um ihre Tante zu besuchen, es ist Sommer und es dauert nicht lang, da hat Sybilla, die von sich behauptet, vor nichts Angst zu haben,
alle Männer des Ortes um den Finger gewickelt.
Einer von ihnen ist Mickey, der die Geschichte im Rückblick erzählt. 100 Küsse hat die Verehrte ihm in jenem Sommer versprochen, aber 27 von ihnen wird er nie bekommen. Eigentlich ist Sybilla in Mickeys Vater verliebt, Alexander ist ein etwas weltfremder Astrologe, dem die Frauenherzen reihenweise zufliegen. Mit den Avancen dieser Provinzlolita weiß er zunächst nicht umzugehen, doch bis er sich irgendwann entscheiden muss, tröstet sie
sich mit dem Sohn über ihre metaphysische Langeweile.
Nana Dzhordzhadze, die georgische Regisseurin, die für 1001 Rezepte eines verliebten Koches 1996 immerhin für einen Oscar nominiert wurde, reist mit 27 Missing Kisses hinein in die Tiefe des postsowjetischen Chaos. Das Leben der Moderne ist weit, dafür zitiert man hier schon mal aus »Othello« oder »Was ihr wollt«, und Sybilla sagt: »Ich möchte Ophelia sein.« Ein Großteil des Films vergeht damit, dass der Zuschauer diese Welt besser kennenlernt. Man begegnet dem ganzen Panoptikum aus Absurditäten und skurillen Figuren, das man aus dem osteuropäischen Kino der letzten Jahrzehnte gewohnt ist: einem (frustrierten?) Offizier, der mit seinen Kanonen auf vermeintliche Nebenbuhler ballert, (aus Langeweile?) nymphomanen Frauen, geilen Lehrern, notorischen Trinkern und liebenswerten Geistesschwachen. Es gibt Familienessen zwischen alten Brücken und Fabrikruinen, die Menschen lachen und haben viel Zeit, sie gucken die Sterne an, gehen auf Dächern spazieren, lassen Papierflieger fliegen und tun acht Löffel Zucker in ihren Kaffee.
Die unbekümmerte Sybilla selbst raucht Zigarren, schreitet – es ist schließlich Sommer – gern im Nachthemd durch die Gegend, oder im BH, oder gleich völlig unbekleidet. Nicht minder nackt stolzieren auch die Metaphern: Wenn der Astrologe es mit einer seiner Geliebten auf dem Schreibtisch treibt, steht er, der Größe wegen – auf der alten Marx-Ausgabe. Mitten in der Stadt trifft man auf ein altes, drecküberwuchertes Schiff, das einst unter Wasser lag, und jetzt über Land fährt und von einem Kapitän bewohnt wird, der nur französisch spricht und das Meer sucht. Sehnsucht und Verständnislosigkeit – das könnte für den Sowjetkommunismus stehen, aber ebensogut fürs alte Zaren-Russland, oder doch für Georgien. Wer weiß? Vielleicht wollte Nana Dzhordzhadze damit für die nötige Kusturica-Würze sorgen, vielleicht fand sie das auch einfach poetisch, ebenso wie ein Kino, das ausgerechnet in der ehemaligen Rüstungsfabrik des Städtchens errichtet wurde. Dort schwelgen die Alten in Erinnerungen, wie einst Väterchen Stalin, der Sohn Georgiens, Akkordeon spielte. Heute zeigt man dort vorm ganzen Dorf Emanuelle, 25 Jahre zu spät, aber immer noch früh genug für den Schuldirektor, der sich das Gesehene so sehr zu Herzen nimmt, dass er beim Nachhilfeunterricht mit der Französischlehrerin (!) dahingerafft wird, zum Verdruss nicht nur seiner Witwe.
Die Handlung kommt bei solch einer Sintflut an Einfällen naturgemäß eher zu kurz und jedenfalls nicht voran. Ein bisschen Liebesreigen, Sybilla wirbt, der Sohn leidet, und der Vater verweigert sich, der Rest ist ein diffus-tragikomisches Panorama, dessen Unklarheit man allenfalls damit entschuldigen kann, dass man sie »charmant« findet. Erst ganz am Schluß, da beschleunigt und klärt sich alles ein wenig, und für einen Augenblick wird Rabelais dann plötzlich doch noch abgelöst von zwar nicht der modernen Welt, aber immerhin von Shakespeare.