Deutschland 2012 · 109 min. · FSK: ab 16 Regie: Sherry Hormann Drehbuch: Bernd Eichinger, Ruth Thoma Kamera: Michael Ballhaus Darsteller: Antonia Campbell-Hughes, Thure Lindhardt, Trine Dyrholm, Vlasto Peyitch, Jaymes Butler u.a. |
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Gefangen im Dilemma des Sensationalismus |
»Acht Jahre hat sie das Sonnenlicht nicht gesehen, Vogelgezwitscher nicht gehört, Schulfreundinnen nicht gehabt. Nach acht Jahren kommt sie als nicht gebrochenes Opfer ans Licht. Wir, die Zuschauer der Tragödie, haben ein Problem mit dem Opfer. Wir wollen es weinen sehen. Natascha Kampusch weint nicht.«
F. J. Wagner in »Post von Wagner«; BILD-Zeitung vom 19.02.2013
Wie macht man das? Wie zeigt man einen Zustand, den man sich nicht vorstellen kann, wenn man ihn nicht selbst erlebt hat, und vielleicht noch nicht mal dann? Den man auch nicht besser versteht, wenn man ihn gezeigt bekommt, seine äußere Hülle anschauen kann. Diese Frage führt ins Herz des Kinos, das gewissermaßen immer Oberflächen, Äußerlichkeiten finden muss für tiefe Emotionen, für schwer Verständliches, für Wahnsinn und Abgründe. Jeder Film kann sich einer Lösung nur annähern, und wie er das tut, macht den Unterschied aus zwischen Kunst und Kitsch, Begabung und solidem Handwerk, Stilgefühl und Geschmacklosigkeit. Sherry Hormans Film 3096 Tage über die Tortur der Natascha Kampusch ist diesem Dilemma nicht gewachsen.
Eine Projektionsfläche: Natascha Kampusch ist natürlich ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie ist aber auch ein Mediengeschöpf. Schon an den ersten Tagen nach ihrer Flucht im August 2006 aus jenem Kellerverlies, in dem sie der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil nach ihrer Entführung im März 1998 im Alter von zehn Jahren eingesperrt und den größten Teil der folgenden achteinhalb Jahre gefangen gehalten hatte, wurde sie zum Objekt von Deutungen und Interpretationen eines Heeres selbsternannter oder tatsächlicher Experten. Zu viele Emotionen weckte ihr Schicksal, als das man sie in Ruhe gelassen hätte, zu sehr eignete es sich dafür, in einige der zentralen Debatten und Diskurse unserer Zeit eingespeist zu werden: Es vermischte sich mit handfesten Themen wie der Missbrauchsdebatte, mit den Themen Pädophilie und Kinderpornos, aber auch mit Urängsten vor Hilflosigkeit, Ausgesetztsein. Kampusch schien wie eine moderne Märchenfigur, ein Dornröschen, das nach acht Jahren sich selbst wachgeküsst hat, ein Rotkäppchen unserer Zeit, das dem bösen Wolf entflohen war; ein Kaspar-Hauser-haftes Wolfsmädchen, das in seiner Abgeschiedenheit von der blöd machenden Zivilisation noch nicht verdorben wurde; ein weiblicher Robinson Crusoe, die in ihrem Kellerverlies tagelang auf sich allein gestellt war, sich selbst mit Schul- und Kinderbüchern selbst »erzogen« hatte, und die Außenwelt nur durch Radio, Fernsehen und Lektüre kannte; eine Überlebende aus der Haft in einem ganz persönlichen Konzentrationslager.
Das passte, und so wurden die Medien – und wir ihr Publikum – bald selbst zu einem gefräßigen Monster, das von Kampusch immer mehr wollte, auch Dinge, die sie nie zu geben bereit war.
Zugleich begann man bald schon über sie zu richten: Denn was einem in den Medien und in einem seinerzeit sensationellen Fernsehinterview im ORF, drei Wochen nach ihrer Flucht, entgegentrat, war kein Opfer, wie es die Mediengesellschaft sich wünschte und vorstellte: Keine schwache Persönlichkeit, die in Tränen aufgelöst Scheußlichkeiten berichtete und mit unserer Empörungssehnsucht auch gleich unseren Voyeurismus mitbefriedigte – sondern im Gegenteil eine
selbstbewusste junge Frau, die offenkundig überdurchschnittlich gebildet und sprachgewandt immer Herrin ihres Verstandes wie ihrer Worte war, ihre Gefühle kontrollierte, und auf dem Elementarprinzip der bürgerlichen Gesellschaft beharrte, der Selbstbestimmung. Darauf, nie wieder Opfer zu sein, sondern Souverän ihrer selbst zu bleiben. Darauf, ihr Schicksal, und das heißt in ihrem Fall: ihr Medienschicksal, selbst zu bestimmen.
Kampusch entschloß sich, zu uns nicht als Opfer
zu sprechen, weder als das ihres Peinigers, noch als das der Medien. Sie sprach als jemand, dem es aus eigener Kraft gelungen ist, ihrer Situation zu entfliehen und zu befreien.
»Natascha Kampusch gibt sich kontrolliert«, schrieb damals Andrea Jeska in der »Welt« – als könnte es, als dürfte es einfach nicht sein, dass sie auch kontrolliert ist. Als wäre es verboten, rational mit traumatischen Erfahrungen und den Medien umzugehen. Als wäre es nicht völlig plausibel, dass man, wenn man wenn man acht Jahre in der Hand eines Sadisten war, Selbstkontrolle lernt, das Beherrschen der eigenen Gefühlsreaktionen – und damit vielleicht besser für das
Stahlgewitter der Medien und ihre Angriffskriege gegen die Privatheit gewappnet ist, als manch einer, der sich heute so ins Dschungelcamp setzt. Aber natürlich verraten auch diese letzte Sätze eigentlich nur etwas über ihren Autor, also über mich, so wie die vorher zitieren nur etwas über die Welt-Autorin verraten.
Wir können nämlich gar nicht über Natascha Kampusch schreiben. Wir schreiben immer nur über uns selbst
Irritierend wirkt an Kampusch ihr demonstratives Selbstbewusstsein und ihre souveräne Sprache. Beides passt nicht zu dem Bild, das sich die Öffentlichkeit gern von einem Entführungsopfer machen. »Ich will kein Opfer sein«, betont Kampusch sie. Zudem spricht sie mitmenschlich über ihren Kidnapper, und verweigert sich der öffentlichen Erwartung, Priklopil als ein Monster darzustellen: »Auch Verbrecher sind Menschen«, sagte sie in einem Interview. Bei Günther Jauch sprach sie kürzlich wie ein Verbrechens-Psychologe von seinem »inneren Gefängnis« und bescheinigte ihrem Peiniger »emotionale Instabilität«.
Natascha Kampusch hat sich in ihrem Keller eigenständig fortgebildet. Sie erschien nach ihrer Flucht weder hospitalisiert noch traumatisiert. Das wollte und will man ihr nicht durchgehen lassen. Sie hat sich gefälligst wie ein Opfer zu verhalten.
Am Fall Natascha Kampusch zeige sich die Unfähigkeit der modernen Gesellschaft, »Opfer zu denken« schrieb die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz 2006. Sie hat recht. Es geht aber noch weiter: Man kann nämlich den ganzen Fall Kampusch gar nicht denken. Man kann nicht über Natascha Kampusch schreiben, weil man sie so wenig kennt, wie kaum einen anderen Menschen. Weil man ihre Erfahrungen nicht geteilt hat. Glücklicherweise.
Denn, daran kann unter vernünftigen Menschen kein Zweifel bestehen, Kampusch ist durch die Hölle auf Erden gegangen, hatte Erfahrungen gemacht, die kaum einem Menschen vermittelbar sind. Um genau diese Erfahrungen kreist Sherry Hormans Film. Das Projekt war noch von Bernd Eichinger, dem 2011 verstorbenen Münchner Filmproduzenten in die Wehe geleitet worden. Das von ihm begonnene Drehbuch wurde zuende geschrieben, und Sherry Horman, nach der beim Publikum erfolgreichen »Wüstenblume« auf einmal eine gefragte Regisseurin für »Frauenthemen«, angetragen.
Eine unglaublich enge Zelle. Ohne Außenlicht, nur mit einer kleinen Lüftung. Anfangs ist sie fast leer, bis auf ein Waschbecken und eine Toilette. In ihm kauert ein kleines Mädchen, neben sich den Schulranzen. Allmählich wird die Zelle eingerichtet, mit einem Hochbett, einem Tisch, Radio, vielen Büchern. Eine Gegensprechanlage wird eingerichtet, zusätzliches Licht. Das Mädchen wird größer, zur pubertierenden jungen Frau. Sie führt heimlich Tagebuch. Während dieser Zeit wird sie immer wieder gedemütigt, vergewaltigt, psychisch und körperlich gequält. Ihr Wärter, ein erwachsener Mann, der die Zelle unter der Garage eines Einfamilienhauses ausgehoben und mehrfach gesichert hat, lässt das Mädchen selten nach oben. Dort darf sie gelegentlich essen, manchmal duschen und übernachten, noch seltener streng bewacht kurz in den Garten gehen. Eine Fluchtmöglichkeit gibt es nicht. Und wenn sich eine zu eröffnen scheint, ist das gedemütigte, isolierte Mädchen kaum fähig, sie zu nutzen. Eine Tortur, ein menschlicher und moralischer Abgrund; der pure Wahnsinn.
Wie macht man das? Wie zeigt man einen Zustand, den man sich nicht vorstellen kann, wenn man ihn nicht selbst erlebt hat, und vielleicht noch nicht mal dann? Den man auch nicht besser versteht, wenn man ihn gezeigt bekommt, seine äußere Hülle anschauen kann. Diese Frage führt ins Herz des Kinos, das gewissermaßen immer Oberflächen, Äußerlichkeiten finden muss für tiefe Emotionen, für schwer Verständliches, für Wahnsinn und Abgründe. Jeder Film kann sich einer Lösung nur annähern, und wie er das tut, macht den Unterschied aus zwischen Kunst und Kitsch, Begabung und solidem Handwerk, Stilgefühl und Geschmacklosigkeit.
Dem Dilemma, das im Prinzip unlösbar ist, begegnen manche Filmemacher, in dem sie nichts zeigen, oder wenig, aussparen. Andere versuchen alles zu zeigen, malen aus, betonen. Sherry Horman tut irgendetwas dazwischen. Sie zeigt, aber dann wieder auch nicht. Der Film behauptet, das zu erzählen »was wirklich geschehen ist« (so die Presseinformation des Verleihs). Aber an einigen Punkten weicht der Film ganz einfach von den bekannten Tatsachen ab, oder bleibt zumindest bewusst vage,
obwohl des dafür keinen einsichtigen Grund gibt. So etwa wurde Kampusch nicht nach der Schule auf dem Nachhauseweg entführt, sondern auf dem Weg dorthin. So hatte sie im Verlies Fernseher, Videorecorder und einen Computer, nicht etwa nur ein Radio. Nach ihrer Flucht wollte Kampusch ihre Eltern zunächst nicht gleich wiedersehen. Im Film trifft sie sie noch auf dem Polizeirevier. Auch dass die 18-jährige schon ganz kurz nach ihrer Flucht in die Fänge von PR-Beratern geriet, der Kampf um
die Medienhoheit von Anfang an von allen Seiten geführt wurde, wird verschwiegen...
Das sind Details, und nicht weiter wichtig, nähert aber doch Zweifel, wie es sich denn im Übrigen verhält.
Die späte Pressevorführung sagt schon alles über das Vertrauen des Verleihs zu seinem Film. Es soll nur ja nichts vorab nach Außen dringen. Seltsam kühl und aseptisch bleibt der Film. Es gelingt nicht, Empfinden für die schlimmen Erfahrungen, die Lage des Mädchens zu wecken.
Müde wird abgehakt: Ein bescheuert angezogener Outsider entführt das Kind, das vorher Streit mit der Mutter hatte. In nur in einem Raum im Kellerverlies unter der Garage muss sie hausen. Er liest ihr »Die
Prinzessin auf der Erbse« vor. Ein Stockholm-Syndrom wird sachte angedeutet, aber nie erläutert. Am »183«. Tag spielt sie mit ihren Kostümen Rollenspiele, »4 Jahre später« spielt sie eine andere Darstellerin; bei »1695« bekommt sie erstmals ihre Regel; ihr Wärter leidet unter einer Mutter mit Reinigungsfetischismus. Er schert ihr die Haare raspelkurz. Sie leidet unter Magersucht. Sie feiert Weihnachten. Bei »1837« hört sie Radio. Sie liest »Das Dschungelbuch«, »Die Schatzinsel«,
»Winnetou«. Sie kommt mit zum Baumarkt, ohne einen Ausreißversuch. Bei »2847« gehts Skifahren. Bei »2908« wird sie 18. Sie hat ein Messer in der Hand, rammt es Priklopil aber nicht in den Bauch, sondern schneidet nur die Torte. Warum? Wieso? Diese Fragen möchte man gegen die Leinwand brüllen, der Film hält sich bedeckt, und bevor er etwas Falsches sagt, sagt er uns lieber gar nichts. Aber Angst war noch nie ein guter Regisseur.
Vor allem aber: Wer soll das eigentlich sehen? Wer will es sehen? Muss man es sehen? Was soll das alles? Ein Dokumentarfilm ist 3096 Tage ja nicht. Vielmehr ist dies ein schizophrener Film: Einerseits eine kreuzbrave Nacherzählung wesentlicher Passagen aus Kampuschs Autobiographie, die auf echte Stars ebenso verzichtet, wie auf Filmmusik und jede andere Form von Sentimentalität; andererseits ein kalkuliertes Spiel mit dem Voyeurismus und Sensationalismus von uns allen. Ein Film, der uns bei unseren unsympathischeren Instinkten packt.
Auch bleiben zentrale Fragen völlig ausgespart: Dass die 18-Jährige schon ganz kurz nach ihrer Flucht in die Fänge von PR-Beratern geriet, und einen Kampf um die Medienhoheit über ihre Geschichte austragen musste, wird verschwiegen – denn es hat ja auch etwas mit diesem Film zu tun. Die schon bald aufgekommene Frage, ob es noch andere Täter gab, wird ebenso totgeschwiegen.
Immerhin kann man zugestehen: Es hätte schlimmer kommen können. Der Film denunziert seine Figuren nicht, er ist einfach nur langweilig. Das was er zeigt, kennt man irgendwie und in seiner tiefen Substanz wird man es hoffentlich nie kennenlernen. Horman und ihr Kameramann Michael Ballhaus, der auch schon inspirierter gearbeitet hat, bebildern. Aber es gelingt ihnen nie, zumindest ein einziges Bild zu finden, das eine Ahnung schafft für die Realität des Kellerlochs, das in uns eine Vorstellung von dem Wahnwitz und die Abgründe weckt, die Kampusch 3096 Tage lang erlebt hat.