GB/Ö/F/BR 2011 · 110 min. · FSK: ab 12 Regie: Fernando Meirelles Drehbuch: Peter Morgan Kamera: Adriano Goldman Darsteller: Anthony Hopkins, Jude Law, Rachel Weisz, Moritz Bleibtreu, Ben Foster u.a. |
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Modern, elegant, global, intensiv, leicht |
Das Stubenmädchen: Bitt' schön, junger Herr?
Der junge Herr: Ah ja, Marie, ah ja, ich hab' geläutet, ja... was hab' ich nur... ja richtig, die Rouletten lassen S' herunter, Marie... Es ist kühler, wenn die Rouletten unten sind... ja...
(Reigen, Arthur Schnitzler, 1896/97)
Modern, global
Während es in Schnitzlers Theaterstück um einen erotischen Reigen der unterschiedlichen Gesellschaftsklassen und die Anziehung und Abstoßung vor und während des Geschlechtsaktes geht, interessiert Fernando Meirelles (Regie) und Peter Morgan (Drehbuch) in ihrem Film, der sich nur zart auf den Reigen beruft, vor allem das Thema der Weggabelung, der menschlichen Entscheidung. So spielt 360 auch nicht ausschließlich in Wien
(oder wie der Berliner Reigen von Dieter Berner nur in Berlin), sondern in vielen Ländern und Städten: u. a. Paris, London, Bratislava, Denver. Nicht mehr der Park und das Restaurant sind die Schauplätze der amourösen Annäherungen, sondern Flughäfen und Hotelzimmer.
Elegant, intensiv
Verschiedene Phasen und Aspekte der Liebe und Sexualität werden in elegant miteinander verwobenen Geschichten durchgespielt und ergeben eine schillernde Bestandsaufnahme moderner Beziehungen. Ein Ehepaar (Jude Law, Rachel Weisz) betrügt sich, sucht sich neu, findet sich wieder. Eine Prostituierte (Dinara Drukarowa) bekommt die Chance ihres Lebens. Ein Zahnarzt (Jamel Debbouze- bekannt aus Die fabelhafte Welt der Amélie) begehrt seine Zahnarzthelferin, ein Sexualstraftäter (Ben Foster) wird in Versuchung geführt, ein trockener Alkoholiker (Anthony Hopkins) sucht seine vermisste Tochter usw. Dabei mischt der Zufall – zum Beispiel in Form eines Schneesturmes – ganz gehörig die Karten. Trotzdem bekommen im Film die Menschen immer die Chance, sich zu entscheiden, welchen Weg sie einschlagen. Dies sind die
spannendsten und auch die überraschendsten Momente, weil über allem nicht der große Titel Tragödie oder Komödie steht, sondern das unberechenbare Leben mit seinen vielen Möglichkeiten an Verlust und Gewinn. Wie entscheidet sich der überforderte, gerade aus dem Gefängnis entlassene Tyler, als er plötzlich die Chance bekommt, mit einer jungen Brasilianerin aufs Zimmer zu kommen? Wird der russische Ehemann (Wladimir Wdowitschenkow), unglücklicher Chauffeur eines brutalen
Großkriminellen (herrlich fies, wie schon in Im Angesicht des Verbrechens: Mark Ivanir), seine Frau für die junge Anna verlassen und ein neues Leben wagen? Dramatik und emotionale Verdichtung, die sich im ganzen Film ganz auf die Überzeugungskraft der Schauspieler verlässt: der schwitzende Ben Foster, der verwundet-fragende Blick von Hopkins, die nach und nach unter den leuchtenden Augen Gabriela
Marcinkovas auftauende Mimik Wdowitschenkows. Routiniert überzeugend auch Jude Law und Rachel Weiz, eine (leider) kleine Rolle für Moritz Bleibtreu. Meirelles (mit Hilfe von Leo Davis – Casting) hat sich bei seiner Besetzung offensichtlich um Internationalität bemüht. Das intelligente Drehbuch wird filmisch dezent und mit unauffälliger Musikunterstützung umgesetzt. Trotz vieler Wechsel und Sprünge zwischen den Personen und Schauplätzen bekommt jede Szene und ihre
jeweiligen Spieler genügend Raum, um das Entscheidende zu zeigen. Und das Entscheidende ist eben in jeder Episode etwas anderes: Liebesglück und Liebesverlust, Geldgewinn, Tod, Reifung etc. Hierin unterscheidet sich 360 von anderen von Short Cuts inspirierten Filmen, die sich konsequent und erbarmungslos einer bestimmten Weltsicht und Moral verschreiben und damit auch
wuchtiger und verstörender daher kommen. 360 ist intensiv, aber leicht.