Großbritannien 2004 · 69 min. · FSK: ab 16 Regie: Michael Winterbottom Drehbuch: Michael Winterbottom Kamera: Marcel Zyskind Darsteller: Kieran O'Brien, Margot Stilley, Bobby Gillespie, Robert Young u.a. |
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Sex & Brit-Pop |
Neun Lieder, gespielt jeweils in der Londoner Brixton Academy auf Live-Konzerten, bilden die Struktur von Nine Songs. Es sind verschiedene Bands, das hippste, was Brit-Pop zur Zeit zu bieten hat – von »Franz Ferdinand« über »Von Bondies« bis »Primal Scream«. Es sind energiegeladene Auftritte, die man da sieht in fast dokumentarischen Aufnahmen, sie lassen eintauchen den Zuschauer in die Atmosphären des Augenblicks. Lisa, die Studentin, und Matt, der Polarforscher besuchen die Konzerte, und ein wenig strukturieren sie nicht nur den Verlauf der Handlung, sie kommentieren ihn auch – wie die hypermoderne Variante eines antiken Chors.
Eine Tragödie ist es allerdings nicht, die der Brite Michael Winterbottom erzählt. Lisa und Matt sind das Paar in einem Film, der ganz um sie zentriert ist, und nichts anderes zeigt, als die Liebesgeschichte zwischen den beiden, so einfach und gradlinig und offen, wie möglich. Wir sehen beide immer abwechselnd auf Konzerten und im Bett. Zu sagen hat sich das Paar nicht besonders viel, in der Liebe, das scheint Winterbottom zu meinen, kann es auf ganz andere Dinge ankommen – im Zentrum steht ein rein körperliches Wohlgefühl, das durch Sex genauso hervorgerufen werden kann, wie durch Musik.
Mehr als in vielen seiner Filme, zeigt sich Winterbottom diesmal als Formalist. Nine Songs ist ein Experiment, in dem der Regisseur testet, ob eine Struktur trägt, die die Geschichte relativ schematisch in zweimal neun Teile fragmentiert. Auf diese Weise zeigt er auch, wie Zusammensein sich zunächst an Intensität steigert, wie diese dann wieder allmählich nachlässt, bevor am Ende ein recht leidenschaftsloses Auseinandergehen steht.
Noch wichtiger ist allerdings, wie Winterbottom ganz konkret die Grenzen des Zeigbaren auslotet: Nine Songs zeigt expliziten Sex, in sehr verschiedenen Variationen. Obwohl er dabei an Deutlichkeit vieles überschreitet, was – von Bertoluccis Der letzte Tango in Paris bis zu Catherine Breillats Romance – einst großen Skandal machte, ist dies niemals ein Porno, bleibt der Film immer in aller Offenheit dezent. Einmal mehr zeigt sich Michael Winterbottom als hochinteressanter Filmemacher – und der wohl experimentierfreudigste Regisseur Europas. Jeder seiner Filme ist anders, und jeder ist den Besuch wert.
Was Nine Songs mit Bertoluccis berühmtem Skandalfilm gemeinsam hat, ist die nicht ganz gleichberechtigte Perspektive: Aus dem Off erzählt Matt im Rückblick die Stationen ihrer Geschichte. Da erlebt man einen etwas weinerlichen, und letztlich arg selbstbezogenen Mann, der gerade zum ersten Mal sein Altern spürt. Der Liebesakt als Selbstbestätigung und Memento Mori. Die Offenheit, mit der Winterbottom auch diesen Aspekt zeigt, mit der er den Männerblick sich selbst entlarven lässt, spricht für die Klugheit dieses Regisseurs. Und gut möglich, dass man in 30 Jahren in diesem Film ähnlich viel Zeitgeist und Alltagskultur unserer Gegenwart entdeckt, wie sich heute die frühen 70er im letzten Tango spiegeln.
Die einzige Frage, die der Film offen lässt, ist, ob all dies wirklich etwas mit Liebe zu tun hat? Es sei »eine Liebesgeschichte«, darauf bestand der Regisseur in unserem Interview. Vielleicht erzählt Nine Songs aber doch weniger von der Liebe, als einfach davon, wie es ist, wenn zwei Leute gern miteinander ins Bett gehen. Das kann ja auch schön sein. Von der Liebe erzählt Winterbottom aber viel mehr und facettenreicher in seinem neuesten Film Code 46, der ab März 2005 im Kino laufen wird.