USA 2016 · 128 min. · FSK: ab 16 Regie: Gavin O'Connor Drehbuch: Bill Dubuque Kamera: Seamus McGarvey Darsteller: Ben Affleck, Anna Kendrick, J.K. Simmons, Jon Bernthal, Cynthia Addai-Robinson u.a. |
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Steuerberatung mit Thrill. Ja! |
Hollywood – bei diesem Wort mögen manche heute vor allem an den monatlichen Superheldenfilm und das Weihnachtsfantasyspektakel denken. Doch neben solch austauschbaren Waren aus den Fabriken der Kulturindustrie steht Hollywood auch für originelle Geschichten und Stars von klassischem Charisma.
Zu einem solchen entwickelt sich mehr und mehr Ben Affleck. In den letzten Jahren hat Affleck einen erstaunlichen darstellerischen Reifeprozess vollzogen: Humor und
Tiefe, schillernde Doppelbödigkeit und reife Ironie zeichnen ihn aus. In seiner Rolle als »accountant«, einem Autisten und Mathematik-Genie, der als Buchhalter für die Mafia arbeitet, erinnert er sogar an den unvergesslichen Cary Grant.
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»Und wer ist er?« – »The accountant.« – »Sie meinen ein Buchhalter?« – »Nein, nicht ganz.«
(Dialogauszug)
»Accountant«, das bedeutet auf Englisch Buchhalter. Als Adjektiv meint »accountable« aber auch soviel wie rechenschaftspflichtig und verantwortlich. Um den Doppelsinn dieses Titels, um die moralische Verantwortung eines Buchhalters und Zahlenmenschen kreist der Thriller von Regisseur Gavin O’Connor.
Der titelgebende »accountant« ist ein Amerikaner: Er heißt Christian Wolff und ist zwar der Gute in diesem Film, aber er arbeitet für die Bösen. Der etwa vierzigjährige Mann im korrektem Anzug mit etwas zu eng gebundener Krawatte ist einerseits ein netter Typ, der alten Leuten hilft, bei der Steuer zu sparen. Andererseits gehören zu seinen Kunden Drogenkartelle, Waffenschieber und Terroristen. Vor allem aber ist er Autist. Einer mit den Fähigkeiten eines Einstein oder Mozart (wie ein Therapeut bemerkt) (wobei damit nicht gesagt werden soll, dass die beiden Autisten waren). Schon als Kind konnte der Mann komplizierteste Puzzle in Sekundenschnelle lösen, und litt gleichzeitig unter schwersten Sozialstörungen. Dieser Mann sieht keine Menschen, sondern Zahlen. Er erinnert an Woody Allens Figur Zelig: Überall dabei, aber seltsam außen vor. Auf Fotografien ist er immer irgendwo im Hintergrund.
Tagsüber führt er ein biederes kleines Steuerberatungsunternehmen, in seiner Freizeit geht er unter hochgesicherten Umständen anderen Geschäften nach – und hat zu Hause Koffer voller Bargeld und eine echtes Jackson-Pollock-Gemälde im Schlafzimmer.
Zur Tarnung übernimmt der Buchhalter eines Tages den legalen Auftrag, die Bilanzen eines Biotech-Konzerns vor dessen Börsengang zu prüfen. Gemeinsam mit einem weiteren Mathe-Genie, der Angestellten Dana stößt er dabei auf eine Verschwörung.
Gavin O’Connors Film steigt zunächst einmal ein in die Psychologie dieses merkwürdigen Menschen. Denn obwohl wir als Zuschauer von TV- und DVD-Serien, vor allem von »Breaking Bad«, darauf vorbereitet sind, müssen wir uns erstmal daran gewöhnen, einen Autisten im Auftrag der Mafia, der Berührungen nicht erträgt, aber über brillante Kampfkunstkenntnisse verfügt und gelegentlich auch mal einen Menschen um die Ecke bringt, als Helden zu akzeptieren.
An seinen
Charakterdefiziten, das lernt man früh, sind die Eltern schuld. Papi war ein eiskalter Militäroffizier, Mami dagegen eine schwache Hausfrau. Von Papi hat er nicht nur das Morden gelernt, sondern Lehren fürs Leben. Zum Beispiel diese: »The world is not a friendly place. Victim or not – make a decision.«
Genaugenommen heißt die Figur auch nur im Augenblick Christian Wolff, aber nicht wirklich. Er nannte sich auch schon Karl Gaus und Lewis Caroll – die Namen berühmter Mathematiker.
Hinzu kommt, dass die Hauptfigur von Ben Affleck gespielt wird, der nicht nur gut aussieht, und das Publikum durch kuriose, ebenfalls moralisch angekränkelte Superhelden wie Batman und Daredevil bereits auf nahezu alles gefasst gemacht hat, sondern der mit den Jahren eine geradezu Cary-Grant-hafte Nonchalance entwickelt, ein Schweben über den Abgründen der Figurenzeichnung und anderer Drehbuchschwächen – einfacher gesagt: Ben Affleck nimmt man einfach alles ab, und man weiß: Am Ende ist man in guten Händen und es wird sich schon alles richten. Auch bei Hitchcock war Cary Grant am Ende nie der Mörder.
Wenn insofern der moralische Grund bereitet ist, nimmt der Film nach einer halben Stunde richtig Fahrt auf. Gangster werden zur Strecke gebracht, FBI und Steuerfahndung greifen ein, und unser Held Christian Wolff hat einen weiten Weg zu gehen: Rache und Liebe, Thriller und Psychologie verbinden sich zu einem Film, der vielleicht nicht in die Filmgeschichte eingehen wird, aber jederzeit außergewöhnlich ist.