Großbritannien/USA 2022 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Charlotte Wells Drehbuch: Charlotte Wells Kamera: Gregory Oke Darsteller: Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall, Kayleigh Coleman, Sally Messha u.a. |
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Ein wunderschöner Film, ein atmosphärisches Meisterwerk... | ||
(Foto: DCM) |
»Als du 11 Jahre alt warst, was dachtest du, würdest du jetzt tun?«
– Sophie, in: Aftersun
Dies ist einer jener Filme, die auf den ersten Blick um das große Nichts kreisen. Trotzdem keineswegs »Slow Cinema« – vielmehr eine Reflexion über die Zeit und ihr Vergehen; die Zeit als treibende und sogar vernichtende Kraft. Die Zeit ist in diesem Film eine verborgene Macht, die sich nach und nach offenbart, sie ist buchstäblich der Schurke und Antagonist dieser Geschichte.
Es ist eine Vater-Tochter-Geschichte. Man lernt Calum (Paul Mescal) und Sophie (Frankie Corio) ganz allmählich immer besser kennen: Vater und Tochter, die aber fast wie Geschwister wirken. Er ist ein noch sehr jugendlicher Vater, und sie, 11-jährig, ist schon fast ein junges Mädchen, kurz vor der Pubertät. Beide haben eine enge Bindung zueinander, zugleich driften ihr Leben und ihre Lebenssituation immer weiter auseinander.
Sie verbringen den Urlaub zusammen, in der Türkei und das
nicht zum ersten Mal. Man sieht sie Billardspielen, Tauchen, man spürt die existentielle Verständnislosigkeit von Kindern gegenüber den Eltern, die auch anhält, wenn man selber erwachsen ist.
Calum ist nicht mehr mit Sophies Mutter verheiratet und ist aus seiner schottischen Heimat weggezogen; er fühlt sich dort nicht mehr zuhause. Überhaupt fühlt sich Calum nicht mehr wohl in seiner Haut, ganz im Gegenteil. Die flüchtigen Kameraaufnahmen lassen sein wachsendes Unbehagen,
eine Schwermut spürbar werden.
Zu jung, um alt zu sein, und zu alt, um jung zu sein – Calum befindet sich in einem Zwischenraum. Er wurde ungeplant Vater, er spürt die Zeit durch seinen Körper rinnen und hadert damit. Irgendwie bricht er immer noch auf und beginnt sein Leben, das längst begonnen hat, dann wieder hat er vielleicht schon aufgegeben und mit ihm abgeschlossen.
Es gibt immer noch Raum zum Nachdenken, dazu alles über den Haufen zu werfen und neu zu beginnen. Zu Calums Qualen gehört auch der Mensch und Vater, der er nicht ist, der zu sein er sich nicht in der Lage fühlt und der er wohl tatsächlich nicht sein kann.
Sophie dagegen sieht man auf der Leinwand bei ihrem Reifeprozess, beim Erwachsenwerden zu. Aus einem ganz weichen Kind wird sie zu einer schon beinahe reifen jungen Frau.
Wir sehen auch verschwommene Zukunftsvisionen eines
Kindes von sich als erwachsener Frau. »Als du 11 Jahre alt warst, was dachtest du, würdest du jetzt tun?«
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Schon als Kurzfilmregisseurin scheute die Schottin Charlotte Wells nicht davor zurück, ganz intim und persönlich zu sein, während sie sich mit Aftersun, ihrem Debüt im Spielfilmformat, noch in höhere, komplexere Sphären erhebt. Selbst der ahnungslose Zuschauer braucht kein Wissen um Wells' Biografie, um zu spüren, dass sich hier die poetische Phantasie mit Erinnerungen und Empfindungen an die letzte Begegnung zwischen ihrem Vater und der Tochter in einem Sommerurlaub in den 1990er Jahren mischen.
Diese retrospektive Wiederannäherung an die Vaterfigur fällt mit der Schilderung jener ersten tastenden Erfahrungen zusammen, die ein Kind, Mädchen wie Junge, in der Phase der Adoleszenz macht, vom Zugang zum Verbotenen bis hin zu den Interaktionen mit den Eltern und anderen »Großen«, die ihm ein klareres Verständnis für die Funktionsweise der Welt der Erwachsenen vermitteln.
Behutsam und sensibel wird Aftersun zu einer universellen Parabel über die Facetten des Lebens, über Hoffnungen und Erwartungen, Gelingen und Scheitern, die Welt der Kinder und Jugendlichen und die Welt der Erwachsenen – ein weltweit gefeierter Film. (Nur die europäische Filmakademie hat in den Massenabstimmungen für ihre Filmpreise 'den Schuss nicht gehört' und diesen Film verpasst.)
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Das Debüt der 35-jährigen Britin ist ein philosophischer Film: Ein Mosaik der vergehenden Zeit, eine hochsensible, gefühlvolle, dabei flockig leichte und keinesfalls schwermütige Meditation der Lebensphasen, die uns allen im Lauf der Zeit durch die Finger gerutscht sind; die von uns selbst im Rückblick immer wieder neu konfiguriert werden, durch Erinnerungen, durch Interpretationen, dadurch, dass wir sie wieder und wieder erzählen, auch uns selbst: verdicken,
verfälschen, programmieren.
Charlotte Wells legt dieses Hauptthema von Anfang an offen dem Betrachter dar: Archivbilder werden in einer Szene zurückgespult, sodass wir den Zustand der Erinnerung als einen gemachten kennen lernen.
Alles existiert auf offener Bühne: die Gegenwart wie die Vergangenheit, und beide haben gleiches Gewicht bei der Fabrikation dessen, was wir sind. Und dies, wer wir sind, ist in der Regel eine wachsende Ansammlung von Erfahrungen, Ereignissen, Menschen, Orten – von der Zeit.
Dies ist auch ein Film über die Aufzeichnungsmaschinen (Friedrich Kittler) und ihre Historizität, die die Historizität der Erinnerungen selbst noch verdoppelt. Denn man muss an diese materiellen Erinnerungen erst herankommen und man muss erst die je eigene Sperre und Grenze der technischen und materiellen Erinnerungsträger und -geräte überwinden. MiniDV und deren grobe Bilder, Pixel, aber auch das explosive schlierige Polaroid erwachen hier für kurze Zeit zum Leben.
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Die zarte, nur insgeheim höchst schmerzhafte Trauer über Ende der Unschuld und der Beginn einer anderen Zeit sind das eine Gefühl, das dieser Film auslöst. Das andere ist die melancholische Trauer darüber, dass die Zeit vergangen ist, dass nicht alles so ist, wie man es sich versprochen hat, und dass es kein Zurück mehr gibt.
Es könnte ein Liebesfilm sein und ist es auch, aber es geht um Vater und Tochter. Es geht hier um die Zeit – auch die nicht-lineare, darum, dass der Zugang zur Vergangenheit nicht verloren geht. Und dass man sich trotzdem nicht in ihr verliert. Calum ist in einer anderen Zeit als seine Tochter; und Sophie sucht nach diesem Mann, der irgendwie in einer anderen Welt, der Vergangenheit, geblieben ist.
Ein wunderschöner Film, ein atmosphärisches Meisterwerk.
»Hör auf, du bist so peinlich!« Das Zoomgeräusch einer Digicam, unkontrollierte Kameraschwenks. Das verwackelte Bild filmt einen jungen Mann vor einer Balkontür. Kaum erkennbar vor dem grellen Gegenlicht des strahlenden Himmels hüpft er auf und ab, macht alberne Bewegungen, um das kleine Mädchen hinter der Kamera zum Lachen zu bringen. Erfolgreich – wenn auch nur auf seine Kosten. »Wie hast du dir mit elf dein Leben heute vorgestellt?«, will sie plötzlich wissen. Doch auf diese Frage antwortet er nicht. Sein Blick verändert sich, das Bild friert ein.
Sommer in den 1990ern. Der junge Vater Calum (Paul Mescal) ist mit seiner Tochter Sophie (Frankie Corio) im Türkeiurlaub. Obwohl sie sich nicht oft sehen, wird schnell klar, dass zwischen ihnen eine große Verbundenheit herrscht. Sie verständigen sich mit Insiderwitzen, machen sich über den Tourguide mit der schrillen Stimme lustig und gehen auch sonst durch dick und dünn.
Sophies charmante Videos, in denen sie sich selbst in einer Art Videotagebuch filmt, bilden einen roten Faden im Film und sorgen im Kinosaal garantiert für Lacher. »Es ist schön, dass wir denselben Himmel teilen. Auch wenn wir getrennt sind, sehen wir so dieselbe Sonne«, erklärt sie ihrem Dad, als sie gemeinsam am Pool liegen. Es sind diese fragilen Momente zwischen Vater und Tochter, die das Publikum fesseln und an der Intimität dieser Beziehung teilhaben lassen.
Charlotte Wells' Autorenfilm erzeugt ein Gefühl der letzten Spätsommertage – man kann sich zwar noch in die wärmeren Regionen flüchten und doch ist das Ende der Urlaubssaison permanent spürbar. Zuhause wartet der Kälteschock. Auch die Kamera unterstreicht dies, indem sie die besondere Melancholie des Films einfängt. Gregory Oke blendet von Panoramaaufnahmen des Meeres auf den strahlend blauen Himmel über. Endlose Weiten. Um dann plötzlich wieder in die Mikroebene einzutauchen.
Denn es sind oft die entschleunigten, privaten Momente, auf die die Kamera draufhält, obwohl die Handlung eigentlich woanders stattfindet. Eine schlafende Sophie mit leisem Atem oder ein schmutziger Badezimmerspiegel in der Dunkelheit des Hotelzimmers, während Calum und Sophie bereits gegangen sind. Wir sehen oft nur einen Bruchteil davon, was tatsächlich passiert.
Und genau darum scheint es in Aftersun zu gehen.
Denn wie sich auch psychische Krankheiten häufig hinter den Kulissen abspielen, muss man auch hier ein zweites Mal hinschauen, um die Geschichte zu erkennen, die eigentlich erzählt wird. Es sind die kleinen Dinge: melancholische Blicke, nächtliche Schlaflosigkeit. Zu lange Pausen vor einer Antwort und immer wieder die liebevolle Fürsorge gegenüber Sophie. Mit Nachdruck will Calum ihr beibringen, sich aus
dem Griff eines potenziellen Angreifers zu befreien. Er hält ihre Handgelenke fest und redet auf sie ein. Sophie kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Doch ihr Vater lacht nicht: »Das ist ernst, Sophie, es ist wichtig, dass du das kannst!«
Der Film zeichnet einen interessanten Kontrast zwischen den beiden Lebenswelten der Hauptcharaktere. Es schleichen sich immer wieder Coming-of-Age-Elemente in die Handlung, sobald der Fokus auf Sophie liegt. Mit verstohlenem Blick beobachtet sie ganz genau die Zärtlichkeiten zwischen den Teenagern in ihrer Ferienanlage. Ein Einblick in eine Zeit, die noch vor ihr liegt. Ihre Neugier ist geweckt. Bei Calum findet man eine solche Neugier nicht mehr. Er sieht sich selbst nicht mit 40, erklärt er einem Touristenguide schmunzelnd. Ein Wunder, dass er es bis 30 geschafft hat.
Der letzte Abend in der Ferienanlage, auch dieses Pflicht-Event erspart Calum seiner Tochter nicht – Erinnerungspolaroid und Tanzeinlage inklusive. »This is our last dance«, singt David Bowie über den legendären Klängen von Queen in »Under Pressure«. Sophie grinst ihren Dad an, schüttelt den Kopf und lässt sich dann doch darauf ein. Beide haben sichtlich Spaß, wissend, dass bald der Abschied auf sie wartet. Sophie fliegt zurück zu ihrer Mutter, die Sommerferien sind zu Ende.
In einer scheinbar anderen Dimension tanzt Calum wieder zu dem Lied, ernster, aber auch ausgelassener, freier. Eine junge Frau bahnt sich mühsam den Weg zu ihm durch die tanzende Menge. Die Lichter flackern, versperren die Sicht. Abgehackte Bewegungen, schmerzverzerrte Gesichter. Die beiden klammern sich aneinander und wissen doch, dass sie loslassen müssen.
Heute sitzt Sophie auf dem Sofa ihres Wohnzimmers. Dunkler Pony, blasses Gesicht. Bis auf die Haarfarbe hat sie auf den ersten Blick nicht mehr viel mit der lebensfrohen Sophie von früher gemeinsam. Ihr Blick richtet sich auf den Fernseher vor sich. Auf die Videos aus ihrer Kindheit. Ihr Kopf ist voller Fragen.
Charlotte Wells zeigt in ihrem Familiendrama, wie Nahe Glück und Schmerz oft beieinander liegen. Pixel für Pixel kann ein Video eine völlig andere Geschichte erzählen als die Realität dahinter. Denn so sehr man es auch nicht wahrhaben möchte: irgendwann folgt immer der Herbst.