Deutschland/Österreich 2016 · 94 min. · FSK: ab 16 Regie: David Clay Diaz Drehbuch: David Clay Diaz Kamera: Julian Krubasik Darsteller: Samuel Schneider, Alexander Srtschin, Alexandra Schmidt, Simon Hatzl, Laurenz Fleissner u.a. |
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Druckabbau durch Boxen |
»Am 29. November tötet ein junger Mann seine Liebhaberin und zerstückelt die Leiche. Der Kopf, Torso und Gliedmaßen werden in verschiedenen Müllcontainern in Wien verteilt gefunden. Über das Motiv herrscht völlige Unklarheit.«
Mit diesem kurzen Hinweis beginnt der Film des ursprünglich aus Paraguay stammenden Wahlwieners David Clay Diaz. Anschließend folgt Agonie dem Leben zweier junger Männer in der österreichischen Hauptstadt, die rein oberflächlich betrachtet kaum unterschiedlicher sein könnten. Christian (Samuel Schneider) ist ein stets akkurater und auffallend reservierter Jurastudent. Dahingegen hat Alex (Alexander Srtschin) gerade seinen Grundwehrdienst absolviert und gibt jetzt den Proleten vom Dienst: Pseudo-Gangsta-Rap, Thai-Boxen, Eiweißdrinks und wildes Zappeln in der Disko sind seine Welt.
David Clay Diaz setzt die sich abwechselnden Szenen mit den beiden Protagonisten mit harten Schnitten und langen Abblenden auf eine zunächst fast plump wirkende, aber zugleich ungemein effektive Art aneinander. Christian im Hörsaal. Schnitt. Alex im Solarium. Christian beim Pauken. Schnitt. Alex beim Boxen. Christian beim gezwungen wilden Vögeln mit der Freundin. Schnitt. Alex beim Rappen über seine Ex – diese Hure!
So kommt es zwangsläufig dazu, dass sich der Zuschauer Gedanken über mögliche Bezüge zwischen Christian und Alex zu machen beginnt. Immer deutlicher wird, dass beide an ihrem Leben leiden, ohne dass dafür zwingende Gründe offenbar werden. So sind weder Christian noch Alex glücklich mit ihren Eltern. Aber welcher junge Großstädter ist das denn schon? Stärker als der reale Druck von außen, erscheint bei beiden der Druck, den sie sich selbst machen. Doch wir erfahren nicht, woher dieser stammt.
Genau hier liegt die große Stärke dieses kleinen Films. David Clay Diaz breitet die Dinge mit großer Klarheit, aber ohne jede weitere Erklärung vor dem Zuschauer aus, der sich somit seine eigenen Gedanken zu dem Gezeigten machen kann. Dies unterscheidet Agonie beispielsweise sehr deutlich von den Filmen eines Michael Haneke, obwohl die Kühle der Inszenierung zunächst entsprechende Assoziationen wecken kann.
Auch Haneke-Filme, wie Funny Games (1997) zeigen rein willkürliche Gewalt. Doch der Protestant Haneke lässt keinen Zweifel an den tieferen Ursachen dieser gesellschaftlichen Degenerationserscheinungen. Für ihn ist ganz klar: Heavy Metal und das Privatfernsehen zersetzen unsere Jugend. Solche kurzsichtigen Scheinkausalitäten liegen David Clay Diaz denkbar fern: Wenn beispielsweise Alex stark wienernd rappt, dann ist das lustig, lächerlich und ergreifend zugleich. Denn durch das Dickicht an Kraftausdrücken hindurch erklingt gerade an solch einer Stelle deutlich der Aufschrei einer gequälten Seele.
Alex ist ein Proll und will gar nichts anderes sein. Dahingegen ist Christian krampfhaft bemüht eine gelackte Fassade aufzubauen, hinter der sich jedoch eine gähnende Leere auftut. So fährt er seine neue Flamme im geleasten Schlitten nach Hause und spielt vor dem Sprung in die Kiste noch schnell einmal mit der schicken Lichtanlage herum. Er will Richter werden. Dass er dabei weniger als ein Anwalt verdient, ist ihm nicht wichtig. – Auch hier bleibt es dem Zuschauer überlassen, zu entscheiden, ob dies ein idealistischer Zug ist oder ob es Christian einfach ums maximale Prestige geht.
Sowohl Christian als auch Alex leiden an emotionaler Unterkühlung, wobei es schwer zu entscheiden ist, welchen Anteil ihre Umgebung daran trägt und was sie selbst nur in ihre Umgebung projizieren. Sie sind tickende Zeitbomben, ohne dass man genau sagen könnte, wer oder was sie wann aktiviert hätte. AGONIE zeigt uns Dinge, die ein Stück weit symptomatisch für unsere aktuelle Gegenwart erscheinen. Doch tappt David Clay Diaz dabei nicht in die Falle, bestimmte Dinge schnell weg erklären zu wollen. – Aber wie sollte man das vollkommen Irrationale auch rein rational erfassen können?