Air: Der große Wurf

Air

USA 2023 · 112 min. · FSK: ab 6
Regie: Ben Affleck
Drehbuch:
Kamera: Robert Richardson
Schnitt: William Goldenberg
Darsteller: Matt Damon, Jason Bateman, Ben Affleck, Marlon Wayans, Chris Messina u.a.
Filmszene »Air: Der große Wurf«
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt...
(Foto: Warner Bros.)

Das menschliche Monster

Ben Afflecks großer Ensemble- und Sportfilm ist vordergründig ein Hohelied auf die Kreativität des kapitalistischen Systems, ist aber weit mehr als das

„Break the rules.“ – Unter­neh­mens­grund­satz Nike Inc., 1984

Es tut einfach nur weh. Zumindest wenn es um die Produk­tion von Spiel­filmen geht, in denen auf die eine oder andere Weise Sport thema­ti­siert wird. Anders als in den USA, wo jede Leit­sportart konti­nu­ier­lich auch mit anspruchs­vollem, gesell­schafts­re­le­vantem Filmstoff unter­füt­tert wird – man denke nur an Produk­tionen wie Moneyball (Baseball), White Men can’t jump (Basket­ball) oder Jerry Maguire (Football) – ist Deutsch­land in dieser Hinsicht schlichtweg Entwick­lungs­land. Bis auf Marcus H. Rosen­mül­lers Trautmann (2018) ist da in den letzten Jahren kaum etwas gewesen.

Dabei lässt sich ja gerade aus dem Kleinen das Große ganz besonders gut illus­trieren, erzählt jeder Sportfilm mehr über die Mecha­nismen einer Gesell­schaft als so mancher Film, der das Große mit noch Größerem erklären will, so wie kürzlich Damien Chazelles Babylon, der schon im Titel mit Großhu­berei statt Vernunft agiert.

Was für ein Glück deshalb, dass es Filme wie Air: Der große Wurf von Ben Affleck gibt, der sich einfach das Drehbuch von Alex Convery schnappte, das 2021 unter dem Titel »Air Jordan« auf der legen­dären Black List der besten unver­filmten Ideen Holly­woods gelandet war, um es mit Matt Damon zu über­ar­beiten und einen, ja genau: Sportfilm über das wirt­schaft­liche Herz der Basket­ball­in­dus­trie zu produ­zieren, in dem beide dann auch Haupt­rollen über­nahmen, Ben Affleck die des Nike-Gründers Phil Knight und Matt Damon die des damaligen Nike Execu­tives der Basket­ball-Sektion, Sonny Vaccaro.

Das Damals ist das Jahr 1984, als Nike unter Phil Knight zwar schon erfolg­reich die Strategie umgesetzt hatte, Sport­per­sön­lich­keiten an die Marke zu binden, aber im Basket­ball nach Converse und vor allem Adidas weit abge­schlagen auf Platz 3 landete und es erste Über­le­gungen gab, die Basket­ball­linie ganz aufzu­geben.

Affleck bestückt diesen Moment mit allem, was die mittleren 1980er zu bieten haben, den ersten Computern, scheuß­li­chen Frisuren und einer Mode, die den für die Basket­ball­ab­tei­lung zustän­digen Marke­ting­chef Sonny Vaccaro mit seiner kleinen Wampe alles andere als souverän aussehen lässt. Doch Vaccaro, der von Damon mit einer wütenden Zuver­sicht gespielt wird, die Damon zuletzt als Marsianer kongenial gezeigt hatte, in dem es ja auch ums Überleben ging, macht diese Lächer­lich­keit durch seine gewagten Ideen wieder wett, die weder Knight noch der Marke­ting­chef von Nike, Rob Strasser (Jason Bateman) zuerst mittragen will, mehr noch als Vaccaro die schon lange ad acta gelegte Nike-Regel – »Break the rules.« – wieder anwendet. Statt das Budget auf mehrere Spieler aufzu­teilen, will Vaccaro es einem einzigen Spieler zuteilen, dem gerade in die NBL wech­selnden Rookie Michael Jordan, dessen geniales Spiel und zukünf­tige Bedeutung nur Vaccaro wirklich bewusst ist.

Und Vaccaro bricht gleich noch eine Regel: weil Jordan keine Lust auf Nike hat, da jeder in den schwarzen Ghettos Adidas trägt, besucht Vaccaro kurzer­hand Jordans Mutter Deloris (Viola Davis, zuletzt in Woman King und Black Adam), und prognos­ti­ziert ihr dermaßen trans­pa­rent, was Converse und in Person von Käthe Dassler (Barbara Sukowa) Adidas ihrem Sohn anbieten werden, dass sich die Dynamiken tatsäch­lich zu ändern scheinen.

Ähnlich wie in Bennett Millers Moneyball scheut sich Affleck nicht, diffe­ren­zierte Marke­ting­stra­te­gien neben nerdigste Sport­ana­lysen zu stellen und sie über ein über­ra­gend agie­rendes Ensemble lustvoll ausspielen zu lassen, in dem dann sogar Anwälte (Chris Messina als David Falk), frühe Influ­encer (Chris Tucker als Howard White) und Creative Designer bzw. Schuster (Matthew Maher als Peter Moore) eine Rolle spielen und zusammen auf die für damalige Zeiten so irre wie vermes­sene Idee kommen, eine ganze Schuh-Linie einem Sportler zu widmen.

Wie so oft in ameri­ka­ni­schen Filmen steht das viel beschwo­rene kreative Risiko – wer nicht wagt, der nicht gewinnt – im Zentrum der Erzählung, das nicht anders als in riskanten Momenten einer Schlacht im Krieg selbst auch dann einge­gangen werden muss, wenn es den Total­ver­lust der Verant­wort­li­chen bedeutet.

Dieses Leben und Einlösen des ameri­ka­ni­schen Traums wirkt zwar einer­seits so naiv wie King Vidors Adaption von Ayn Rands Kapi­ta­lis­mus­klas­siker The Foun­tain­head, doch wie schon in Vidors Foun­tain­head, einer von Slavoj Žižek’s fünf liebsten Filmen, gerade weil er ultra-kapi­ta­lis­ti­sche und hyper-indi­vi­dua­lis­ti­sche Propa­ganda völlig unhin­ter­fragt spiegelt, doch inte­grieren Affleck und Damon eine weitere Ebene, die das rein kapi­ta­lis­ti­sche Narrativ noch einmal erweitern. Denn sie erzählen auch eine afro­ame­ri­ka­ni­sche Fami­li­en­ge­schichte, in der die Haupt­person, Michael Jordan, nicht einmal in ganzer Person zu sehen ist, aber über Michaels Mutter Deloris und ihre revo­lu­ti­onäre Forderung nach einer finan­zi­ellen Betei­li­gung deutlich wird, dass das kapi­ta­lis­ti­sche System eines der wenigen Gesell­schafts­sys­teme ist, das Rassismus sowohl etablieren und instru­men­ta­li­sieren als auch – zumindest wirt­schaft­lich – elimi­nieren kann.

Gleich­zeitig zeigt Air: Der große Wurf eine Welt, die Mitte der 1980er Jahre vor einer ihrer größten Umwäl­zungen steht. Noch existiert die Sowjet­union, noch gibt es einen Kampf der Systeme, dessen Ausgang noch nicht absehbar ist. Afflecks Film sieht sich deshalb auch wie ein großes Atemholen der Kernideen des Kapi­ta­lismus. Hier wird alles durch­ge­spielt, was später relevant und zum System­vor­teil werden wird. Zwar sind die Deutschen hier die einzigen Konkur­renten einer noch nicht globa­li­sierten Welt, aber die Taktiken, diese Welt zu erobern und zu beherr­schen, werden sich nicht ändern. Denn auch was hier an perso­na­li­siertem Marketing revo­lu­ti­onär etabliert wird, ist im Grunde das Herz dessen, was mit dem digitalen Sprung wenige Jahre später die sozialen Netzwerke nur noch multi­pli­zieren müssen. Und was hier noch ein fast domes­ti­zierter, vorsich­tiger und zutiefst mensch­li­cher Kapi­ta­lismus ist, der in seiner komplexen Krea­ti­vität und der Verschmel­zung von Indi­vi­duum und Gruppe so beein­dru­ckend ist wie ähnliche Geschichten, etwa die von John Lee Hancock über die Fastfood-Indus­tria­li­sie­rung durch McDonalds in The Founder, wird sich mit dem Fall des Kommu­nismus und dem Sieg eines Systems zu einer kaum mehr kontrol­lier­baren Monstro­sität auswachsen. Einem Neoli­be­ra­lismus, hinter dessen poli­ti­scher wie wirt­schaft­li­cher Doppel­moral im Grunde nur eine Wahrheit pulsiert, das alte Nike-Motto: »Break the rules.«

Diese so kluge wie ambi­va­lente Botschaft wird gleich durch noch einen weiteren Subtext erweitert, denn so wie in Air Wirt­schafts­prak­tiken- und Abhän­gig­keiten grund­le­gend verändert werden, haben sich auch Ben Affleck und Matt Damon 2022 für ihr Produk­ti­ons­un­ter­nehmen Artists Equity zusam­men­getan, um im Zeitalter der Verträge mit Strea­ming­diensten ein neues Umsatz­be­tei­li­gungs­mo­dell einzu­führen. Was Air: Der große Wurf nicht nur zu einem hell­sich­tigen Film über unser Gestern und Heute, sondern auch zu einem hand­festen Expe­ri­ment für unser Morgen macht.