Deutschland 2010 · 101 min. · FSK: ab 6 Regie: Yasemin Samdereli Drehbuch: Nesrin Samdereli, Yasemin Samdereli Kamera: Ngo The Chau Darsteller: Vedat Erincin, Fahri Yardim, Lilay Huser, Demet Gül, Rafael Koussouris u.a. |
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Fremde Heimat |
Der Trick ist nicht ganz neu: Man nehme etwas, das alle kennen, und blicke es einmal mit fremden Augen an, bis ganz neu aussieht. Zum Beispiel Deutschland: Da leben ziemliche Barbaren. Die Deutschen sind unglaublich dreckig, die Männer dürfen keine Schnurrbärte tragen, sie essen ekeliges Schweinefleisch, hören schreckliche Schlagermusik, haben Toiletten, bei denen nicht ständig das Wasser fließt, haben als Haustiere Riesenratten, die sie für Hunde halten und vor allem eine gewalttätige Religion, in deren Zentrum ein brutal gekreuzigter Mann steht, dessen Blut alle einmal pro Woche gemeinsam trinken müssen.
Nochmal von vorn: Hüseyin Yilmaz kommt 1964, mitten im westdeutschen Wirtschaftswunder, mit Hunderttausenden aus Anatolien ins Ruhrgebiet. Knapp verpasst er die Ehrung zum Millionsten »Gastarbeiter« – weil er einem in der Schlange den Vortritt lässt. Trotzdem macht er sein Glück trotz der merkwürdigen Lebensweise der Eingeborenen. Über 40 Jahre später ist er Großvater und wir Zuschauer lernen den Yilmaz-Clan kennen: Der Enkel ist Cenk, und der stellt irgendwann die Frage aller Fragen: »Was sind wir denn jetzt, Türken oder Deutsche?« Als Antwort erzählt ihm seine Cousine die Geschichte der Familie. Wir Zuschauer sehen Rückblenden. Und damit wir die Türken auch verstehen, reden sie Deutsch – akzentfrei! Der beste Einfall des Films ist nun, dass die Deutschen selbst hier eine merkwürdige Fantasiesprache sprechen – wie in Charlie Chaplins Der große Diktator. Frappierende Wirkung! Plötzlich begreifen wir, wie es ist, im fremden Land zu sein, und wie komisch es wird, wenn Deutschland zur Fremde wird.
Almanya von den deutsch-türkischen Schwester Yasemin und Nesrin Samdereli ist eine unglaublich rasante, sehr witzige Komödie über den multikulturellen Alltag jenseits aller Sarrazin-Debatten, über das doch recht harmonische Zusammenleben von Deutschen und Türken.
Über die Türkei und vor allem über die in Deutschland lebenden Türken ist bekanntlich viel Unsinn im Umlauf. Dabei weiß es jeder, der einen türkischen Gemüsehändler oder Reiseveranstalter kennt, oder der schon mal in der Türkei Urlaub gemacht hat, es viel besser: Die allermeisten Türken sind keine Ehrenmörder, keine kriminellen Getto-Kids, keine lernunwilligen Analphabeten, und ihre Töchter sperren sie auch nicht ein. Überhaupt Analphabeten: Die gibt es prozentual viel mehr unter den Deutschen, als unter Türken. Aber leider können sie das hier nicht lesen, also liest es ihnen hoffentlich jemand vor.
Endlich mal also ein Film über Deutsch-Türken, in dem die ganzen Klischees und Stereotypen, die Halb- oder Unwahrheiten, die immer nur in den politischen Reden der Immigrationsgegner vorkommen, nicht auftauchen. Stattdessen ein multikultureller Heimatfilm, der aus der Sicht der Einwanderer auf die deutschen Verhältnisse blickt, und dort viel Sonderbares findet. Mit dem Ergebnis, dass Deutsche hier einmal über sich lachen, nicht über andere.
Almanya ist albern, und genau darin hellsichtig. Was Good Bye, Lenin! für das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen war, das ist Almanya für Deutschtürken und Deutschdeutsche. Irgendwie sind die Türken auch Ossis.