Iran 2009 · 119 min. · FSK: - Regie: Asghar Farhadi Drehbuch: Asghar Farhadi Kamera: Hossein Djafarian Darsteller: Golshifteh Farahani, Shahab Hosseini, Taraneh Alidoosti u.a. |
||
Reise in die Seeleninnenlandschaft |
Irrungen, Wirrungen... Eine Geschichte wie von Fontane, oder von Tschechow. Sie spielt fernab von Teheran, der Hauptstadt des Iran, in der fast ein Viertel der Landesbevölkerung lebt. Fernab von der Politik, am Meer. Sie handelt von bürgerlichen Menschen auf dem Land, fernab der Großstadt, in der sie wohnen. Upper Class könnte man sagen, jedenfalls wohlhabend. Man fährt einen roten BMW und hat ein Ferienhaus am Meer. Drei Paare, gutsituierte Mittdreißiger-Ehepaare, fahren auf
eine kurze Landpartie ans Kaspische Meer hinaus, für ein Wochenende mit ihren Kindern. Mit dabei ist auch Ahmad, der frisch geschiedene Bruder der Hausherrin Sepideh und eben Elly, die Kindergärtnerin und Freundin von Sepideh. Denn nebenbei hat Sepideh auch noch einen Plan: Ahmad soll mit Elly verkuppelt werden. Elly selbst ist dieser allzu nachdrückliche Verkupplungsversuch zunehmend unangenehm. Es ist auch ein gesellschaftliches Gefälle, das hier ganz nebenbei sichtbar wird:
Der höhere Mittelstand scheint sich über die kleinbürgerliche Angestellte bei aller Freundlichkeit ein wenig zu erheben.
Diese Wochendausflügler sind uns Zuschauern dabei ganz nahe. Sie sind gebildet, ihnen scheint es materiell an nichts zu mangeln. Wir könnten sie uns, genauso wie hier im Iran, auch in jedem westlichen Land vorstellen. Es wird viel gelacht, man spielt Spiele, macht Späße, die Atmosphäre ist ungezwungen, offen und locker: Man lacht und scherzt, die Laune ist
prächtig, die Sonne scheint, und der Wind erfrischt in der Hitze; ein Papier-Drachen steigt, die Kinder toben, die Erwachsenen spielen Volleyball und Scharade, am Abend tanzen sie – und am nächsten Tag geht es zunächst so weiter. Doch irgendwann ist Elly plötzlich spurlos verschwunden...
Wie der Regisseur Asghar Farhadi diese überraschende Wendung einleitet und inszeniert, ist hohe Filmkunst: Der Einbruch des Unerwarteten in die Idylle enthüllt diese als Schein. Und plötzlich wird aus Alles über Elly ein Psychothriller der iranischen Gesellschaft.
Denn alle suchen nun nach der Verschwundenen, und als sie nicht wieder auftaucht, zerfällt das harmonische Puzzle der schönen jungen Teheraner Yuppie-Gesellschaft in seine Einzelteile: Die Recherche lässt hinter der freizügig-modernen Oberfläche dieser Familien den Druck der Tradition, des Mullah-Regimes und der rigiden Moralvorstellungen deutlich werden. Lügen und Halbwahrheiten treten zutage. Lügen und Verschweigen sind ein elementarer Bestandteil des Lebens dieser Menschen. Es kommt zu gegenseitigen Beschuldigungen, Anklagen, Schuldzuweisungen. Und es kommt zu Vermutungen über den Charakter von Elly und ihren Verbleib: Ein tödlicher Badeunfall? Ist sie ungesehen im Meer ertrunken, als sie versuchte, ein Nichtschwimmerkind aus den Wellen zu holen? Hat Elly einfach ihre Sachen gepackt und ist nach Hause gefahren? Hat sie Reißaus genommen, weil ihr der soziale Druck und die Verkuppelungsabsichten Sepidehs zu viel wurden? Oder ist gar »etwas vorgefallen«? Hat die Hausherrin mit Elly ein liederliches Mädchen ins Haus geholt, und gibt es Grund, beiden moralische Vorhaltungen zu machen? Die Wahrheit bleibt offen – und jede dieser Vermutungen verrät jedenfalls mehr über ihren Urheber, als über Elly.
Nichts ist politisch in diesem Film. Und alles ist politisch in diesem Film. Denn Alles über Elly zeigt ein fragiles Idyll. Der Film zeigt in einer scheinbar privaten Geschichte, von der bis zum Ende nicht klar ist, ob es sich mehr um eine Tragödie oder doch um eine Komödie handelt, eine ganze Gesellschaft, die aus kleinen und großen Lügen, aus Notlügen und Halbwahrheiten besteht, aus Wunschprojektionen und Unkenntnis. Und der Film zeigt vor allem die moralische Repression, die hinter alldem steht. Eine Unterdrückung, die sich in den hohen Ton der Moral und der Tugend und der Religion kleidet. Und in die Selbstgerechtigkeit der Sittenwächter.
Was Alles über Elly noch zusätzlich politischer macht: Eine Million Iraner haben ihn im Kino gesehen. Und etwa fünf Millionen auf DVD. Der Film markiert insofern einen Wendepunkt im iranischen Kino, denn es handelt sich nicht um den bekannten iranischen Symbolismus. Nicht um schöne Arme und schönes Schweigen. Sondern um schöne Reiche in Turnschuhen und T-Shirts, die relativ aufgeklärt leben. Und um schönes Reden: pausenlose Gespräche, Diskussione, Dialoge.
Man wird Asgar Farhadi unbedingt im Auge behalten müssen. Er hat einen neuen Film fertiggestellt, ist zu hören, nachdem das Projekt zwischenzeitlich verboten wurde, nach einer Entschuldigung freigegeben. Farhadi muss, wie jeder Regisseur in einer Diktatur, Kompromisse machen. Wie seine Figuren. Und wenn sein neuer Film Premiere hat, werden bestimmt wieder ein paar Schlaumeier wissen, wie »angepasst« Farhadi doch ist, »ein Knecht des Regimes.« Vielleicht ist das ja schon bald, vielleicht hat er den Film ja schon längst bei der Berlinale eingereicht, und wir können ihn schon sehr sehr bald sehen. Läge nahe. Denn vor zwei Jahren gewann Elly, die vierte Regiearbeit des Iraners immerhin bei der »Berlinale« einen »Silbernen Bären« für die beste Regie. Seitdem ist viel im Iran passiert. Das ein wenig liberalere Klima, das seinerzeit herrschte, ist Vergangenheit: Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 und der anschließenden blutig niedergeschlagenen Revolte der »grünen« Demokratiebewegung weht der eisige Wind der Repression. Das Mullahregime mit seiner Marionette Achmadinedschad, das doch einige Jahre lang eine Art Rechtsstaatlichkeit und freie Debatte zugelassen hatte, hat die eigenen Reihen wieder fest geschlossen und herrscht mit Mord, Folter und Willkürurteilen – wie erst vor wenigen Tagen wieder klar wurde, als man den bekannten Regisseur Jafar Panahi mit sechs Jahren Gefängnishaft und einem 20-jährigen Berufsverbot belegte. Anderen ergeht es noch viel schlimmer. Dabei ist Panahi noch nicht einmal ein Aktivist, er sagt einfach seine Meinung.
Das tut auch Asghar Farhadi, der seit diesem Film auch mit erheblichen Schwierigkeiten im eigenen Land zu kämpfen hat, wie auch seine Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani, die inzwischen ins US-Exil vertrieben wurde. Alles über Elly entstand zwar ein paar Monate vor der Grünen Revolte und kommt nur erst jetzt ins Kino – aber in ihm ist schon alles das zu sehen, was kurz darauf den iranischen Sommer der Freiheit ausgemacht hat: Die Ungebundenheit
und das libertäre Klima der aufstrebenden urbanen Mittelklasse, ihr westlicher Lebensstil, die Geringschätzung, die sie für den Tugendterror des Gottesstaates empfinden. Man sieht aber auch die Geschlechterverhältnisse: Das Selbstbewusstsein und die Unzufriedenheit der Frauen, die nicht länger Menschen zweiter Klasse sein wollen, die hochgebildet und ungemein wachsam sind, und mutig aufbegehren. Und die Männer, die viel bequemer sind, die sich mit den Verhältnissen viel
leichter arrangiert haben.
Der Fokus des Films liegt die ganze Zeit über vor allem auf den facettenreichen Frauenfiguren und der Position der Frauen in dieser patriarchalischen Gesellschaft.
Dass die Frauen übrigens hier auch in intimsten Situationen ihren Schleier aufhaben, der die Haare bedeckt, ist natürlich Unsinn und hat wenig mit den tatsächlichen Verhaltensweisen im Iran zu tun. Es ist allein der Strenge der offiziellen religiösen Vorschriften geschuldet, die
auch das Kino fest im Griff haben.
So zeigt Asgar Farhadis Film in einer scheinbar ganz einfachen Geschichte ungemein viele Facetten und präzise Innenansichten aus dem iranischen Labyrinth; er öffnet uns jenen Raum, der von Außen betrachtet, so verwirrend undurchdringlich scheint.
Im Zentrum seines Film steht die gebildete Mittelklasse aus der Metropole und ihre Verhaltensweisen, ihre spezielle Haltung gegenüber der Welt: Man will unvoreingenommen sein, frei und liberal und entdeckt dann doch, wenn konkrete
Schwierigkeiten auftauchen, seine eigene Borniertheit, seine Sicherheitsbedürfnisse. Da unterscheidet sich das iranische Bürgertum wieder kein bisschen von dem Bürgertum in Europa. Darum ist es auch überaus geschickt von Farhadi, dass sein Film gewisse Ähnlichkeiten zur – sehr bürgerlichen – Erzählform der Soap-Opera aufweist.
Farhadi zeigt eine Welt, in der die Sicherheit auf allerlei Lebenslügen beruht, und die sich daher allem äußeren Anschein zum Trotz latent bedroht fühlt. Zur Bedrohung werden – und auch das kommt uns allzu bekannt vor – Eindringlinge: Das können Fremde sein, oder Angehörige anderer Klassen, oder auch die Vertreter der Behörden. Farhadi führt das vor, und vergisst dabei nicht: Ebenso interessant wie die Frage danach, was ein Eindringling mit einer Gruppe macht, ist auch die danach, was passiert, wenn er wieder verschwindet.
So zeigt sich Alles über Elly als ein komplexes Drama, das einige hierzulande sehr gängige Medienbilder des Iran infrage stellt. Der Film erzählt von jungen Iranern, die angesichts eines Unglücks wieder in traditionelle Verhaltensmuster zurückfallen. Farhadi bricht in seiner dynamischen Schauspielführung mit der Tradition des iranischen Arthouse-Films, die lange Zeit von Abbas Kiarostami vorgegeben wurde: Stilistisch statisch, langsam, meditativ, sich selbst betonend, inhaltlich symbolisierend und abstrakt. Dies hier ist »free cinema«: Impressionistisch und bewegt. Und hochpolitisch ist alles, selbst ein Zitat in deutscher Sprache: »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
Stilistisch ist Farhadi ein realistischer Filmemacher. Über weite Strecken sieht er den ganz normalen Menschen im Iran einfach beim Leben zu. Diese Filmsprache, erzählt mit den schnellen, flüchtigen, leicht nervösen Bewegungen einer Handkamera, die sich unaufdringlich und geduldig unter die Gruppe mischt, und deren Bilder manchmal fast denen eines privaten Homemovies ähneln, die eine sehr intime, persönliche Atmosphäre erzeugt, bringt uns seine Figuren nahe – auch in ihren Schwächen. Und diese Filmsprache korrespondiert mit der Offenheit, oder – wenn man so will – auch Unsicherheit, von der seine Geschichte erzählt.
So entwickelt er ein vielschichtiges Bild. Denn Alles über Elly, das ist eben nicht der Name der Heldin dieses Films, sondern der einer Leerstelle. Und man erfährt hier gerade nicht »alles über Elly«, wie der Filmtitel bewusst irreführt. Dafür erfahren wir in diesem hervorragenden, bewegenden Film viel über die iranische Gesellschaft, über die Irrungen und Wirrungen des Lebens in der Diktatur. Die vergebliche Suche nach Elly und nach der Wahrheit über ihr Schicksal, wird den Charakteren und uns Zuschauern zu einer Suche nach der Wahrheit überhaupt.
Am Ende entpuppt sich Elly auch als eine Schwester von Samuel Becketts Godot, auf den die Bürger der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaft seit den 50er Jahren auf der Theaterbühne vergeblich warten. Auch Ely wird nicht wiederkommen. Auch ihr Schicksal lässt überaus verschiedene Deutungen zu. Und sie geht den Menschen in diesem Film, wie auch uns Zuschauern nach seinem Ende, noch lange nicht aus dem Kopf.