Deutschland 2019 · 92 min. · FSK: ab 0 Regie: Mark Schlichter Drehbuch: John Chambers, Anja Flade, Mark Schlichter Kamera: Christof Wahl Darsteller: Tilman Döbler, Alexandra Maria Lara, Elisabeth Moell, Leopold Ferdinand Schill, Devid Striesow u.a. |
||
»Na klar hast du ’ne Macke, jeder hat ’ne Macke, das ist doch was völlig Normales.« |
Die neueste Filmadaption der Buchreihe Alfons Zitterbacke beginnt mit einer groß angelegten Science-Fiction-Szene in einer Weltraumstation und Zitterbackes Stimme aus dem Off, die stolz verkündet: »Man hat mich unter tausenden Bewerbungen ausgesucht, weil ich klug und besonnen handle und immer den Überblick behalte.« Doch nach diesem pompösen Auftakt wird klar, dass hier kein junges Genie als Astronaut agiert, sondern dass der elfjährige Alfons in der Realität eher das Sorgenkind der Eltern ist wegen seiner überbordenden Fantasie.
»Meine Eltern sagen, ich hätte viel zu viel Fantasie und machen sich schon echt Sorgen«
Das versteht der Junge natürlich nicht, denn wer neue Dinge erfinden will, muss doch Fantasie haben! So experimentiert er schon mal für seinen Weltraum-Vortrag, den er für die Schule vorbereitet, zu Hause – allerdings ohne den gewünschten Erfolg und noch dazu auf Kosten des Vaters.
Mit Emilia, dem Mädchen aus Berlin, kommt etwas Abwechslung, aber auch Geheimnisvolles, in Alfons' stressigen Schulalltag, der sich ansonsten zwischen grantigem Klassenlehrer, exzentrischem Physiklehrer und seinen eigenen Experimenten, die nicht immer gut ankommen, abspielt – von den Lehrern unfair behandelt und von den Mitschülern wegen seines Namens »Zitterbacke« gehänselt zu werden, das ist nicht lustig. Als an der Schule ein Wettbewerb für Ideen und Erfindungen von »Flugobjekten« ausgeschrieben wird, also ein Wettbewerb für Nachwuchsforscher, bei dem man einen Besuch bei der Deutschen Raumfahrtbehörde gewinnen kann, ist Alfons begeistert, sieht dies als Sprungbrett für sein Berufsziel Astronaut. Aber er muss seinen Eltern versichern, darüber die Schule nicht zu vernachlässigen und keinen Blödsinn anzustellen. Sein treuer Freund Benni, dessen Gedanken und Reden schon den kommenden Anwalt erahnen lassen, unterstützt ihn nach Kräften, während mit dem arroganten Nico, der ihm mit seiner Clique schon ständig das Leben schwermacht, jetzt auch noch ein skrupelloser Konkurrent gegenübersteht. Alfons nimmt den Ideenwettbewerb ernst, hat keine Zeit und keine Lust fürs Schwimmbad, wo sich alle anderen tummeln. Das bringt den Vater in Rage. Der Wunsch, aus dem Sohn einen sportlichen Kerl zu machen, wird immer mehr zum Druck.
Dramatisch wird es, als Alfons nach einem Physikexperiment, das in einen Brand mündet, der Schule verwiesen wird. Da packt er seinen »Weltraumkram« und wirft alles in den Müll, beobachtet von Emilia in der Nachbarschaft, die ihn nach dem Grund für sein Tun fragt. Das ist der Auslöser für einen nachdenklichen Dialog zwischen den beiden Kindern über Enttäuschung, Wut, Anderssein und so genannte Normalität. Alfons: »Du hörst es doch, was alle sagen: Zitterbacke hat 'ne Macke…« Emilia: »Na klar hast du 'ne Macke, jeder hat 'ne Macke, das ist doch was völlig Normales. … Ich muss immer so tun, als ob alles in Ordnung wäre, auch dass ich hier bin. … Das Jugendamt hat mich hierher gebracht, verstehst du. Ich mache alles richtig, bin gut in der Schule, bin gut im Sport und trotzdem kümmern sich meine Eltern nicht um mich. Und du machst alles falsch und fackelst fast die Schule ab, doch deine Eltern stehen hinter dir!« Und als Alfons verzweifelt ruft »tun sie nicht – ich will nur, dass sie einmal stolz auf mich sind, einmal nur« ist es für Alfons’ Vater, der das Gespräch mitgehört hat, Anlass zur Erinnerung an seine Kindheit und Schulzeit, die auch Ecken und Kanten hatte. Und obwohl es mit ihrem Sohn »manchmal bisschen anstrengend ist«, sind die Eltern stolz auf ihn gerade wegen seiner eigenen Ideen, die er mit Leidenschaft verfolgt, und das sagen sie ihm jetzt.
Die ab 1958 in der DDR publizierte Kinderbuchreihe »Alfons Zitterbacke – Geschichten eines Pechvogels« gehörte zu den bekanntesten Kinderbüchern der DDR und war für Generationen eine Lektüre mit Kultstatus. 1995 erschien ein neues Alfons-Zitterbacke-Buch, »Alfons Zitterbackes neuer Ärger«, und der Leipziger Kinderbuchverlag (leiv) legt die Bände von früher ebenfalls noch auf.
Der Autor Gerhard Holtz-Baumert (1927-1996) war Chefredakteur von Kinderzeitschriften
und verfasste u.a. theoretische Arbeiten über Kinder- und Jugendliteratur. Ab 1961 arbeitete er als freier Schriftsteller. Mit »Alfons Zitterbacke« schuf er eine Figur, mit der sich die Leserschaft identifizieren konnte, deren Milieu ihnen vertraut und deren Pannen, Pech und Peinlichkeiten z.B. im Pionierlager oder im reglementierten Schulbetrieb nachvollziehbar waren. Nach seinen Büchern entstanden auch der Kinderfilm »Der lange Ritt zur Schule« von Rolf Losansky (DDR
1982) und der vieldiskutierte Jugendfilm »Erscheinen Pflicht« von Helmut Dziuba (DDR 1983), beide ebenfalls hierzulande im Verleih.
Die erste Verfilmung von »Alfons Zitterbacke« wurde 1966 unter der Regie von Konrad Petzold im DEFA Studio für Spielfilme hergestellt. 1986 folgte eine sechsteilige Serie für das Fernsehen der DDR. Der aktuelle Kinofilm von Mark Schlichter (Jg. 1962) ist eine gelungene Verbindung von neuen und früheren Geschichten. Schlichter und die Co-Drehbuchautoren Anja Flade-Kruse und John Chambers haben »Alfons Zitterbacke« überzeugend in unsere Zeit übersetzt und mit großer Sympathie für die Figur deren Erlebnisse, Begegnungen und auch Missgeschicke adaptiert, das Bemühen, immer etwas Besonderes gut zu machen, das aber immer wieder im totalen Chaos mündet. Nach einem fulminanten, etwas verwirrenden Filmanfang mit einem Auftritt des Astronauten Alexander Gerst, Alfons Zitterbackes Idol, bekommt die Geschichte Struktur und Dynamik. Immer wieder sind witzige Anspielungen zu entdecken, z.B. dass die Schule, die der Junge besucht, sinnigerweise „Sigmund-Jähn-Gymnasium“ heißt, benannt nach dem DDR-Bürger und Kosmonauten, der 1976 als erster Deutscher (vom kasachischen Weltraumbahnhof Baikonur) in den Weltraum flog.
Absolut stimmig auch das Darstellerensemble: Alexandra Maria Lara als Louise Zitterbacke, Alfons’ Mutter und Filialleiterin im Baumarkt, Devid Striesow als Paul Zitterbacke, Alfons’ Vater und harter Sportverfechter mit weichem Kern, der zwölfjährige Tilman Döbler, der in der Rolle des liebenswerten Pechvogels überzeugt, Lisa Moell, das in sich ruhende Mädchen aus dem preisgekrönten Spielfilmdebüt von Joya Thome »Königin von Niendorf«, auch hier wieder beeindruckend in ihrer Rolle, und nicht zuletzt bekannte Gesichter aus diversen TV-Auftritten wie Wolfgang Stumph, Olaf Schubert und Checker Tobi Krell.
Im 30. Jahr nach dem Mauerfall zieht Alfons Zitterbacke, einst Kultfigur nur im Osten, endlich auch in die Kinos des Westens und wird hier ein neues Publikum erobern, das genauso Spaß an seinen verrückten Ideen und Abenteuern hat und froh ist, dass er am Ende die Kurve kriegt. Ein schönes Beispiel für eine universelle Geschichte, über Grenzen hinweg, und so ist der Film 2019 auch ein wunderbarer Beitrag zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung.