Deutschland/I 2017 · 97 min. · FSK: ab 6 Regie: Tobias Wiemann Drehbuch: Natja Brunckhorst, Jytte-Merle Böhrnsen Kamera: Martin Schlecht Darsteller: Mia Kasalo, Samuel Girardi, Susanne Bormann, Denis Moschitto, Jasmin Tabatabai u.a. |
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Amelie und der Geissenpeter |
Extreme Natur als Schauplatz für menschliche Übergangsrituale und Transformationen zu wählen ist so beliebt, wie menschliche Kultur alt ist. Deshalb überrascht es auch kaum, in kurzer Folge gleich zwei Jugendfilme in die Kinos kommen zu sehen, in denen die Alpen dabei helfen, Gruppengefühle zu stärken, charakterliche Schwächen zu meistern und Krankheiten zu heilen. Die Pfefferkörner lehnten sich dabei vor allem an die Architektur klassischer Bond-Film an, Tobias Wiehmanns jetzt anlaufender Amelie rennt bedient sich hingegen aus dem reichhaltigen Fundus der Heidi-Mythologie. Doch anders als Alain Gsponers hervorragende, historisch akkurate Adaption von Spyris Roman, Heidi (2015), sind Wiehmann und seine Drehbuchautoren Natja Brunckhorst und Jytte-Merle Böhrnsen daran interessiert die wichtigsten Heidi-Motive in die Gegenwart zu überführen.
Ihre Amelie (Mia Kasalo) ist deshalb so etwas wie eine Synthese aus der gesunden, renitenten Heidi und ihrer kranken Freundin Klara. Es ist offensichtlich, dass die Stadt (Berlin) sie krank gemacht hat und ihr Asthma nicht besser wird. Also versuchen es ihre Eltern mit einer Klinik in den Bergen. Amelie wehrt sich nicht nur gegen die Bevormundung ihrer Eltern, sondern auch gegen die der Klinik, die gewissermaßen den Alpöhi aus Heidi repräsentiert und in Gestalt der jungen Ärztin Dr. Murtsakis (Jasmin Tabatabai) überzeugend auf heutige Bedürfnisse angepasst wurde. Auch hier ist die sympathische Seite von Klinik und Ärztin für den Zuschauer offensichtlich, allein Amelie weiß in ihrer Hilflosigkeit, die sich aus pubertierender Selbstfindungssehnsucht und einem neurotischen Verhältnis zu ihrer Krankheit speist, nicht damit umzugehen. Erst über die Begegnung mit dem Geissenpeter unserer Zeit, dem »Herdenmanager« Bart (Samuel Girardi) darf auch Amelie sich in die historische Schlange derer einreihen, die diesen Weg bereits gegangen sind. Und wer Heidi kennt, dürfte ahnen, wie dieser Weg aussieht.
Dies ist dann vielleicht auch das größte Problem von Amelie rennt: die Vorhersehbarkeit fast jeden Handlungselements – zu dem man nicht unbedingt Heidi gelesen oder die Serie gesehen haben muss, denn die grundsätzlichen Motive dürften inzwischen im kollektiven Unterbewussten angekommen sein. Schon während der Autofahrt in die Berge wird das Ende im Grunde vorweggenommen, ist das unerträglich komödiantische Overacting der Eltern nur allzu offensichtliches Vorspiel für die Abnabelung der introvertierten Tochter, wirkt auch jeder weitere erzählerische Schritt wie ein Griff in den »idealen« Drehbuchbaukasten.
Dennoch schaut man Amelie gern zu. Nicht nur, weil die Kerngeschichte ein wichtiges Narrativ unseres westlichen Erwachsenwerdens ist und Jugendlichen zurecht Mut macht, gegen Konventionen aufzubegehren, für individuelle Freiheiten zu kämpfen und unsere industrialisierte und virtualisierte Welt zu hinterfragen, sondern auch, weil Wiehmann mit seinen beiden Hauptdarstellern Mia Kasalo und Samuel Girardi zwei Schauspieler gefunden hat, bei denen es einfach Spass macht, ihnen zuzuschauen, egal was passiert.