Großbritannien 2015 · 128 min. · FSK: ab 0 Regie: Asif Kapadia Drehbuch: Asif Kapadia Musik: Antonio Pinto Schnitt: Chris King |
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Kein Trost, aber eine Erklärung |
Dies ist die Geschichte einer Ausnahmeerscheinung: Amy Winehouse, der mit nur 27 Jahren verstorbene Londoner Pop-Weltstar, hatte nicht nur Talent und Starqualitäten, sie schaffte es auch, damit den Durchbruch zur weltweiten Zuneigung einer weltweiten Fangemeinde zu erringen, und sich in eine »Marke« zu verwandeln, die für ein paar Jahre das Non-plus-Ultra der Rockmusik darstellte. Winehouse war eine leidenschaftliche und leidenschaftlich geliebte Musikerin. Sie erschien authentischer als andere, und das lag nicht nur daran, dass sie – wie ein Autorenfilmer seine Filme – ihre Songs selbst schrieb, nicht nur interpretierte. Dazu gehörte auch noch, dass sie ihren eigenen Ruhm irgendwann nicht mehr aushielt, und unter der Daueraufmerksamkeit von Millionen von Fans physisch und psychisch zusammenbrach.
Asif Kapadias Dokumentarfilm untersucht nicht nur Winehouses phänomenale Musikkarriere und ihren eigenen Umgang mit der so außerordentlichen wie plötzlichen globalen Berühmtheit und dem dazugehörigen Medienbetrieb, sondern auch die oft sehr komplizierten Beziehungen zu ihrer Familien und ihren Geliebten. Dabei werden die Abgründe – ihre Drogensucht, Alkoholexzesse, Nervenzusammenbrüche – nicht verschwiegen oder ins Liebliche weichgespült.
Der Film, der bei seiner Premiere auf dem Filmfestival von Cannes vor ein paar Wochen stürmisch gefeiert wurde, bietet sehr nahe Innenansichten aus dem Leben von Amy Winehouse, und kann mit seltenen Einblicken und nicht zuletzt tollen Bildern locken. Denn der Regisseur, der vor ein paar Jahren mit Senna schon einen anderen berühmten, öffentlichen Toten portätierte, der zu jung einen
archaisch anmutenden Tod gestorben war, hatte Zugriff aufs Familienarchiv, er benutzt Interviews mit Kollegen, Angehörigen und nahen Freunden, zusammen mit sehr viel bislang unveröffentlichtem Material: unbekannte Songs, Probeaufnahmen, Filme aus Medienarchiv. Das Herz des Film sind aber die privaten Video-Aufnahmen, die beispielsweise die 14-Jährige lange vor dem großen Ruhm zeigen: als Schülerin, mit Freundinnen und bei ersten Gesangsversuchen. Man lernt Wineshouses
Wurzeln im kleinbürgerlichen Londoner Norden und seiner jüdischen Kultur kennen. Aber auch der Borderline-Charakter von Winehouse’s Persönlichkeit wird dargestellt.
War der Winehouse auf Erden nicht zu helfen? Jedenfalls hat es keiner versucht. Nicht das raffgierige Management, nicht ihr Vater, der sich im Ruhm der Tochter sonnt, nicht die Ex-Lover, die sich hier nun in ihrer Eitelkeit spreizen, aber für Amy zu Lebzeiten nichts taten, außer ihr unverlangt Stoff zu
besorgen. Das Ergebnis ist ein originelles Porträt, das höchstens darunter leidet, dass es mitunter an der Fülle der Interviewschnipsel zu ersticken droht.
Aber Amy porträtiert nicht allein Winehouses allzu kurzen Lebensweg bis zu ihrem tragischen Tod mit nur 27 Jahren, es gelingt ihm auch in diesem einzigartigen Charakter den Zeitgeist der ersten Dekade des dritten Jahrtausends zu erhaschen. Es ist ein Zeitgeist, in dem Privatheit nicht mehr existiert, in dem Stars öffentliche Personen sind, die den Fans »gehören«. Davon profitiert der Film selbst. Denn erst in einer Zeit, in der jeder immer alles filmt, sind Einblicke wie diese und auch die ausführliche Dokumentation der frühen Amy vor dem Ruhm überhaupt möglich.
Natürlich ist dies alles auch eine höhere Form von Leichenfledderei. Aber sie ist eben Teil eines Systems, dem sich Winehouse selbst ganz verschrieben hatte. Kein Trost, aber eine Erklärung.