Frankreich/B 2017 · 108 min. · FSK: ab 16 Regie: François Ozon Drehbuchvorlage: Joyce Carol Oates Drehbuch: François Ozon, Philippe Piazzo Kamera: Manuel Dacosse Darsteller: Marine Vacth, Jérémie Renier, Jacqueline Bisset, Myriam Boyer, Dominique Reymond u.a. |
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Raffiniertes Spiel mit dem Zwilling in uns |
Im ersten Bild ein Frauengesicht, jung und schön, aber auch gespalten, zersplittert in Dutzende Einzelteile. Auch ausdruckslos, seltsam aseptisch und kühl, bei genauerem Hinsehen durchzogen von schmerzhafter Melancholie. Das Bild verblasst. Für einen langen Augenblick erkennt man gar nichts, dann wird klar: Hier werden Haare geschnitten. Eine junge Frau trennt sich von ihren langen braunen Haaren, bekommt einen Schnitt, mit dem sie wie ein Junge aussieht. Noch ist sie Objekt des
Geschehens. Ihre Augen blicken zu Boden, man meint Trauer zu spüren. Oder eine latent bedrohliche Entschlossenheit. Ihre großen Augen blicken uns an. Musik, ein konstanter scharfer Ton, setzt ein. Schwarz und Tiefdunkelgrau sind die Farben, die überwiegen.
Eine Persönlichkeitsveränderung. Ein Neuanfang?
Dann Schwarzbild, Titel und ein überaus gewagter Bild-Schnitt, fesselnd, provokativ – »typisch Ozon«, durchfährt es einen. Die Leinwand ist fleischfarben, und die Kamera steckt im Inneren einer Vulva, fährt langsam zurück, überblendet dies à la Buñuel mit einem Auge. »Tut es weh?«, fragt eine Stimme im Irgendwo. »Nein«, heißt die Antwort. Ein Gynäkologenstuhl. Die Frau, nun mit kurzen Haaren wird untersucht.
Gleich zu Beginn legt der Film seine Karten auf den Tisch: Wechselspiel der Blicke, Manipulation, Innenansichten, intim und schmerzhaft. »Dieser Film soll funktionieren wie eine Psychotherapie«, sagt François Ozon im Interview. »Das Genre des Thriller ist überhaupt der Psychoanalyse sehr ähnlich: Es gibt ein Mysterium, und wir alle haben Teil an seiner Entschlüsselung.«
Er ist jetzt über 50, und man beginnt es ihm anzusehen, und doch wirkt François Ozon nach wie vor auch wie ein großes Kind, dem das Kino zu seinem idealen Spielzeugladen geworden ist. Immer wieder grinst er über seine eigenen Antworten, sagt etwas Seriöses, um die eigene Aussage gleich mit einem Augenzwinkern zu brechen, zu kommentieren, zu ironisieren. Es ist diese kühle Analyse, die seine Filme einerseits so französisch macht, und dann doch über das vermeintlich »typisch Französische«, den getragenen, elegischen Ernst hinausgeht.
Noch immer, obwohl er nun seit über zwanzig Jahren als Filmregisseur arbeitet, und enorm produktiv ist, hat man nicht den Eindruck, dass hier einer ganz bei sich angekommen ist, dass dieser Regisseur, wie so viele seiner Kollegen, immer nur den einen gleichen Film wieder und wieder dreht, in überschaubaren Variationen. Ozon wirkt nicht fertig, versteht es, sein Publikum und sich selbst zu überraschen. Er bleibt neugierig, wie auf der Suche nach etwas, das er selbst nicht kennt – damit, wie mit seiner Virtuosität, ist François Ozon vielleicht sogar der beste Repräsentant seiner eigenen Generation, der in den späten Sechzigern Geborenen. Das belegt sein neuer Film, L’amant double, im Deutschen nicht ganz passgenau in Der andere Liebhaber übersetzt, sehr gut.
Es handelt sich um eine abgründige, in sich verschränkte Zwillingsgeschichte, die ihrerseits einen doppelten Boden hat, und bis zum Ende mit Twists und Überraschungen aufwartet. Die Hauptrollen spielen Marine Vacth, die in Jung & schön von 2013 eine strahlende Neuentdeckung war, die dort (wie auch diesmal) immer wieder nackt zu sehen ist, und trotzdem vom Rest der Welt wie durch eine Glasscheibe getrennt erscheint, unnahbar, von einem Geheimnis ummantelt. Vacth betont in Interviews das Vertrauen in diesen Regisseur, mit dem sie eine Art Seelenverwandtschaft verbinde, und der sie dazu bringt, vor der Kamera eine körperliche wie moralische Freizügigkeit an den Tag zu legen, die gerade heute, in Zeiten von Neopuritanismus und Gender-Korrektheit, ungewöhnlich ist. Zusammen mit ihr spielt der belgische Schauspieler Jérémie Renier, den man bislang aus den naturalistischen Filmen der Dardenne-Brüder kennt, und der hier, in der Doppelrolle der Zwillingsbrüder Paul und Louis, in ein vollkommen neues Kino-Universum eintritt. Daneben ist Jacqueline Bisset zu sehen, der strahlende Star von Truffauts Die amerikanische Nacht endlich mal wieder in einem französischen Film.
Der andere Liebhaber ist ist ein virtuoser Hybrid: Ein Thriller, eine Horrorgeschichte, ein Spiel mit Phantasmen und Tiefenpsychologie. Auch eine Komödie über Gesellschaft und Moral. Formal auf den ersten Blick hyperrealistisch, dann aber doch voller Vexierbilder und Kniffe, ein Spiel mit Versatzstücken des Surrealismus.
Der Stoff ist eine Romanverfilmung von Joyce Carol Oates' »Der Andere« (»Lives of the Twins«, 1987), den die Autorin zunächst
unter dem Pseudonym Rosamond Smith veröffentlichte. »Ich bin zufällig darüber gestolpert«, berichtet der Regisseur, »für mich ist Oates eine der großen amerikanischen Schriftstellerinnen.« Sie habe hier nicht allein über Zwillinge geschrieben, sondern beruflich durch das Pseudonym gewissermaßen »ein Zwillingsdasein gehabt«.
Vor allem aber wirkt diese Geschichte wie fürs Kino gemacht, denn sie handelt vom Sichtbaren, also auch von optischen Täuschungen, die nur funktionieren,
wenn der Erzähler das Tempo bestimmt.
Dieser Wunsch, jederzeit die Zügel in der Hand zu haben, der Souverän zu sein, der nicht nur das Publikum, sondern auch Stoffe und Form kontrolliert, ist eines der Leitmotive von François Ozons Arbeit. Nie ist es ganz gewiss, ob der Regisseur nicht noch mit Überraschungen aufwartet, nie kann ein Zuschauer sich hier ganz sicher sein, nicht doch aufs Glatteis geführt zu werden. In diesem Film ist es sogar von Anfang an offensichtlich, dass es
geschehen wird.
»Ich bin ein großer Fan von Hitchcock, und ich bin auch ein großer Fan von Brian De Palma«, erklärt Ozon. Auch diese Bezüge liegen von Anfang an offen. Er möge es sehr, wie De Palma das Genre des Thrillers dekonstruiert, sagt der Regisseur, »wie er sich dabei amüsiert, dessen Tiefenebenen auszuleuchten und dabei zugleich mit den Codes zu spielen.« Das klingt wie eine Beschreibung der eigenen Haltung. Er habe mit seinem Team gar nicht so sehr über Brian De Palma und über Hitchcock geredet, sondern mehr darüber, wie man den Film ins Gleichgewicht zwischen Sex und Spannung bringt – es sollte in jedem Fall ein erotischer Thriller sein. Zentral war, dass der Film immer seine Leichtigkeit bewahrt. »Das ist eine Vorlage, die mir erlaubt mit den Genres zu spielen, mit ihren Codes, und auch im Hinblick auf Inszenierung und der Regieführung ein bisschen mehr auf die Tube zu drücken, als beispielsweise in meinem letzten Film Frantz, der in jeder Hinsicht viel, viel klassischer war.« Immer wieder betont Ozon im Gespräch die Bedeutung des Spiels, die Verspieltheit seines Vorgehens.
Wichtigster Mitarbeiter Ozons war Kameramann Manu Dacosse, mit dem er noch nie zusammengearbeitet hat. »Meine letzten Filme waren alle auf 35mm gedreht, ich hatte Lust etwas anderes zu machen. L’amant double sollte auch deshalb digital gedreht werden, um ›ein perfekt saubereres Bild zu haben, fast klinisch, geradezu chirurgisch kühl.‹ In den letzten zehn Jahren war Dacosse der für die Bildgestaltung so ungewöhnlicher wie großartiger französischer Filme wie Innocence und Amer verantwortlich.«
Natürlich gibt es noch weitere Referenzen, die unausgesprochener bleiben. Almodóvar und Mario Bava blitzen auf. Nicht nur Cinephile werden bei dieser Geschichte über eine Frau, die ihren Psychoanalytiker heiratet, und plötzlich zwischen zwei Zwillingsbrüdern steht, mit denen beiden sie Sex hat, an David Cronenberg denken, und bei der immer wieder von blutigen Phantasien und Horroreinlagen durchzogenen expressiven Inszenierung an dessen »Bodyhorror«.
Wie aber schafft es dieser Regisseur überhaupt, sein beeindruckendes Tempo zu halten? Seit er begonnen hat, kommt jedes Jahr mindestens ein neuer Film von François Ozon ins Kino – so etwas schafft sonst nur Woody Allen, und das weitaus weniger abwechslungsreich. Der Vielfilmer Fassbinder ist das Vorbild dieses disziplinierten Arbeiters.
So recht lässt er den Fragesteller nicht in die Karten blicken: »Das ist mein Rhythmus. Ich liebe das Filmemachen, es ist eine Lust,
Filme zu drehen.« Wem ginge das anders? Am Ende läuft es wohl darauf hinaus, dass Ozon das Glück hat, Produzenten zu finden, die seine Arbeitsweise unterstützen, ihm Freiheit lassen, und auch das Geld dafür zur Verfügung stellen.
»Ich habe viele Freunde, die leiden darunter, dass sie ihre Filme nicht machen können – ich habe das Glück, dass es in meinem Fall besser funktioniert, und das versuche ich auch zu genießen.« Er habe immer wieder Neues zu erzählen, und weil er sich nicht
gerne wiederholt, seien seine Filme eben so abwechslungsreich. »In jedem meiner Filme versuche ich etwas Neues zu machen, etwas weiter zu gehen, oder ein bestimmtes Thema in der Form eines neuen Genres zu erzählen.«
Darüber sollte man aber nicht die Grund-Themen von Ozons Werk übersehen: Sein Kino ist immer wieder von starken ungewöhnlichen Frauenfiguren beherrscht. Neben sie tritt das Spielen mit Genres und Elementen des B-Movies: Ozons Filme haben meistens einen »unreinen« Zug, etwas aus konventioneller Sicht Unanständiges im Umgang mit ihrem Gegenstand. Dann ist hier das Sujet der verdrängten und versteckten Leidenschaften unübersehbar, die Gewalt der Erinnerung, die die Gegenwart in
ihren Bann schlägt – das konnte man in Frantz sehen, wie im ganz anders gearteten neuen Film.
Und in gar nicht so wenigen seiner Filme entwirft Ozon ein imaginäres untergründiges Frankreich, und spielt mit den Klischees, die über sein Heimatland existieren: »Ihr Deutschen glaubt doch immer, dass die Franzosen dauernd Sex haben und auch fortwährend über Sex nachdenken. Darum habe ich
diesen Film speziell für Euch gemacht«, erklärt Ozon und grinst. Honi soit qui mal y pense…