Der andere Liebhaber

L'amant double

Frankreich/B 2017 · 108 min. · FSK: ab 16
Regie: François Ozon
Drehbuchvorlage: Joyce Carol Oates
Drehbuch: ,
Kamera: Manuel Dacosse
Darsteller: Marine Vacth, Jérémie Renier, Jacqueline Bisset, Myriam Boyer, Dominique Reymond u.a.
Raffiniertes Spiel mit dem Zwilling in uns

Der doppelte Regisseur

Im ersten Bild ein Frau­en­ge­sicht, jung und schön, aber auch gespalten, zersplit­tert in Dutzende Einzel­teile. Auch ausdruckslos, seltsam aseptisch und kühl, bei genauerem Hinsehen durch­zogen von schmerz­hafter Melan­cholie. Das Bild verblasst. Für einen langen Augen­blick erkennt man gar nichts, dann wird klar: Hier werden Haare geschnitten. Eine junge Frau trennt sich von ihren langen braunen Haaren, bekommt einen Schnitt, mit dem sie wie ein Junge aussieht. Noch ist sie Objekt des Gesche­hens. Ihre Augen blicken zu Boden, man meint Trauer zu spüren. Oder eine latent bedroh­liche Entschlos­sen­heit. Ihre großen Augen blicken uns an. Musik, ein konstanter scharfer Ton, setzt ein. Schwarz und Tief­dun­kel­grau sind die Farben, die über­wiegen.
Eine Persön­lich­keits­ver­än­de­rung. Ein Neuanfang?

Dann Schwarz­bild, Titel und ein überaus gewagter Bild-Schnitt, fesselnd, provo­kativ – »typisch Ozon«, durch­fährt es einen. Die Leinwand ist fleisch­farben, und die Kamera steckt im Inneren einer Vulva, fährt langsam zurück, über­blendet dies à la Buñuel mit einem Auge. »Tut es weh?«, fragt eine Stimme im Irgendwo. »Nein«, heißt die Antwort. Ein Gynä­ko­lo­gen­stuhl. Die Frau, nun mit kurzen Haaren wird unter­sucht.

Gleich zu Beginn legt der Film seine Karten auf den Tisch: Wech­sel­spiel der Blicke, Mani­pu­la­tion, Innen­an­sichten, intim und schmerz­haft. »Dieser Film soll funk­tio­nieren wie eine Psycho­the­rapie«, sagt François Ozon im Interview. »Das Genre des Thriller ist überhaupt der Psycho­ana­lyse sehr ähnlich: Es gibt ein Mysterium, und wir alle haben Teil an seiner Entschlüs­se­lung.«

Reprä­sen­tant seiner Gene­ra­tion

Er ist jetzt über 50, und man beginnt es ihm anzusehen, und doch wirkt François Ozon nach wie vor auch wie ein großes Kind, dem das Kino zu seinem idealen Spiel­zeug­laden geworden ist. Immer wieder grinst er über seine eigenen Antworten, sagt etwas Seriöses, um die eigene Aussage gleich mit einem Augen­zwin­kern zu brechen, zu kommen­tieren, zu ironi­sieren. Es ist diese kühle Analyse, die seine Filme einer­seits so fran­zö­sisch macht, und dann doch über das vermeint­lich »typisch Fran­zö­si­sche«, den getra­genen, elegi­schen Ernst hinaus­geht.

Noch immer, obwohl er nun seit über zwanzig Jahren als Film­re­gis­seur arbeitet, und enorm produktiv ist, hat man nicht den Eindruck, dass hier einer ganz bei sich ange­kommen ist, dass dieser Regisseur, wie so viele seiner Kollegen, immer nur den einen gleichen Film wieder und wieder dreht, in über­schau­baren Varia­tionen. Ozon wirkt nicht fertig, versteht es, sein Publikum und sich selbst zu über­ra­schen. Er bleibt neugierig, wie auf der Suche nach etwas, das er selbst nicht kennt – damit, wie mit seiner Virtuo­sität, ist François Ozon viel­leicht sogar der beste Reprä­sen­tant seiner eigenen Gene­ra­tion, der in den späten Sech­zi­gern Geborenen. Das belegt sein neuer Film, L’amant double, im Deutschen nicht ganz passgenau in Der andere Liebhaber übersetzt, sehr gut.

Optische Täuschungen

Es handelt sich um eine abgrün­dige, in sich verschränkte Zwil­lings­ge­schichte, die ihrer­seits einen doppelten Boden hat, und bis zum Ende mit Twists und Über­ra­schungen aufwartet. Die Haupt­rollen spielen Marine Vacth, die in Jung & schön von 2013 eine strah­lende Neuent­de­ckung war, die dort (wie auch diesmal) immer wieder nackt zu sehen ist, und trotzdem vom Rest der Welt wie durch eine Glas­scheibe getrennt erscheint, unnahbar, von einem Geheimnis ummantelt. Vacth betont in Inter­views das Vertrauen in diesen Regisseur, mit dem sie eine Art Seelen­ver­wandt­schaft verbinde, und der sie dazu bringt, vor der Kamera eine körper­liche wie mora­li­sche Frei­zügig­keit an den Tag zu legen, die gerade heute, in Zeiten von Neopu­ri­ta­nismus und Gender-Korrekt­heit, unge­wöhn­lich ist. Zusammen mit ihr spielt der belgische Schau­spieler Jérémie Renier, den man bislang aus den natu­ra­lis­ti­schen Filmen der Dardenne-Brüder kennt, und der hier, in der Doppel­rolle der Zwil­lings­brüder Paul und Louis, in ein voll­kommen neues Kino-Universum eintritt. Daneben ist Jacque­line Bisset zu sehen, der strah­lende Star von Truffauts Die ameri­ka­ni­sche Nacht endlich mal wieder in einem fran­zö­si­schen Film.

Der andere Liebhaber ist ist ein virtuoser Hybrid: Ein Thriller, eine Horror­ge­schichte, ein Spiel mit Phan­tasmen und Tiefen­psy­cho­logie. Auch eine Komödie über Gesell­schaft und Moral. Formal auf den ersten Blick hyper­rea­lis­tisch, dann aber doch voller Vexier­bilder und Kniffe, ein Spiel mit Versatz­stü­cken des Surrea­lismus.
Der Stoff ist eine Roman­ver­fil­mung von Joyce Carol Oates' »Der Andere« (»Lives of the Twins«, 1987), den die Autorin zunächst unter dem Pseudonym Rosamond Smith veröf­fent­lichte. »Ich bin zufällig darüber gestol­pert«, berichtet der Regisseur, »für mich ist Oates eine der großen ameri­ka­ni­schen Schrift­stel­le­rinnen.« Sie habe hier nicht allein über Zwillinge geschrieben, sondern beruflich durch das Pseudonym gewis­ser­maßen »ein Zwil­lings­da­sein gehabt«.
Vor allem aber wirkt diese Geschichte wie fürs Kino gemacht, denn sie handelt vom Sicht­baren, also auch von optischen Täuschungen, die nur funk­tio­nieren, wenn der Erzähler das Tempo bestimmt.
Dieser Wunsch, jederzeit die Zügel in der Hand zu haben, der Souverän zu sein, der nicht nur das Publikum, sondern auch Stoffe und Form kontrol­liert, ist eines der Leit­mo­tive von François Ozons Arbeit. Nie ist es ganz gewiss, ob der Regisseur nicht noch mit Über­ra­schungen aufwartet, nie kann ein Zuschauer sich hier ganz sicher sein, nicht doch aufs Glatteis geführt zu werden. In diesem Film ist es sogar von Anfang an offen­sicht­lich, dass es geschehen wird.

Verspielt­heit

»Ich bin ein großer Fan von Hitchcock, und ich bin auch ein großer Fan von Brian De Palma«, erklärt Ozon. Auch diese Bezüge liegen von Anfang an offen. Er möge es sehr, wie De Palma das Genre des Thrillers dekon­stru­iert, sagt der Regisseur, »wie er sich dabei amüsiert, dessen Tiefe­nebenen auszu­leuchten und dabei zugleich mit den Codes zu spielen.« Das klingt wie eine Beschrei­bung der eigenen Haltung. Er habe mit seinem Team gar nicht so sehr über Brian De Palma und über Hitchcock geredet, sondern mehr darüber, wie man den Film ins Gleich­ge­wicht zwischen Sex und Spannung bringt – es sollte in jedem Fall ein eroti­scher Thriller sein. Zentral war, dass der Film immer seine Leich­tig­keit bewahrt. »Das ist eine Vorlage, die mir erlaubt mit den Genres zu spielen, mit ihren Codes, und auch im Hinblick auf Insze­nie­rung und der Regie­füh­rung ein bisschen mehr auf die Tube zu drücken, als beispiels­weise in meinem letzten Film Frantz, der in jeder Hinsicht viel, viel klas­si­scher war.« Immer wieder betont Ozon im Gespräch die Bedeutung des Spiels, die Verspielt­heit seines Vorgehens.

Wich­tigster Mitar­beiter Ozons war Kame­ra­mann Manu Dacosse, mit dem er noch nie zusam­men­ge­ar­beitet hat. »Meine letzten Filme waren alle auf 35mm gedreht, ich hatte Lust etwas anderes zu machen. L’amant double sollte auch deshalb digital gedreht werden, um ›ein perfekt saube­reres Bild zu haben, fast klinisch, geradezu chir­ur­gisch kühl.‹ In den letzten zehn Jahren war Dacosse der für die Bild­ge­stal­tung so unge­wöhn­li­cher wie großar­tiger fran­zö­si­scher Filme wie Innocence und Amer verant­wort­lich.«

Natürlich gibt es noch weitere Refe­renzen, die unaus­ge­spro­chener bleiben. Almodóvar und Mario Bava blitzen auf. Nicht nur Cinephile werden bei dieser Geschichte über eine Frau, die ihren Psycho­ana­ly­tiker heiratet, und plötzlich zwischen zwei Zwil­lings­brü­dern steht, mit denen beiden sie Sex hat, an David Cronen­berg denken, und bei der immer wieder von blutigen Phan­ta­sien und Horror­ein­lagen durch­zo­genen expres­siven Insze­nie­rung an dessen »Body­horror«.

»Unreine« Filme

Wie aber schafft es dieser Regisseur überhaupt, sein beein­dru­ckendes Tempo zu halten? Seit er begonnen hat, kommt jedes Jahr mindes­tens ein neuer Film von François Ozon ins Kino – so etwas schafft sonst nur Woody Allen, und das weitaus weniger abwechs­lungs­reich. Der Viel­filmer Fass­binder ist das Vorbild dieses diszi­pli­nierten Arbeiters.
So recht lässt er den Frage­steller nicht in die Karten blicken: »Das ist mein Rhythmus. Ich liebe das Filme­ma­chen, es ist eine Lust, Filme zu drehen.« Wem ginge das anders? Am Ende läuft es wohl darauf hinaus, dass Ozon das Glück hat, Produ­zenten zu finden, die seine Arbeits­weise unter­s­tützen, ihm Freiheit lassen, und auch das Geld dafür zur Verfügung stellen.
»Ich habe viele Freunde, die leiden darunter, dass sie ihre Filme nicht machen können – ich habe das Glück, dass es in meinem Fall besser funk­tio­niert, und das versuche ich auch zu genießen.« Er habe immer wieder Neues zu erzählen, und weil er sich nicht gerne wieder­holt, seien seine Filme eben so abwechs­lungs­reich. »In jedem meiner Filme versuche ich etwas Neues zu machen, etwas weiter zu gehen, oder ein bestimmtes Thema in der Form eines neuen Genres zu erzählen.«

Darüber sollte man aber nicht die Grund-Themen von Ozons Werk übersehen: Sein Kino ist immer wieder von starken unge­wöhn­li­chen Frau­en­fi­guren beherrscht. Neben sie tritt das Spielen mit Genres und Elementen des B-Movies: Ozons Filme haben meistens einen »unreinen« Zug, etwas aus konven­tio­neller Sicht Unan­s­tän­diges im Umgang mit ihrem Gegen­stand. Dann ist hier das Sujet der verdrängten und versteckten Leiden­schaften unüber­sehbar, die Gewalt der Erin­ne­rung, die die Gegenwart in ihren Bann schlägt – das konnte man in Frantz sehen, wie im ganz anders gearteten neuen Film.
Und in gar nicht so wenigen seiner Filme entwirft Ozon ein imaginäres unter­grün­diges Frank­reich, und spielt mit den Klischees, die über sein Heimat­land exis­tieren: »Ihr Deutschen glaubt doch immer, dass die Franzosen dauernd Sex haben und auch fort­wäh­rend über Sex nach­denken. Darum habe ich diesen Film speziell für Euch gemacht«, erklärt Ozon und grinst. Honi soit qui mal y pense…