Anora

USA 2024 · 140 min. · FSK: ab 16
Regie: Sean Baker
Drehbuch:
Kamera: Drew Daniels
Darsteller: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yuriy Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan u.a.
Anora
Eine Möglichkeit von Glück
(Foto: Universal)

Wenn Märchen wahr werden...

Sind sie keine Märchen mehr: Sean Bakers Anora erzählt wahre Lügen über den Scheincharakter der wahren Welt

Ist das ein guter Film? In jedem Fall ist es ein Film, der funk­tio­niert. Er funk­tio­niert wie eine gut geölte Geis­ter­bahn.

Der Ameri­kaner Sean Baker gewann im Mai über­ra­schend mit seiner modernen Cinde­r­ella-Story Anora, die Pretty Woman-Motive ins 21. Jahr­hun­dert überträgt, die Goldene Palme von Cannes.

Im Verhältnis zu dem in Cannes meist domi­nie­renden gedie­genen Kunstkino bewegt sich Anora auf einem anderen Planeten. Denn diese kühle »femi­nis­ti­sche« Komödie – die in meinem viel­leicht unmaß­geb­li­chen Freundes- und Bekann­ten­kreis den Herren viel besser gefällt als den Damen, und den Film­kri­ti­kern viel besser, als den prag­ma­ti­scheren Kino­gän­gern – erzählt zwar von Sexarbeit, Migration und Klas­sen­un­ter­schieden. Doch tut er dies in Form eines femi­nis­tisch und sozi­al­kri­tisch ange­hauchten Wohl­fühl­films.

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Nicht ohne Grund liest sich jede Synopsis zu diesem Film wie ein Update von Pretty Woman. Wenn man den Regisseur genauer unter die Lupe nimmt, kann man entdecken, dass sich Baker damit einen Namen gemacht hat, dass er vermeint­lich unter­re­prä­sen­tierte oder ausge­grenzte Figuren aus der Subkultur, oft Einwan­derer ohne Papiere und Prosti­tu­ierte, in ausge­spro­chen humanen Settings auf empa­thi­sche Weise porträ­tiert. Von manchen Beob­ach­tern wurde er darum bereits als der Archetyp eines neuen, politisch-korrekten »männ­li­chen Filme­ma­chers« in einer zukünf­tigen Post-Me-Too-Ära beschrieben.
Baker hat dabei nie schlichtes Mitgefühl mit seinen Figuren: Vielmehr zeigt er sie als Reprä­sen­tanten von Haltungen. Es sind Menschen, die in den schmut­zigsten und entwür­di­gendsten Verhält­nissen leben, aber doch auch fast immer neben oder hinter Symbolen des Aufstiegs, der fest­li­chen Feier oder der ikoni­schen Subli­mie­rung des American Way of Life.

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Bakers 139 Minuten langer neuer Film setzt diese Linie fort. Er erzählt von einem Call-Girl, der von Mickey Madison grandios gespielten Ani. Baker verur­teilt seine Haupt­figur nie, geschweige denn mora­li­siert er ihre Tätigkeit oder ihre Arbeit. Sie ist ein Profi, und davor hat der Film gebüh­renden Respekt.
Eines Tages trifft Ani Vanya, den Sohn eines russi­schen Olig­ar­chen. Zunächst ist der infantile, selbst­ver­liebte Knabe Kunde. Doch Knall auf Fall verliebt er sich in sie – und vice versa. Der realis­ti­sche Papa möchte aller­dings keine Hure zur Schwie­ger­tochter haben, der Sohn entpuppt sich als hirnloser Schwäch­ling, und so kommt es bald zu einer sehr vorher­sehbar verlau­fenden Konfron­ta­tion, die eine Weile im Stil einer Billy-Wilder-Komödie ausge­tragen wird, inklusive einer starken Dosis trashigen Humors, bevor der Film noch andere Saiten aufzieht.

Im Gegensatz zum misan­thro­pi­schen Gehabe von so aufge­bla­senen Filme­ma­chern wie beispiels­weise Yorgos Lanthimos (Poor Things) macht der Regisseur von The Florida Project und Red Rocket keine Filme, um sich selbst in Szene zu setzen, um mit dem Finger auf alle anderen Menschen, vor allem »alte weiße Männer« und »Privi­le­gierte« zu zeigen, um über »große relevante Themen« zu sprechen oder gar um auf effektive bis effekt­ha­sche­ri­sche Weise Diskurse der Kultur­wis­sen­schaften zu illus­trieren, die in befrie­di­gender Form an die heutige Zeit angepasst wurden. Auch nahe­lie­gende Olig­ar­chen­kritik spielt im Film nur eine unter­ge­ord­nete Rolle.

Trotz seiner glaub­wür­digen huma­nis­ti­schen Haltung und seines Glaubens an die Stärke seiner Haupt­figur schi­ka­niert er sie über den Film gehörig. Anora (eine unver­gess­liche Mikey Madison, die eine seltsame Mischung aus Unschuld und emotio­naler Wahrheit vermit­teln kann) setzt sich entgegen aller Anzeichen mit enormer Kraft, mit Schreien und mit Zackig­keit, wenn es nötig ist, durch, während sie – mit unge­wöhn­li­chem Glauben und uner­schöpf­li­cher Vitalität – eine Welt betritt, die sie für besser hält, die in Wirk­lich­keit aber noch dunkler, krimi­neller und schreck­li­cher ist als die Welt, in der sie arbeitet. Baker porträ­tiert sie nicht als ahnungs­lose Idiotin, sondern als ein Geschöpf, das mit einem schier uner­schüt­ter­li­chen Glauben an die Zukunft (und an Amerika) ausge­stattet ist.

Die anderen Figuren reduziert der Film auf ihre Funktion und das nötige Minimum, das jeder Film braucht. Gerade die Russen sind hier eine Ansamm­lung von uner­träg­li­chen und einge­bil­deten Wesen, die die Über­le­gen­heit der USA zu bestä­tigen haben.

Den Cannes-Preis verdient der Film für die Virtuo­sität, mit der er sich mit benei­dens­werter Leich­tig­keit und großer Energie von der roman­ti­schen Komödie zum Thriller und vom Slapstick zur Screwball Comedy bewegt. Komödie ist dies vor allem da, wo die Beauf­tragten des Olig­ar­chen Unge­schick­lich­keit mit Entschlos­sen­heit im Ausführen ihrer Befehle verbinden, was bei Baker zum Motor lustiger Sequenzen wird.

En bisschen lang­weilig bleibt alles dennoch. Denn letztlich meint es Anora ernst und zeigt vor allem eine knall­harte zeit­genös­si­sche Frau­en­figur und ihren Versuch, um fast jeden Preis aus den eigenen prole­ta­ri­schen Herkunfts­ver­hält­nissen auszu­bre­chen, der durch die Feigheit der Männer vereitelt wird.

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Die schöne Lüge ist schön. Aber sie bleibt eine Lüge.

Der Film ist reines Gift für Mora­listen, denn er ist unmöglich für irgend­eine Art von beru­hi­gendem Diskurs zu instru­men­ta­li­sieren.

Der »Ameri­ka­ni­sche Traum« ist hier nur noch im Hinterhof am Leben. Und er ist nur dadurch noch »wahr«, dass er sich zu seinem fiktio­nalen Charakter, zu seiner Schein­haf­tig­keit und Essenz als Lüge bekennt.
Aber noch lebt er.

Dies ist der Stand des Neoli­be­ra­lismus: Seine Verspre­chen lösen sich nicht mehr ein. Die Träume sind zerplatzt, aber etwas Besseres finden wir nirgendwo. Darum halten wir an den Träumen fest, an die wie selbst nicht glauben.
Es bleibt nur Auto­sug­ges­tion. Ein Geis­tes­zu­stand kurz vor dem Irrsinn.

Eine Illusion von Wohlstand

Sean Baker rüttelt in seinem Cannes-Gewinnerfilm ein weiteres Mal an den trügerischen amerikanischen Mythen und Träumen.

Einen Regisseur wie Sean Baker braucht es für diese unendlich nervösen Zeiten. Einen, der dem kako­pho­ni­schen Geplapper, den schei­ternden Dialogen, getippten Text­wänden, TikToks, Reels, dem chaotisch über­la­gerten Stimm­ge­wirr der Gegenwart gerecht wird, das sich durch die Alltäg­lich­keit digitaler Medien und Kommu­ni­ka­ti­ons­wege entgrenzt, ins Unend­liche und dauerhaft Verfüg­bare poten­ziert. Bei wenigen anderen Film­schaf­fenden über­schlagen sich so wunderbar giftig und penetrant anstren­gend, so gewitzt und geladen die Gesprächs­fetzen und Anfein­dungen. Sie nehmen in ihrem aufge­kratzten, hoch­ge­schau­kelten Gezänk eine Eigen­dy­namik an, bei der man sich mitunter gar nicht mehr sicher ist, ob das noch fest­ge­legten Dreh­büchern folgt, oder die Darsteller zu impro­vi­sieren beginnen und sich der insze­nierte Filmdreh zum intui­tiven Leben verselb­stän­digt.

In Anora, der in Cannes 2024 die Goldene Palme gewann, findet dies seinen Höhepunkt in einem Stripclub. Ein Ausge­büxter soll dort aufge­spürt und zur Verant­wor­tung gezogen werden – und damit ist erst der halbe Film vorbei. Die Odyssee der Figuren ist noch lange nicht vorüber, denn wie man das kennt von Odysseen: Die Heimkehr ist ein Ziel in weiter Ferne. Viel­leicht auch eine bloße Fantasie, die mit der Realität niemals zur Deckung gelangt. Überhaupt, will man hier heim­kehren, oder ist nicht vielmehr die Reali­täts­flucht das Ziel? Der Stripclub ist bei Sean Baker ein ebenso eksta­ti­scher, ener­gie­ge­la­dener wie streng durch­kom­mer­zia­li­sierter Raum. Bunte Lichter leuchten dort. Halb­nackte Körper reiben und räkeln sich. Alles ist Konsum, alles ist Ware. Haben ein Freier und eine Strip­perin zuein­ander gefunden, werden die Männer in Hinter­zimmer gebracht oder neben­ein­ander aufge­reiht, bevor die Sexar­bei­te­rinnen zum Lapdance schreiten. Ein Geschäft, eine Geilheit und ein Spiel von Zuneigung auf Zeit. Kunden werden am laufenden Band bedient.

Das Verspre­chen vom Aufstieg

Der Autoren­filmer Sean Baker schaut zunächst geduldig zu, wenn Anora alias Ani (Mikey Madison) zur Arbeit in den Club geht und versucht, sich mit ihrem Körper zumindest ein beschei­denes Maß an Wohlstand zu erwirt­schaften. Der Kontrast zwischen den Verspre­chungen der Nacht und der blassen Ödnis des Tages, wenn Ani nach Feier­abend wieder nach Hause kommt, schlägt umso härter zu. Zwar läuft der Job gewis­ser­maßen, aber das kann noch nicht alles gewesen sein!
Baker ist an einem größeren Rahmen und Antrieb inter­es­siert. Er hat keinen Problem­film über den harten Alltag einer Prosti­tu­ierten gedreht, sondern traut sich erneut an funda­men­tale ameri­ka­ni­sche, neoli­be­rale Verspre­chen und Mythen von Wohlstand, die er mit der Realität kolli­dieren lässt. Denn da tut sich eine Pforte zum Glück auf, als Ani den jungen Ivan (Mark Eydelsh­teyn) kennen­lernt, den Sohn eines russi­schen Olig­ar­chen. Ivan nimmt Anis Dienste in Anspruch, lädt sie in sein luxu­riöses Anwesen in Brooklyn ein. Was sich daran anschließt, ist hoch­span­nend und so ambi­va­lent gezeichnet wie alle Milieu­stu­dien, die Baker in den vergan­genen Jahren gedreht hat. Sie loten heraus­for­dernd mora­li­sche Grenzen aus, stellen die Zuver­läs­sig­keit zwischen­mensch­li­cher Bezie­hungen in Frage, erzählen von Einzel­kämp­fern in einer Ellen­bo­gen­ge­sell­schaft. Die reiche Heirat als einzige Aufstiegs­op­tion? Ist das Liebe, was sich dort entspinnt? Baker insze­niert Ani und Ivan in einem eupho­ri­schen Rausch und Taumel, der sich beim Sehen mühelos überträgt. Anora sprudelt in seiner Montage über vor Tempo und jugend­li­cher Energie. Purer Hedo­nismus. Alles ist möglich, Geld spielt keine Rolle – wenn man es hat. Beide genießen den Reichtum, touren umher, feiern das Leben, reisen nach Las Vegas. Die Trauung ist schnell vollzogen. Nur: Kann aus dieser gekauften Beziehung eine roman­ti­sche Liebe entstehen? Das ist ein altes Motiv, neu aufbe­reitet. Sean Baker zeigt, dass sich aus einem solchen Szenario immer noch ein hoch­bri­santer Film entwi­ckeln lässt. Anora setzt nämlich zum konse­quenten nächsten Schritt an und reißt die Illusion des Unbe­schwerten, die mit Anis Aufstieg in den Luxus zum Leben erwacht, wieder ein. Es ist der Kern und Knack­punkt des Films, der beein­dru­ckend zwischen schei­ternder Romanze, Coming-of-Age-Film, Komödie und Thriller-Elementen springt.

Geplatzte Träume als Daue­r­es­ka­la­tion

Die Eltern des reichen Bengels haben von der Hochzeit ihres Sohnes gehört und die vermeint­liche Schande für die Familie soll nun schnellst­mög­lich getilgt, die Scheidung vollzogen werden. Also stehen zwei mensch­liche Bluthunde des Patri­ar­chen vor der Tür. Sean Baker beschleu­nigt seine Eska­la­ti­ons­spi­rale gleich doppelt. Er schickt seine bald entzweiten Figuren nicht nur auf eine Hatz durch die Stadt, um einander wieder­zu­finden, sondern beschwört auch die Ankunft der russi­schen Eltern als herauf­zie­hendes Unheil. Kein Wunder, dass die Nerven verlo­ren­gehen und so zerfließen Gewalt und Slapstick, rührende Charak­ter­mo­mente und nicht enden wollendes, exzen­tri­sches Zetern.

Wie zuletzt in Bakers The Florida Project und Red Rocket scheint der Traum vom guten Leben zum Greifen nah zu sein. In dem einen Film mani­fes­tiert er sich in dem unmit­tel­baren und doch uner­reichten Kommerzort namens Disney World. In dem anderen im Hirn­ge­spinst eines Hoch­stap­lers, dem Traum vom Comeback als Pornostar. Spuren solcher Ausein­an­der­set­zungen waren auch schon vorher in Bakers Schaffen zu finden. Rechnet man Anora hinzu, zeigen seine Filme den American Dream als Konvolut geplatzter Lebens­lügen, Augen­wi­sche­reien und hoff­nungslos starrer Zustände, in denen Figuren mit ein paar Gaune­reien, letzten Geld­re­serven oder eben dem Geschäft mit der Sexua­lität dem Ideal der soge­nannten Selfmade-Gewinner nach­ei­fern. Eine poli­ti­sche Verbes­se­rung der prekären Arbeits- und Lebens­ver­hält­nisse scheint ohnehin nicht mehr zur Diskus­sion zu stehen, also flüchtet man sich in Traum­ge­bilde, Ober­fläch­lich­keiten; man verstellt sich.

Wieder­her­ge­stellte Grenzen

Anora ist im Vergleich etwas repetitiv und geht in seinem langen Mittel­teil viel­leicht etwas zu ausufernd in der Lust an der Eska­la­tion auf. Die eigent­lich span­nenden Figu­ren­ent­wick­lungen, in denen die Außen­seiter über ihre Rollen reflek­tieren, kommen sowieso erst im dritten Akt so wirklich zur Entfal­tung. Und viel­leicht ist dieses Mal irgend­wann etwas zu eindeutig, wie sich das Publikum zu welchem Charakter zu verhalten hat. Die quälende, unan­ge­nehme Reibung mit der Figur des gefal­lenen Porno­stars in Red Rocket etwa erreicht Anora selten. Und doch findet Baker in seinen klas­sen­kämp­fe­ri­schen Szenarien und Halbwelt-Milieus, die er gerade als Durch­schnitt und Norma­lität zeigt, einen beacht­li­chen vorläu­figen Endpunkt. Was Anora in seinen aufein­an­der­pral­lenden Lebens­rea­li­täten so grausam vorführt, ist die nie zu über­win­dende Distanz und Hier­ar­chie zwischen denen, die ohnehin viel haben, reich erben und in Sicher­heit sind, und denen, die sich selbst verkaufen müssen, um ein Schlück­chen eines solchen uner­reich­baren Wohl­stands kosten zu können. Distanzen treten zu Tage, Grenzen werden wieder hoch­ge­zogen. Die Fantasie der Verei­ni­gung und Über­win­dung jener Hier­ar­chie stürzt ein. Sean Baker zeigt sich dabei erneut als hervor­ra­gender Geschich­ten­er­zähler und Ideo­lo­gie­kri­tiker, der die Miss­stände, Ungleich­heiten und Unge­rech­tig­keiten der Gegenwart erbar­mungslos zwischen gelebtem Alltag und den Verheißungen vorführt, die diesen am Leben erhalten.