N/NL/D/S/GB 2024 · 118 min. · FSK: ab 12 Regie: Halfdan Ullmann Tøndel Drehbuch: Halfdan Ullmann Tøndel Kamera: Pål Ulvik Rokseth Darsteller: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit, Øystein Røger u.a. |
||
Die Wahrheit hat viele Gesichter... | ||
(Foto: Pandora / Die FilmAgentinnen) |
Nach den beiden großartigen »Schulfilmen« des Jahres 2023, İlker Çataks Das Lehrerzimmer und Hirokazu Koreedas Die Unschuld ist es überraschend, erneut einen Film zu sehen, der im Kern sehr ähnlich wie die beiden genannten Filme disponiert ist. Es geht um die verzweifelte Suche nach Wahrheit, um Schuld und Sühne im schulischen und privaten Kontext, Welten, die nie ganz voneinander zu trennen sind. Und so wie bei Çatak und Koreeda gibt es auch bei Tøndel einen Tatbestand, der durch die erzählte Geschichte ventiliert und letztendlich auch geklärt wird. Dennoch ist bei Tøndel alles sehr anders.
Das mag natürlich auch am Kulturraum des Regisseurs und vielleicht sogar an Tøndels Familiengeschichte liegen. Er ist der Enkel von Ingmar Bergman und sieht man, wie er sich in seinem Debüt in die Charaktere seiner Geschichte bohrt und den Facetten des zwischenmenschlichen Leides immer wieder neue Momente abgewinnen kann, sind wir natürlich ganz nah bei Bergman und seinen dichten Psychodramen.
Aber natürlich ist das viel zu kurzsichtig, denn so eine Geschichte hätte Bergman nicht einmal in Ansätzen erzählt, weder inhaltlich noch stilistisch. Es ist vor allem am Anfang eine klar angelegte Erzählung: Eines Nachmittags wird die extravagante Elizabeth (Renate Reinsve) in die Grundschule ihres Sohnes Armand einbestellt. Es habe einen Vorfall zwischen dem 6-jährigen Jungen und dem gleichaltrigen Mitschüler Jon gegeben. Bei ihrer Ankunft muss Elizabeth feststellen, dass das Gespräch von der unerfahrenen Lehrerin Sunna (Thea Lambrechts Vaulen) geleitet wird und auch Jons Eltern anwesend sind. Es wird zwar schnell von sexualisierter Gewalt gemunkelt, doch niemand weiß mit Bestimmtheit, was zwischen den beiden Jungen passiert ist.
Aus dieser Kernerzählung weitet Tøndel den Blick auf weitere Lehrerkollegen, vor allem den Direktor aus, aber auch die anderen Eltern kommen ins Spiel, so dass schnell deutlich wird, dass die kleine Welt der Schule eine Abbild der zerfahrenen Beziehungsstrukturen nicht nur einer heillosen Gegenwart, sondern auch einer düsteren Vergangenheit ist.
Tøndels Film nimmt sich immer wieder viel Zeit. Sei es, um die Hilflosigkeit der Erwachsenen zu porträtieren, für die der »Krieg der Kinder« mehr und mehr zu einem Stellvertreterkrieg wird oder für die intensive Analyse der Ehe der »Opfer«-Eltern, Dialoge, die in ihrer Intensität und Wahrhaftigkeit und vor allem in ihrer finalen Entwicklung überragend sind.
Tøndel nimmt sich aber auch Zeit für fast schon bizarre, groteske Momente, die nicht immer nachvollziehbar sind, etwa der exaltierte Lachkrampf wegen des defekten Feueralarms. Oder der Moment, als Armand immer mehr zu einer Hexenjagd wird und fast zum Psychothriller transformiert. Tøndel bricht diese Momente jedoch schon nach wenigen Augenblicken, mit langen, ausufernden psychedelischen Szenen, in denen sein Film viel von seiner gnadenlosen Klarheit verliert. Gleichzeitig zeigt es aber auch die Eigenwilligkeit, den Mut von Tøndel, sich nicht mit erprobten Lösungen zufrieden zu geben, sondern etwas ganz Neues zu versuchen.
Und dieses Neue wird schließlich mit einem erst furiosen und dann umso stilleren Ende im Regen belohnt, einer Stille, in der Worte nicht mehr reichen und nur die Blicke aller Beteiligten für sich sprechen. Zwar hat man hier das Gefühl, der Film hätte schon ein oder zwei Mal in ähnlich intensiven und überzeugenden Schlussmomenten enden können, aber Tøndel wollte offensichtlich alle Ideen, die er hatte mit einfließen lassen. Und dass seine Ideen gut sind, zeigt dann schließlich der Epilog, für den alle vorherigen, nicht immer überzeugenden Experimente verziehen sind, ein Satz, so klug wie monolithisch, den man sich bei jedem nur ansatzweise vergleichbaren »Streit« unbedingt vor Augen führen sollte: »Wenn man zu oberflächlich auf uns Menschen guckt, ist alles Chaos, und wenn man zu nah geht, ist es auch nicht gut. Man braucht die richtige Distanz, dann sieht man, dass es uns eigentlich gut geht.«
Ein starkes Debüt, das unbedingt neugierig auf den nächsten Film von Halfdan Ullmann Tøndel macht.