China 2021 · 96 min. · FSK: ab 16 Regie: Shipei Wen Drehbuch: Noé Dodson, Yinuo Wang, Shipei Wen, Binghao Zhao Kamera: Cedric Cheung-Lau, Xiaosu Han, Zhang Heng, Andreas Thalhammer Darsteller: Eddie Peng, Sylvia Chang, Yanhui Wang, Peiyao Jiang, Yu Zhang u.a. |
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Ansichten auf Korridore, wie aus einem Film von Wong Kar-wai entsprungen | ||
(Foto: Rapid Eye Movies) |
Vermutlich verhält es sich mit dem Stier zu Beginn des Films wie mit dem sprichwörtlichen Schmetterling. Ein Flügelschlag von ihm in Brasilien kann, wenn es blöd läuft, einen Tornado in Mexiko auslösen. Ein poetisches Bild für eine verheerende Kettenreaktion.
In Are You Lonesome Tonight? wird ein Stier, der sich im Stall von seiner Kette gerissen hat, am Ende der von ihm ausgelösten Kettenreaktion einen reichlich naiven, aber durch und durch treuherzigen jungen Mann ins Gefängnis gebracht haben. Weil der entlaufene Stier nachts seelenruhig die Straße versperrt, nimmt Xue eine Abzweigung, überfährt einen Mann, begeht Fahrerflucht. Als Klimaanlagen-Installateur trifft er in der nicht näher benannten glutheißen Metropole auf die Frau desjenigen, den er in den Straßengraben gezerrt hat. Eine Geschichte von Schuld und Wiedergutmachung beginnt, die zärtliche Annäherung an die Witwe Liang Ma (Sylvia Chang) inklusive, für die er eine Art Ersatzsohn darstellt – so wird es uns zumindest zunächst erzählt. Darüber aber liegt die Wissenslücke von Xue, weil er im entscheidenden Moment des Unfalls gar nicht auf die Straße geblickt, sondern sich eine Zigarette angesteckt hat, – und deshalb gar nicht weiß, wie es dazu kommen konnte, dass er den Mann überfahren hat. Hat er ihn überhaupt überfahren? Ist er schuld an seinem Tod?
Eine raffiniert verschachtelte Mystery-Struktur verrätselt den Film, die im Grunde aber nur eine einfache kriminologische Frage stellt: »Was ist passiert?« Erzählt wird von Xue aus dem Off, er sitzt im Gefängnis und erinnert sich, wie er da hineingeraten ist – aber statt dem erwartbaren »ordnenden« Erzähler, der das Geschehen in der Rückschau bereits durchblickt, werden wir in eine Rashomon-Geschichte getrieben, in der ein und dieselbe Figur sich immer neu und immer wieder anders erinnert. Gab es nicht einen Knall vor dem Unfall? Gab es wirklich Feuerwerkskörper? Was ist mit dem Aufprall auf das Auto? Das einzige, was wir verlässlich wissen, ist das Jahr des Vorfalls: Es ist 1997.
Aus der Unordnung der Erzählung leitet sich auch ein philosophischer Anspruch ab. Wen Shipei, der in Columbia Film studiert hat und in seinem Debüt jetzt alles, was er gelernt hat, hinter sich lassen möchte – so erzählt er es zumindest –, zieht in Are You Lonesome Tonight? die grundsätzliche Möglichkeit in Betracht, dass hinter den Dingen andere und tiefere Wahrheiten stecken. Der Schnitt bringt immer wieder, mal sehr explizit, dann nur suggestiv, die Zeitebenen auf Deckung. Gegenwart und Vergangenheit sind in Are You Lonesome Tonight? zwar zu unterscheiden, aber nicht wirklich verschieden. Auf diesem Möbiusband der Geschehnisse kollabiert die Zeit und zieht den Protagonisten immer tiefer in die Welt der Gangster und Knarren. Wie in einem unausweichlichen Sog von Schuld und Sühne, wenn man erst einmal vom buchstäblichen »rechten Weg« abgekommen ist.
Wen inszeniert hochgradig atmospärisch. Etliche Szenen spielen im künstlichen Neon-Licht, die Räume leuchten spärlich in Grün und Rot, während der Rest in die dunkle Intimität der Megalopolen versinkt. Ohnehin spielt der Film meist in der Nacht, aus deren Schatten sich die Figuren nur langsam herausschälen. In einer schummrigen Bar erklingt Elvis Presleys berühmtes »Are you lonesome tonight?«, gesungen von einem blinden Sänger, der Licht ins Dunkel bringen wird. Immer wieder erinnert solche Atmosphärik an die Filme von Hongkong-Regisseur Wong Kar-wai. Die langsamen Kamerafahrten durch Korridore und tiefe Raumfluchten scheinen wie von Wong geborgt und geben Ahnung von einer verschachtelten und nur schwer durchdringbaren Welt.
Xue wird von Eddie Peng gespielt, einem der jungen Shooting-Stars des chinesischen Blockbuster-Kinos, den man aus Action-Schinken wie Derek Kwoks Immortal Demon Slayer (2017) kennen könnte. Are You Lonesome Tonight? ist ungleich ruhiger, annonciert aber mit der Besetzung auch die Möglichkeit, jederzeit in die härtere Gangart des Gangsterfilms zu fallen, und dieser bricht dann auch in die ruhige Geschichten-Rekonstruktion hinein. Jugendliche Schläger fallen entfesselt übereinander her, eine Rauferei unter Gangstern entlädt sich, mit ihr auch einiges an Komik und Slapstick.
Wenn die Figuren die Tonlage des Films zum Kippen bringen, dann zeigt uns Wen auch eine Gesellschaft in der kollektiven Paranoia. Are You Lonesome Tonight? kann daher auch auf einer sehr gleichnishaften Ebene gelesen werden: Ma, die Witwe, will Geld nach Hongkong schicken, so wird es in einer Szene recht beiläufig erwähnt. Das Ganze spielt 1997, in dem Jahr, in dem Hongkong seine Unabhängigkeit verlor und an China zurückging. Dazu kommt, wir erinnern uns: Der Stier, der sich von der Kette losreißt. Die entfesselte Gesellschaft… Die politische Bedeutung schwebt am Ende über diesem Film, an dessen Anfang nur ein Stier den Weg versperrt hat.