Deutschland 2017 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: David Nawrath Drehbuch: David Nawrath, Paul Salisbury Kamera: Tobias von dem Borne Darsteller: Rainer Bock, Thorsten Merten, Uwe Preuss, Albrecht Schuch, Mohammad-Ali Behboudi u.a. |
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Marionetten eines außer Kontrolle geratenen Systems |
»Mit toller Freude segelten wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil wir hofften, endlich an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt auf dem Grund des Meeres zur Ruhe zu legen.«
– Wilhelm Hauff, Die Geschichte von dem Gespensterschiff
Mal ganz ohne Einleitung und das Ende gleich am Anfang, damit auch der unentschlossenste Kinogeher keine Zeit verliert: David Nawraths Atlas ist ein unbedingt sehenswertes Debüt. Und das nicht nur wegen der großartigen Leistung von Hauptdarsteller Rainer Bock. Nein, auch die Nebendarsteller, die Regie, das Drehbuch und die Kamera sind eine Wucht – selten hat es in den letzten Monaten einen deutschen Film gegeben, der deutsche Wirklichkeit derartig eindringlich und universell zugleich erzählt hat.
Die Wirklichkeit, von der Nawrath, der in den letzten Jahren vor allem dokumentarisch (Moharram – Jugend der ewigen Morgenröte), kurz (Der neue Tag) und seriell (Sarah Wieners erste Wahl) gearbeitet hat, ist eine, die man mit dem glitzernden Finanzplatz Frankfurt am Main im Normalfall nicht verbindet. Nawrath und Co-Autor Paul Salisbury zeigen stattdessen die Kehrseite der reichen Stadt, zeigen die Folgen steigender Mieten, blicken nüchtern und schonungslos auf semi-legale Zwangsräumungen, spekulationsbedingte, klan-artige Strukturen, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken, um den Widerstand von Mietern zu brechen.
Unterlegt wird diese Bestandsaufnahme mit der Geschichte von Walter (Rainer Bock), der als ehemaliger Gewichtheber auch noch als alternder Möbelpacker für Zwangsräumungen jüngere Kollegen beim Tragen überbietet. Da die Arbeit für Walter alles ist, was er hat, sieht er dem zunehmend kriminellen Treiben seiner Arbeitgeber stoisch zu. Erst als sein Trupp durch Zufall eine Wohnung räumen soll, die von Walters erwachsenem Sohn Jan (Albrecht Schuch) und dessen Familie bewohnt wird, gerät Walters Selbstverständnis ins Wanken, ohne dass Jan das ahnen könnte. Denn Jan hat seinen Vater seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat, und erst, indem sich Walter mit dem Ethos seiner Arbeit auseinanderzusetzen und seine eigene Lebenslinie zu hinterfragen beginnt, ahnen wir auch etwas von den Verflechtungen von Walters Privat- und Arbeitsleben.
Nawrath entfaltet diese Vater-Sohn-Geschichte präzise, langsam und behutsam, mit einer von Tobias von dem Borne geführten Kamera, die den Personen und ihrem Alltag ähnlich nahe kommt wie Thomas Stuber im letzten Jahr seinen Protagonisten in In den Gängen. Auch Nawrath nimmt sich Zeit für eine atemberaubend spannende Skizzierung von »Zwischenräumen«: von Umkleiden, Wohnungsfluren, Hausfluren, Kneipenkonstrukten und Autofahrten. Und es ist ein wirklich cineastischer Genuss, mit Nawraths Personal und Narrativ auf der einen und Bornes Kamera auf der anderen Seite diese vibrierende, flimmernde Wirklichkeit tatsächlich spüren zu können. So intensiv, dass noch Wochen nach dem Film immer wieder Fragmente dieser ethnografischen Spurensuche im eigenen Alltag aufsteigen.
Ähnlich nachhaltig beeindruckt, wie Nawrath und Salisbury in ihrer Erzählung mit dezidierten Leerstellen arbeiten, die so fein ausgestreut sind, wie die Körner in Grimms Hänsel und Gretel – kaum glaubt man dem Plot gelassen folgen zu können, geht man in die Irre, wird aber jedes Mal wieder eingefangen. Damit erzeugen Nawrath und Salisbury eine Spannung, Tragik und dann auch Poesie, die sich nie verselbstständigt, sondern immer wieder durch das gebrochen wird, was über allem steht: die marionettenhaften Regeln eines kapitalistischen Systems, das außer Kontrolle geraten ist.
Wie Nawrath sich trotzdem aus dieser Ausweglosigkeit navigiert, mit einem über allem schwebenden gallionsfigurartigen Rainer Bock, der die fluchbeladenen Wasser mit seinem subtilen Spiel so konsequent durchpflügt wie Wilhelm Hauffs Gespensterschiff; wie Nawrath selbst die mythologischen Anspielungen und seine Geschichte sowieso mit großem, unkonventionellem Mut auflöst, ist dann aber nur noch eins: großes Kino.