Griechenland 2010 · 96 min. · FSK: ab 12 Regie: Athina Rachel Tsangari Drehbuch: Athina Rachel Tsangari Kamera: Thimios Bakatakis Darsteller: Ariane Labed, Giorgos Lanthimos, Vangelis Mourikis, Evangelia Randou u.a. |
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Sex nach Anweisung |
Wer mag, wer kann, wer will eigentlich noch die nicht enden wollenden Zyklen medialer Abgesänge auf Griechenland lesen und sehen? Die flotten Apokalypsenreitereien, die schwer chiffrierten Wirtschaftsgemälde, die Reportagen aus Alltag und Banalem? Weil keiner weiß, was-passiert-wenn, ist langsam auch die Kraft erlahmt, verstehen zu wollen. Höchste Zeit also, dass die Kunst eingreift, um ein wenig zu entwirren, zu reflektieren und neu zu »motivieren«.
Einer der ersten Filme, der es zur »Veranschaulichung« griechischer Gegenwartszustände in die deutschen Kinos geschafft hat, ist seit Giorgos Lanthimos Dogtooth jetzt Athina Rachel Tsangaris Attenberg. Weitere werden folgen und einmal mehr die Binsenweisheit bestätigen, dass reale Wirtschaftskrisen immerhin die künstlerische Produktion ankurbeln, auch wenn sonst volkswirtschaftlich nicht mehr viel funktioniert.
Tsangaris Attenberg hat allerdings nicht nur durch die Aufmerksamkeit der Leitmedien zum Thema Griechenland bereits ungeahnte Rezeption erfahren. Die Auszeichnung von Ariane Labed, die Tsangaris Hauptcharakter verkörpert, als beste Hauptdarstellerin auf den Filmfestspielen in Venedig 2010, hat ein Übriges getan.
Dem Film mit diesen Erwartungshaltungen zu begegnen, tut ihm allerdings nicht gut. Zwar überzeugt Ariane Labed als 23-jährige Marina immer wieder: sei es bei den Versuchen mit ihrer Sex-erfahrenen Freundin Bella den eigenen, begrenzten Beziehungshorizont zu erweitern oder die letzten Wochen mit ihrem an Krebs leidenden, allein erziehenden Vater zu teilen. Auch ihre an zu viel Theorie krankende Beziehung zu einem Ingenieur lässt ahnen, welches Potential in Labed ruht. Und in der Thematik an sich: der Tristesse und Bewegungslosigkeit eines kleinen, leicht-industrialisierten Inselküstenorts Griechenlands, in dem jeder – so gut es denn geht – die kleinen Erwerbsarbeiten verrichtet, die noch geblieben sind. Von Aufbruch, Hoffnung, Zukunft ist wenig zu spüren. Weder Leben schenken (Sex) noch Leben geben (Tod) ist sonderlich motiviert. Marina verrichtet ihren Sex nach Anweisung, ihr Vater gibt ebenso akribische Anweisungen zu seinem Sterben; etwa ihn im Ausland verbrennen zu lassen, weil Feuerbestattungen in Griechenland nicht erlaubt sind.
Tsangaris gelingt es jedoch nicht, die angelegten, wirklich aufregenden Potentiale auch nur in Ansätzen auszuschöpfen; der Film verharrt immer wieder in inszeniertem Stillstand und bodenlosen Leerstellen, die an das Kino Aki Kaurismäkis erinnern, ohne die Tragikomik von Kaurismäkis Geschichten dabei auch nur zu streifen. Allein die Möglichkeit, die Leerstellen mit dem Halbwissen über die real existierende Wirtschaftskrise in Griechenland aufzufüllen, erzeugt dann und wann einen morbiden Reiz. Immerhin trösten und beruhigen die gelassen fotografieren Bilder eines Griechenlands, dass weit entfernt von dem der Medien und Urlaubsfotografien ist, die jeder kennt. Doch das schale Gefühl, hier eine Krise mit schlecht sitzender Stille serviert zu bekommen und mit Symbolen, die zu groß für diesen kleinen Film sind, nehmen sie nicht. Nicht einmal die wie Kapitelüberschriften angedachten stillen Tanzeinlagen von Bella und Ariane bewegen, irritieren oder überraschen, obwohl sie im Grunde zutiefst tragisch zeigen, dass Griechenland seit Alexis Sorbas nicht nur der Tanz, sondern auch die Musik abhanden gekommen ist.
Kurzum, ein unheimliches siamesisches Zwillingsparadox belastet Attenberg: Ohne die Griechenlandkrise wäre dieser Film wohl nie entstanden und ohne sie ist er fast nicht denkbar. Ein leiser, manchmal zärtlicher, dann wieder langweiliger Soundtrack zu einer Krise, die bald vergessen sein wird.
Zweimal zwei Primaten, zwei artverwandte Eltern-Kind-Beziehungen: Zum einen im Fernsehen in einer Tierdoku von Sir David Attenborough über Gorillas, zum anderen vor dem Fernseher ein sterbenskranker Mann mit seiner erwachsenen Tochter.
Gebannt lässt sich die junge Frau von dem Naturfilmer die Welt erklären. Als ihnen später bei einem Reimspiel die Worte ausgehen, springt das Verhalten der Menschenaffen auf sie über: Animalisch fauchend tollen und toben Vater und Kind übers Bett.
Der Jungfrau Marina ist vieles Menschliche noch fremd. Durch die Naturdokumentationen sucht sie einen Zugang zu sozialem Verhalten und Sexualität, eine Methode, ihren eigenen und Fremd-Körper handzuhaben. Sie tastet sich verspielt und neugierig, unbefangen und un-verschämt auf dieses Neuland vor. Ob es für sie wirklich Bedürfnisse sind, und in welcher Form sie sie erfüllen wollen könnte, hat sich noch nicht entschieden. Ihren Mitmenschen scheint das nur allen alles so lebenswichtig zu sein.
»Attenberg« nennt Bella den britischen Altmeister des Tierfilms. Marinas beste Freundin ist eben eher eine Frau der Praxis als der Theorie. Sie ist die naheliegende Anlaufstelle für erste Schnupperkurse im Zungenkuss. Mit zweifelhaftem Erfolg: Am Ende sind beide doch wieder fauchend auf allen Vieren. Für Marina bleibt der Reiz der speicheligen Prozedur nicht nachvollziehbar – sie müht sich um das bloße Erlernen der Technik, als müsste sich dadurch automatisch auch ein Zugang öffnen zu den damit verbundenen lustvollen Emotionen. Sie verfällt lieber zurück in eine ihr natürlicher erscheinende Art der Körper-Sprache: Wie die Tiere.
Ist da innen überhaupt was? Das ist die zentrale Frage des Films.
Marina fehlen weitgehend die Anschauungsobjekte in ihrer Welt: Ein kleiner, griechischer Industriehafenort, den wir nur herbstlich verhangen erleben. Eine halbe Geisterstadt, geplant für Menschen, die nie kamen oder sie wieder verlassen haben. Vom Hirtendasein direkt ins postindustrielle Zeitalter, wie der Vater einmal sagt, der Architekt ist.
Das wenige, was der Film uns an Menschen zeigt, läßt von außen nicht zwingend auf ein emotionales Innenleben schließen. Gefühle sind ein häufiges Gesprächsthema, aber sie finden kaum Ausdruck an der Oberfläche. Deswegen ist es für Marina naheliegend, sich dem Menschsein anzunähern durch bewusstes Nachäffen jener Verhaltensweisen, die Attenboroughs Kommentare so schön vermenschlichend ausdeuten.
Der Film teilt Marinas distanzierten Blick: Fremdelnd, aber nicht zynisch, mit der mal amüsierten, mal befremdeten Neugier eines Tierfilmers. Die urteilsfreie Haltung der Kamera täuscht die Objektivität einer Dokumentation vor. Sie ist jedoch so offenkundig präzise inszeniert, dass immer auch eine Grundstimmung lakonischer Komik mitschwingt.
In einem Bereich ist für Marina die Trennung zwischen Körperlichkeit und Emotionalität weniger unüberwindbar: In der Musik.
Mit ihrem Vater teilt sie eine Leidenschaft für die BeBop-Band Suicide. Deren Songs wecken in ihr unmittelbar Gefühle, hier funktioniert die Koppelung von äußerem Reiz und innerer Reaktion.
Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass für Marina das erste intime Gespräch mit einem als »Studienpartner« in Sachen Sexualität auserkorenen Mann anfängt mit einem Austausch über diese Musik. Doch das eröffnet nicht die erhoffte Abkürzung zum Aha-Moment: Auf physischer Ebene bestehen die Verständigungsschwierigkeiten weiter.
Selbstverständlich wirkende körperliche Synchronizität erfährt sie hingegen bei Hinterhof-Trockentanz-Einlagen mit Bella: Wie der Welt kleinste Herde stolzieren die Frauen in sich lediglich in der Farbe unterscheidendem Gewand vor den leerstehenden Häusern der Siedlung auf und ab. Was anfangs wie streng einstudiertes Ballett ohne Musik, entwickelt sich nach und nach zum immer animalischeren Gebaren, halb drohend, halb aufreizend.
Alltagstauglich ist das freilich nicht: In einer Szene sehen wir Bella und Marina Arm in Arm untergehakt auf ähnliche Weise eine abendliche Straße entlangschreiten. Sie wirken dabei wie entrückt von den gewöhnlichen Balzritualen der Jugendlichen am dunklen Gehsteig vor lichtgefluteten Tennisplätzen. Nur in den Köpfen der beiden und für uns auf dem Soundtrack ist dazu Françoise Hardys »Tous les garçons et les filles« zu hören: Ein Lied, das von einem Mädchen erzählt, das allein ist unter verliebten Pärchen.
Gegen Ende des Films sind Musik und Tanz schließlich vereint: Marina gibt ihren Empfindungen körperlichen Ausdruck. Ausgerechnet am Sterbebett ihres Vaters tanzt und singt sie mit intimer Intensität zur gemeinsamen Lieblingsmusik.
Es ist ihre private Trauerfeier: Bei der Einäscherung dürfen solche Songs nicht gespielt werden – und Marina wird bei der Zeremonie ohnehin nicht dabei sein. Da in Griechenland bis vor Kurzem Feuerbestattung nicht erlaubt war, ist sie ein Import-Export-Geschäft: Der Körper des Vaters wird in ein Krematorium nach Hamburg verfrachtet, und dann tritt die Asche die letzte Reise heimwärts an.
Eine der beiden bestimmenden Beziehungen in ihrem Leben findet ein Ende. Immerhin hat Marina den ersten Schritt zu auf eine andere Art von Beziehung geschafft: Nachdem sie ihre ersten praktischen sexuellen Erfahrungen mit einem Mann noch durch begleitenden Dauerkommentar à la Attenborough ruiniert hat, sieht man das Paar später deutlich einvernehmlicher zusammen im Bett.
Zwei Primaten haben sich gefunden, wieder einmal. Welchen Anteil daran jeweils Instinkt und Verstand, Wille hatten, ist für den Film letztendlich unerheblich.