Frankreich/J 2022 · 109 min. · FSK: ab 0 Regie: Nicolas Philibert Drehbuch: Nicolas Philibert Kamera: Nicolas Philibert Schnitt: Janusz Baranek, Nicolas Philibert |
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Der Philosoph betritt das Boot | ||
(Foto: Grandfilm) |
Die Tagesklinik »Adamant« auf einem Boot in Paris ist Anlaufstelle für Menschen mit psychischen Problemen. Ihre Mission ist: gegen die Entmenschlichung in der Psychiatrie anschwimmen. Der Dokumentarfilmregisseur Nicolas Philibert (bekannt durch die Schuldokumentation Sein und Haben) setzt auf beobachtende Annäherung. Jetzt hat er der einzigartigen Einrichtung mit seinem Dokumentarfilm Auf der Adamant ein großartiges Denkmal gesetzt, das dieses Jahr mit dem Goldenen Bären der Berlinale belohnt wurde. Und wieder nähert er sich in der behutsamen und zurückhaltenden Beobachtung den Menschen und der Institution an: Er zeigt gemeinschaftliche Besprechungen auf der Adamant, in der die Patient*innen und die Betreuer*innen scheinbar hierarchielos zusammenwirken, er zeigt den Betrieb des Tages-Cafés, dokumentiert die Workshops vor allem kunsttherapeutischer Art und wie die Feier des 10-jährigen Bestehens des Filmclubs auf der Adamant vorbereitet wird.
Vor allem aber fächert sich der Film in einer Reihe intensiver Einzelporträts auf, die eine große Diversität des Psychischen im Menschen entfalten.
Philibert gibt den Patient*innen Aufmerksamkeit, er gibt ihnen Raum, zu erzählen, von sich, von ihren Problemen, von ihrem schwierigen Alltag jenseits der Besuche auf der Adamant. Und es sind manchmal Abgründe zu erahnen, erschütternde Schicksale, die aufblitzen in den Berichten, in den Worten, vor allem aber in den Lücken zwischen
den Worten.
Die beobachtende Präsenz des Filmteams auf der Adamant wird nicht verschleiert. Manche der Gezeigten sprechen den Kameramann oder den Tonmann direkt an, fragen nach deren Namen, aus dem Off antworten sie dann, »Nicolas«, »Erik«… So entsteht eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens.
Die Patient*innen können sich auf dem Boot preisgeben und darstellen nach Maßgabe ihres eigenen Bedürfnisses, und es wird ihnen für den Film keine Aussprache in Interview-Konstellationen abgenötigt. Sie werden nicht dazu gebracht, sich zu äußern, sondern kommen wie von selbst zur Sprache. Und wenn sie schweigen wollen, tun sie das ungezwungen. Darin liegt überhaupt die große Stärke dieses Films. In dem ungezwungenen, dem selbstverständlichen Umgang miteinander liegt ein wahrhaft utopisches Moment.
Eine große Gelassenheit, einen großen Frieden strahlt er aus, dieser Film. Der Raum des Schiffes an der Seine gestattet immer wieder Pausen, Blicke auf die vorbeiziehenden Boote und Schiffe, auf den Verkehr und die ratternden Züge über die Seine-Brücken.
Aber es ist ein Friede, der der Rastlosigkeit abgewonnen ist, so wie dieses Boot an seinem Liegeplatz der betriebsamen Hektik der Stadtumgebung durch Ruhe zu trotzen scheint.
»Geisteskranke haben keine Familie«, sagt François, einer der Patienten, einmal in einem Gespräch mit einem Betreuer. Auf der Adamant scheint er eine solche Familie gefunden zu haben, zumindest tageweise, wenn ihm danach ist.
Sein expressiver Song von der »bombe humaine«, der »menschlichen Bombe«, als die er sich selber empfindet, ist noch vor den Titelcredits der Auftakt einer Reihe von künstlerischen Performances, die sich durch den ganzen Film ziehen. Diese wunderbaren
Momente des Selbstausdrucks durch Musik, Malerei oder Literatur schaffen eine eigene Prägung des Individuellen, die weit über den Rahmen einer dokumentarischen Annäherung an eine öffentliche psychiatrische Einrichtung hinausweist.
In Auf der Adamant bezeugt sich eine zutiefst empathische Anteilnahme, die sich als Plädoyer für eine unvoreingenommene Menschlichkeit versteht. So führt Philibert auch keinen psychiatrischen Diskurs über Fragen der Diagnose oder der Behandlung, nur wenn die Patient*innen von selbst darauf zu sprechen kommen, ist davon die Rede.
Die Zuschauer*innen sind eingeladen, den einzelnen Protagonist*innen als vertrauten Bekannten zu begegnen. Darin liegt auch der Reiz der subtilen Dramaturgie, der die scheinbar banal reihende Montage dieses Films folgt. Die immer wiederkehrenden Protagonist*innen sorgen für eine tröstliche Kontinuität, die Verlässlichkeit im Alltag bedeutet. Eine Verlässlichkeit, die die Adamant als Institution garantiert, die – hoffentlich weiterhin – jeden Morgen öffnet, wie wir das zu Beginn und am Ende des Films sehen.