Ö/D/GB/RUS 2016 · 91 min. Regie: Peter Stephan Jungk Drehbuch: Peter Stephan Jungk Kamera: Jerzy Palacz Schnitt: Bettina Mazakarini |
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Ein Film mit Talking Heads, historischem Material und entzückenden Zeichentrick-Elementen |
Das Wiener Riesenrad am Prater. Sehr früh in diesem Film sieht man alte Fotografien, die es aus verschiedensten Winkeln zeigen, die über es hinweg nach unten auf die Stadt Wien blicken. Die Stahlträger des Rades zerteilen das Panorama wie die Balken in einem konstruktivistischen oder futuristischen Gemälde. Es sind Bilder aus den frühen dreißiger Jahren, photographiert hat sie eine junge Frau, Edith Suschitzky.
Kurz darauf floh die Photographin vor dem Austrofaschismus
nach England. Über dreißig Jahre später kam sie noch einmal nach Wien zurück. Damals hat sie das Riesenrad noch einmal besucht. Dazwischen hatte sie den Lauf der Geschichte verändert. Ist das jetzt nicht ein bisschen übertrieben? Wir werden sehen.
Es begann alles im Wien kurz nach der Jahrhundertwende. Das Wien Mahlers, Schnitzlers, Wittgensteins und – vielleicht am wichtigsten – Sigmund Freuds. Hier wurde Edith Suschitzky 1908 geboren, in liberalen deutsch-jüdischen Verhältnissen. Wie bei anderen anständigen Bildungsbürgern las man Marx und Lenin. Vater und Onkek betrieben in Wien eine linke Buchhandlung und den Anzengruber-Verlag, für vornehmlich sozialistische Werke.
Sie wuchs hinein in die Zeit der Revolution: Der Weltkrieg war verloren, der Kaiser dankte ab. In Russland war der Rote Oktober. Edith rebellierte, wollte, wie so viele ihrer Generation mit dem brechen, was von der bürgerlichen Gesellschaft noch übrig geblieben war. Sie ließ sich als Montessori-Kindergärtnerin ausbilden, lernte auf einer Montessori-Schule, engagierte sich in der Arbeiterbildung, Erziehung und Gesundheit der Kinder. Und sie wurde Kommunistin. Bereits mit achtzehn. Die Schlüsselbekanntschaft ihres Lebens war vielleicht Arnold Deutsch, den sie kurz darauf traf. Deutsch war einer der wichtigsten Spione Moskaus in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. Er wurde ihr Liebhaber und warb sie für den sowjetischen Geheimdienst an. Aber am wichtigsten: Vor seiner Abreise nach Wien schenkte er ihr eine Kamera, eine kostbare Rolleiflex. Von nun an begann Suschitzky zu fotografieren. Für ein paar Jahre ging sie Ende der Zwanziger nach Dessau zum Bauhaus, machte dort eine Photographie-Ausbildung, ließ sich von den Ideen des Modernismus und der Neuen Sachlichkeit bezaubern.
Peter Stephan Jungks Dokumentarfilm über das Leben seiner Tante Edith zeigt viele alte Bilder von Edith Suschitzky, besucht die Schauplätze ihres Lebens und rekonstruiert so eine aufwühlende, bewegende Frauenbiographie, die einerseits sensationell und ungewöhnlich ist, in manchem aber auch typisch für das 20. Jahrhundert, jenes Jahrhundert, in dem sich die Frauen ihren Platz in der Politik- und Kulturgeschichte erkämpften.
Zurück in Wien war Edith Bildkorrespondentin der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, doch bald wurde sie verhaftet. Was war passiert? Die junge Frau war dabei erwischt worden, wie sie als Kurier für die Kommunistische Partei (KPÖ) eine Nachricht in eine Bücherei überbringen wollte. Der Polizeibericht von 1933 beschrieb sie so: »25 Jahre alt, 1,72 Meter groß, schlank, hübsches Gesicht, Locken, Hornbrille, Pullmannmütze.« Nach ihrer Verhaftung im Juni saß sie einen Monat lang im Gefängnis.
Noch im selben Jahr floh Edith vor Dollfuß' Klerikal-Faschisten ins Exil nach London. Dort arbeitete sie weiter, und wurde bald eine bekannte Photographin. Ihre Bilder sind direkt, engagiert, sozialkritisch. Sie bilden das Elend der herrschenden Verhältnisse ab. Sie protestieren. Sie paktieren mit den Verdammten dieser Erde. Die Kamera Edith Suschitzkys ist Waffe im Kampf gegen eine ungerechte Welt. »Der Fotoapparat hörte auf, ein Instrument zum Aufnehmen von Ereignissen zu sein und wurde stattdessen ein Instrument des Handelns: Man konnte damit Ereignisse beeinflussen«, schrieb sie später. Bis heute sind nur wenige Prozent ihres photographischen Nachlasses veröffentlicht. Über 4000 Negative lagern unentdeckt in den Archiven.
Sie heiratete einen Chirurg, bekam ein Kind, und hieß nun Edith Tudor-Hart. Gleichzeitig wurde aus der Gelegenheitsspionin eine professionelle Agentin.
Und als solche nun tat Edith zum ersten Mal etwas, was enormen Einfluß auf die politische Geschichte der nächsten Jahrzehnte haben sollte. Sie rekrutierte den Mann ihrer besten Freundin für den KGB. Es war Kim Philby, der »Jahrhundertspion«, die Schlüsselfigur der »Cambridge-Five«, jener fünf gutaussehenden, hochbegabten
Jungs aus bestem Hause mit kommunistischen Neigungen, die als Doppelagenten für die Briten und den KGB arbeiteten, bis in die sechziger Jahre unentdeckt blieben und den wichtigsten Spionagering der Sowjets in einem westlichen Land bilden sollten.
Die Cambridge Five sind die Vorbilder zahlreicher Spionageromane, unter anderem John le Carrés »Dame, König, As, Spion«. Das berühmteste Photo Kim Philby, das ihn mit einer Pfeife im Mund zeigt, stammt von ihrer Hand.
»Sie war dort der Star der KGB-Abteilung für Auslandsspionage«, fasst es der britische Geheimdienst-Experte Nigel West im Film zusammen. Und er erklärt: »Frauen sind die besseren Spione.« Weil sie geschmeidiger sind, weil sie systematisch unterschätzt werden, weil sich aus dieser Unterschätztheit eine narzisstische Kränkung entwickeln kann, die sie anfälliger macht und zugleich entschlossener.
Privat ging es Edith Tudor-Hart in dieser Zeit nicht gut. Der Mann war nach Spanien gegangen, um im Bürgerkrieg als Arzt auf Seiten der Republikaner zu helfen, das Kind wurde psychisch krank. Es gibt nur ein Foto von ihr aus jenen Jahren: Ein Selbstporträt mit Zigarette und dunklen Augenrändern. Spuren der Depression, aber auch Entschlossenheit. Kein Humor. Eine Spartanerin.
Das Holz aus dem jene Menschen geschnitzt sind, die sich selbst opfern im Widerstand gegen den Lauf
der Welt, gegen Ungerechtigkeit und gegen die Faschisten.
Sie ließ sich scheiden, aber ihr Leben war seit jeher begleitet von vielen Liebesaffairen. Darunter der berühmte Psychoanalytiker Donald W. Winnicott. Sie vereinsamte zunehmend. Geld war knapp, dafür gab es die Angst, enttarnt zu werden, im Überfluss.
Noch einmal, in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, veränderte Edith Tudor-Hart wahrscheinlich den Lauf der Weltgeschichte. Sie vermittelte den Physiker Engelbert »Bertl« Broda, auch einer ihrer Geliebten, an den KGB. Seit 1942 bereits arbeitete Broda als Atomspion für die Sowjets, und übermittelte den Russen wichtige Informationen zum Bau ihrer eigenen Atombombe. Broda wurde zeitlebens nicht enttarnt.
Ein Friedensdienst? »Ein kalter Krieg ist besser als ein heißer Krieg. Und die Russen haben jedenfalls die Bombe nie eingesetzt – im Gegensatz zu den Amerikanern«, erklärt Brodas Sohn im Film. Und ein Ex-KGB-Offizier ergänzt diese Sicht der Dinge im besten Französisch: »Ich bin überzeugt, dass Edith Tudor-Hart sich um den Weltfrieden verdient gemacht hat, die Tatsache, dass wir auch die Bombe hatten, sicherte den Frieden.«
Vielleicht stimmt es ja: Hätten die Amerikaner
nicht gewusst, dass auch die Russen die A-Bombe haben, hätten sie sie vielleicht schon im Koreakrieg und mehrfach danach eingesetzt. Es ist das Gleichgewicht des Schreckens, das den Frieden sichert, nicht die Überlegenheit einer Seite.
Edith Tudor-Hart arbeitete bis in die 50er Jahre für den KGB. Der britische Geheimdienst verdächtigt sie, es gibt Hausdurchsuchungen, Verhöre, aber keine Beweise. Dann änderte sie ihr Leben, zog nach Brighton und starb recht früh, 1973 an Krebs.
Voller Sympathie, aber offen für die Schattenseiten ihrer Geschichte schildert Peter Stephan Jungks Dokumentarfilm dieses in vielen repräsentative Frauenschicksal. Viele spannende Episoden gibt es darin, viele faszinierende Menschen treten auf: Anna Mahler, Gustav und Alma Mahlers Tochter, Anna Freud, Sigmunds Freuds Tochter, Kitty Schmidt-Löw-Beer, Felix de Mendelssohn. Einer von ihnen ist auch Ediths Bruder Wolf Suschitzky, der Vater des Hollywood-Kameramanns Peter Suschitzky, der auch ein berühmter Photograph wurde und erst 2016, im biblischen Alter von 104 Jahren starb.