Deutschland 2017 · 83 min. Regie: Ann Carolin Renninger, René Frölke Drehbuch: Ann Carolin Renninger, René Frölke Kamera: Ann Carolin Renninger, René Frölke Schnitt: René Frölke |
||
Ganz natürlich langsam |
Er heißt Willi. Seinen Nachnamen erfahren wir nicht, aber der ist hier auch nicht weiter wichtig. Er ist ein alter Mann, bestimmt über 80 Jahre alt, und er lebt allein auf seinem Hof, irgendwo in Norddeutschland.
Sein Alltag besteht aus dem Umgang mit den Tieren, die er versorgen muss; es gibt Katzen, Hühner, Enten. Willi, dessen Rücken schon ziemlich krumm ist, und dessen Hände von Rheuma auch schon verbogen aussehen, kann sich nur schwer bewegen. Er braucht einen Rollator, und mit dem muss er auch noch durch das hohe Gras vorankommen, über Steine und andere Unebenheiten in dem schon ein wenig verwilderten Hofgelände. Das braucht Zeit für Willi und Geduld für die Filmemacher, aber die Tiere müssen schließlich gefüttert werden.
Willi scheint all das nichts auszumachen, er klagt nicht, sondern lebt weiter wie immer und tut auch sonst, was getan werden muss. Er spricht mit Besuchern oder Nachbarn, die für ein Stück Kuchen vorbeischauen, und brutzelt sich ein Stück Fleisch in der Pfanne.
Ab und zu erzählt er auch, aus seinem Leben. Er erinnert sich an den Krieg, den er zum Teil in Italien verbrachte, an das heimliche Schwimmen im Fluss Po; alte Fotos werden zur Erinnerungsstütze, und Filmaufnahmen, die die Regisseure neu gedreht haben und zurückhaltend in den Film einflechten. So ist Willis Leben durchaus im Hier und Jetzt, also auch in Deutschlands Geschichte und Gegenwart verankert – und nicht nur in seiner eigenen privaten Welt oder in einem diffusen Allgemeinen.
Dieser Film portraitiert in impressionistischer Weise genau das alles: Den Alltag eines alten Mannes, auf seinem Hof, mit sich, seiner Umwelt, seinen Erinnerungen. Viel passiert nicht und darum kann man den Titel des Films Aus einem Jahr der Nichtereignisse einfach ganz präzise finden. Er ist aber natürlich auch ein bisschen ironisch, und will beim Zuschauer die Frage provozieren, ob denn wirklich so wenig passiert in diesem Leben.
Die Filmemacher Ann Carolin Renninger (sie kennt den Bauern schon aus ihrer Kindheit) und René Frölke haben Willi ein Jahr lang, zwischen Ende 2015 und 2016 immer wieder auf seinem Hof besucht. Gedreht haben sie auf Super-8- und 16mm-Material. Das gibt den Bildern etwas Persönliches, Rauhes, aber auch den Dreharbeiten etwas Zufallsgesteuertes.
Ihr Film ist zwangsläufig auch ein Film über parallele Leben und Zeiten und über das Vergehen der Zeit. Willis Leben ist im Effekt fast schon eine Art unbewusster Widerstand – gegen die Institutionen vor allem, gegen die Wohlfahrtsausschüsse unserer Gesellschaft, die immer alles gerne besser wissen als die Menschen selbst, und die »solche Zustände«, wie wir sie im Film sehen, am liebsten nicht dulden würden.
Indem der Film selbst widerständig ist gegenüber den Üblichkeiten der heutigen, für das Fernsehen abgerichteten Dokumentarfilme, wirft er, ganz en passant, auch die Frage auf, worum es denn eigentlich geht im Dokumentarfilm.
Wir kennen so viele Dokumentarfilme, die gar nichts mehr dokumentieren. Sie erfinden Wirklichkeiten, spielen sie nach mit kostümierten Schauspielern vor frisch gebauten Kulissen und sind noch stolz auf dieses Reenactment, das sie doch nicht Spielfilm und Fiction nennen wollen.
Noch mehr Dokumentarfilme haben überhaupt keine Fragen, sondern wissen schon von Anfang an alles, und treten dieses Wissen dann 90 Minuten lang vor den Augen der Zuschauer breit. Ihre Bilder
illustrieren nur die Ideen der Regisseure, und oft sind diese Regisseure auch noch sehr stolz. Stolz, dass sie den Menschen erklären, was gut und was böse ist, richtig und falsch, was sie tun und lassen, welche Partei sie wählen sollen, und wie sie die Welt vor dem Untergang retten.
Manche Dokumentarfilme wollen Angst machen und aufwühlen angesichts schlimmer Kapitalisten und Politiker, oder Hoffnung machen, weil doch einer, ein Tele-Philosoph oder der Papst, das Gute in der Welt
zum Sieg führt.
All das tut dieser Film nicht und genau darum, weil er etwas beobachtet, vieles zeigt und nichts illustriert, und er uns so daran erinnert, was Kino alles sein kann, außer einer Fortsetzung schlechter Talkshows mit anderen Mitteln, ist Aus einem Jahr der Nichtereignisse eine Wohltat für die Augen wie für das Hirn und einer der schönsten Dokumentarfilme der letzten Jahre.