Kanada/GB 1999 · 109 min. · FSK: ab 16 Regie: Stephan Elliott Drehbuch: Stephan Elliott Kamera: Guy Dufaux Darsteller: Ewan McGregor, Ashley Judd, Patrick Bergin, Geneviève Bujold u.a. |
Die erste Szene, die erste Finte. Der Mann, der da aus dem Fenster blickt, ist kein Killer, sondern nur der Beobachter, »das Auge« eben. Ein Detektiv, der emotionslos ermittelt, sich nur zwischendurch einen bösen Scherz mit seinen Objekten erlaubt. Dieser Profi ist aber in Wahrheit ein Verlassener, der Zugang zur Tochter ist ihm seit Jahren verwehrt. So führt er Zwiesprache mit einem imaginären kleinen Mädchen, das bei der Arbeit neben ihm im Auto hockt und Kinderfragen stellt. Bald sucht sich das Auge aber eine reale Figur zum Behüten, und zwar die Serienmörderin Joanna, die Männer heiratet, umbringt, ihr Geld einstreicht, um dann mit neuer Perücke und neuem Namen weiterzureisen. Als unsichtbarer Schutzengel begleitet sie das Auge von Mord zu Mord, geduldig, liebevoll bis zur finalen Eskalation.
Der Australier Stephan Elliott hat Marc Behms wundersamem Thriller The Eye of beholder neu verfilmt und zwar vorzüglich. Der schlichteste Ertrag ist noch der Wiedererkennungseffekt durch die vielen Anspielungen. Die Reise von Joanna wird zu einer Hitchcock-Sight-Seeing-Tour, der Glockenturm aus Vertigo, die öde Landstraße aus Der unsichtbare Dritte, auch das Apartment-Fenster aus Brian de Palmas Body Double wird zitiert. Fast entsteht der Eindruck, als morde sich Joanna filmweise durch das Land. Doch das sind Kinkerlitzchen, ein Quiz für cineastische Angeber, insofern eben auch nur eine Finte. Denn es geht nicht, wie im klassischen Thriller, um Täter, Detektiv und dramatische Auflösung. Es geht um ruhelose Seelen, Hörigkeit und um die Wahrnehmung selbst, um das, was nicht im Bild ist und doch offensichtlich, und um das, was im Bild ist, aber trotzdem nicht vorhanden. Da ist der Blinde, der dennoch fast alles sieht, und sich den Satz »Mach doch die Augen auf!« anhören muss. Da ist die phantasierte Tochter, die plötzlich auf einem Foto-Abzug auftaucht. Die Realitätsebenen verschwimmen, das einzige, woran sich das Auge noch halten kann, ist die Hingabe zu der gehetzten Mörderin. Moral gehört zu einer längst versunkenen, kleinkarierten Welt.
Das Auge hat die Tochter, Joanna den Vater verloren. Dies ist im Roman der Verknüpfungspunkt, mit dem viel zu jung besetzten, aber begnadeten Ewan McGregor geht dieses Motiv flöten. Doch wird die mysteriöse Vater-Tochter-Geschichte mit anderen Elementen aufgeladen, zur Love-Story ohne jeden direkten Kontakt der Liebenden. Mit McGregor als Auge und Ashley Judd als Joanna ist ein magisches Filmpärchen entstanden, obwohl die beiden kaum eine gemeinsamen Dialog haben. Auch durch sie wird Das Auge zum Idealfall einer Literaturverfilmung, punktgenau gerafft, verhalten gespielt und zu allerlei Auslegung einladend. Kein Wort ist zuviel, die Beschreibung wird ganz den Mitteln des Kinos überlassen. Jenen, die im Kino etwas mehr Erläuterungen brauchen, dient als erzählerische Obligatstimme nur ein Song von Charles Trenet. Das muss reichen. Tut es auch.