Frankreich 2017 · 94 min. · FSK: ab 0 Regie: Agnès Varda, JR Drehbuch: Agnès Varda, JR Kamera: Claire Duguet, Nicolas Guicheteau, Valentin Vignet, Romain Le Bonniec, Raphaël Minnesota Schnitt: Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia |
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Zeigt sie ihrem jüngeren Ich die lange Nase? |
Gerade heute, an diesem 30. Mai, ist sie 90 Jahre alt geworden. Einst war Agnès Varda die einzige Frau im Männerclub der Nouvelle Vague, jener neuen Welle aus Frankreich, die seit Anfang der 60er das Kino revolutionierte. Inzwischen hat sie eher den Status einer Großmutter des französischen Kinos: Quicklebendig, hellwach, nicht ohne Schrullen, ist sie seit Jahren fast im Monatstakt Gast auf irgendeinem Filmfestival, und betreibt höchst aktiv auch eine der bezauberndsten Instagram-Seiten.
In ihrer langen Karriere hat Varda Spielfilme wie Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 oder Vogelfrei, und Dokumentarfilme wie Black Panthers gemacht. Was sie verbindet: Varda ist eine Sammlerin – von Menschen, Objekten, Blickwinkeln. Augenblicke: Gesichter einer Reise, der neueste Film der Französin, gehört zu letzteren. Aber was er dokumentiert, das ist eigentlich die Regisseurin selbst, ihre Interessen und Leidenschaften, ihren Blick auf die Welt, ihre »Seele« – und so ist dies mehr ein Essayfilm, ein persönliches Dokument, als ein objektives Dokument der Welt. Visages villages, zu Deutsch wörtlich »Gesichter, Orte«, im deutschen Kinoverleihtitel Augenblicke: Gesichter einer Reise betitelt, ist eine Zusammenarbeit zwischen Varda und dem etwas affigen französischen Design- und Street-Art-Künstler JR, der viel photographiert, und einige Photos dann monumental-formatig ausdruckt, und sie danach wiederum auf Häusern oder Zugwagen oder Felswänden befestigt, wo sie einige Zeit zu sehen sind, um dann nach ein paar Tagen von Wind und Regen wieder zum Verschwinden gebracht zu werden.
Diese Arbeiten mögen für sich genommen nicht sonderlich interessant sein – mich lassen sie vollkommen kalt – in Kombination mit Varda wird es dann aber schon etwas ganz einmaliges. Denn Varda interessiert sich für Menschen, die »Gesichter« des Titels. Und für Orte, aber bestimmte Orte, Orte, die mit ihrem Leben direkt verbunden sind. Und die sieht man dann in den häuserblockgroßen Bildern.
Ein Beispiel dafür: Ein riesiger Betonklotz in der Normandie, ein ehemaliger deutscher Bunker des Atlantikwalls. Für Varda eine Erinnerung an die Jahre ihrer Jugend unter der deutschen Wehrmachts-Besatzung und an ein Photo, das sie selbst zehn Jahre nach der alliierten Invasion auf dem normannischen Kies geschossen hatte: Eine Ziege war in den Klippen zu Tode gestürzt. Geschichte verschmilzt hier mit Persönlichem, und wird durch Kunst, durch den kaleidoskopischen, alles andere als nostalgischen Blick von Varda und JR in neues Licht gerückt.
Die Struktur des Films ist die eines Roadmovie. Mit einem zum Photolabor umgebauten Wohnwagen reisen die beiden durch Frankreich.
Nach etwas schwerfälligem Beginn, in dem sich die beiden Künstler erst einmal finden und arrangieren müssen, übernimmt Varda dann allmählich das Kommando, und nach etwa einer Stunde sitzt der Film fest im Sattel, verwandelt sich von einem Selbstportrait, das unter Eitelkeits- und Narzissmusverdacht steht, in eine subjektive
Road-Movie-Sozialreportage Frankreichs und Film-Autobiographie.
Typisch Varda ist zum Beispiel der Besuch bei den Hafenarbeiters-Frauen in Le Havre – dies ist eine Hommage an Gewerkschaften und die Tugend der Solidarität, die zwischen Arbeitern und zwischen Frauen ein besonders hohes Gut ist. Varda zeigt hier weibliche Stärke, die nicht durch Quoten erzeugt werden muss.
Darauf folgt etwas komplett anderes: Eine erste Hommage an den großen Jean-Luc Godard. JR und Varda besuchen den Louvre, die Kamera rast in knapp zwei Minuten durch die
ehrwürdigen Säle, genau wie in Godards Die Außenseiterbande – in diesem Fall aber mit Varda in einem Rollstuhl.
Gegen Ende wird es immer intensiver: Varda will Jean-Luc Godard besuchen, in dessen Haus in Rolle am Genfer See. Sie verabreden sich. Schon bevor sie dort ist, sagt Varda in die Kamera: »Er veränderte das Kino für immer… Er ist mir wichtig«, und bemerkt dann in der Bahnhofskneipe noch, Godard sei immer gut für Überraschungen…
Es klingt, wie eine Vorahnung. Denn Godard, mit 85 nur unwesentlich jünger als Varda, der die Verabredung zugesagt hatte, ist nicht zu Hause. Oder er öffnet nicht die Tür. Dort steht nur eine kurze Notiz, eine Erinnerung an Jacques Demy, Vardas längst verstorbenen Ehemann, die Varda zu Tränen rührt.
Als sie wieder abfahren, erinnert sie noch aus dem Off mit Blick auf den Genfer See an einen gemeinsamen Urlaub mit Demy, Godard und Anna Karina, seine damalige Frau. Sie seien ständig am Meer gewesen, nur Godard nicht, der habe den ganzen Tag gelesen.
Am Ende ist die Tür zu Godard also verschlossen. Wäre dies das letzte Bild von Vardas großartiger Filmkarriere, wäre es schon für sich genommen ein wunderschönes Ende. Es ist aber mehr: ein Sinnbild für das Unvollendete, das Offene, das jedem guten Kinofilm eigen ist. Vardas Film ist nicht nostalgisch. Aber er ist durchtränkt vom Sinn für Verlust: Ein Unterton des Vergehens, des Alterns, des Unwiederbringlichen durchzieht den Film und ein Wissen darum, dass das Kino das Medium des Vergehens von Zeit ist, wie kein zweites. Alle Gesichter werden zu Staub zerfallen, alle Plätze werden wieder Wiesen sein und Wüsten, alles, was Filme und Fotos festhalten, ist schon jetzt nicht mehr und wird nie wieder sein. Filme sind die Kompensation dieser Verluste.
Und wenn sie so poetisch, einfühlsam und angenehm verspielt sind wie Augenblicke: Gesichter einer Reise, dann sind sie eine ganz wunderbare Kompensation.