Balikbayan #1 – Memories of Overdevelopment Redux III

Philippinen 2015 · 146 min.
Regie: Kidlat Tahimik
Drehbuch:
Kamera: Santos Bayucca, Kawayan de Guia, Kidlat de Guia, Abi Lara, Lee Meily, Kidlat Tahimik, Boy Yniguez
Darsteller: Kidlat Tahimik, George Steinberg, Kawayan de Guia, Wigs Tysman, Katrin de Guia u.a.
Kidlat Tahimik nimmt sich als philippinischer Regisseur den Kolonialismus, heute und gestern, vor.

The Empire Writes Back

Das 1980 begonnene, 1984 als Memories of Over­de­ve­lop­ment und dann im Jahr 2015 als »Redux« heraus­ge­brachte Epos Balik­bayan #1 – Memories of Over­de­ve­lop­ment Redux III des phil­ip­pi­ni­schen Regis­seurs Kidlat Tahimik gewann letztes Jahr auf der Berlinale den Caligari-Preis. So what?, könnte man meinen. Mit dem Caligari-Preis verbindet sich jedoch zwingend ein Kinostart in Deutsch­land, was in der Vergan­gen­heit schon für manchen Unmut bei den Kino­be­trei­bern, den kommu­nalen, gesorgt haben mag. Diesmal machen sie gleich das beste aus dem Umstand, einen hier­zu­lande nahezu völlig unbe­kannten Filme­ma­cher mit einem monu­men­talen Film von fast drei Stunden Dauer in die Kinos zu schicken: Sie legen gleich noch eine Retro­spek­tive dazu. Tahimik, oft auch als Vater des unab­hän­gigen phil­ip­pi­ni­schen Films und des gegen­wär­tigen digitalen phil­ip­pi­ni­schen Kinos neben Lino Brocka erhoben, ist ein großer Humorist und zugleich Kritiker des Kolo­nia­lismus, der selbst in die westliche Welt ausge­zogen war, um wie die exoti­schen Reisenden der »Persi­schen Briefe« des Aufklä­rers Montes­quieu der west­li­chen Zivi­li­sa­tion den Spiegel aus »exotisch«-asia­ti­scher Sicht vorzu­halten. Mit all ihren Absur­ditäten.

»Balik­bayan«, so werden die die Filip­pinos genannt, die im Ausland arbeiten, meist in den USA. Sie haben einen großen Einfluss auf die Gesell­schaft und Kultur ihrer Heimat: all jene, die etwas von sich halten, durch­setzen ihr Tagalog mit ameri­ka­ni­schen Slan­g­aus­drücken und geben ihren Kindern englische Vornamen. Bei Lav Diaz sind die Balik­bayan bisweilen als reiche Tante aus den USA oder als aufstre­bende Studenten anzu­treffen. Für Tahimik wird die Sprache selbst zu einer Trieb­feder seiner Erzählung. Im Zentrum seiner Super8-Versatz­stücke von 1980 steht Enrique, Sklave des Welt­um­seg­lers Ferdinand Magellan. Er hat zur Aufgabe, ein Wörter­buch der phil­ip­pi­ni­sche Sprache für portu­gie­si­sche und spanische (Kolonial-)Herren zu erstellen. Magellan jedoch kommt bei der Welt­um­se­ge­lung um; sein Tod macht den Sklaven zum ersten Welt­um­segler der Geschichte.

Das alles ist histo­risch verbürgt. Magellan, der erste Welt­um­segler, kam während der Reise auf den Phil­ip­pinen um, sein Chronist Antonio Pigafetta machte das Vorhaben bekannt. Inter­es­sant ist, wie Tahimik die Geschichte weiter­spinnt. Enrique (gespielt von Kidlat Tahimik) schnitzt die Erin­ne­rungen an die Reise in Holz.

Eine aus Holz gebaute Kamera, auf einem Schiffs­mo­dell befestigt: Das ist der Auszug der Filme­ma­cher der »Unter­ent­wick­lung« und zugleich Zeugnis der über­bor­denden Imagi­na­tion des phil­ip­pi­ni­schen Regisseur Kidlat Tahimik.
35 Jahre später nimmt der Regisseur den Faden wieder auf und versam­melt die Darsteller von damals, einschließ­lich sich selbst, erneut vor der Kamera. Weiter geht es mit der bunten Verbrä­mung der Geschichte, aus phil­ip­pi­ni­scher Sicht, mit einem bald unüber­sicht­li­chen Figu­ren­ar­senal, das so ganz der euro­zen­tris­ti­schen Drama­turgie und dem Verlangen nach Über­sicht­lich­keit spottet.

Balik­bayan ist ein über­bor­dender Film und zugleich eine Poetik des »Writing back«, der post­ko­lo­nialen Gegen­poesie. In Ausstat­tung und Musik, in aber­wit­zigen Dialogen drängt der Film über die Leinwand hinaus in den realen Raum. Orna­mental und verspielt, dabei hoch politisch und intel­lek­tuell, mit einer aufrechten Folklore ist er sicher­lich der aufre­gendste Film des Kinojahrs.