Italien 2020 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Fabio D'Innocenzo, Damiano D'Innocenzo Drehbuch: Fabio D'Innocenzo, Damiano D'Innocenzo Kamera: Paolo Carnera Darsteller: Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino Musella, Gabriel Montesi, Max Malatesta u.a. |
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Verlorene Kindheit, verlorene Zukunft | ||
(Foto: Filmperlen) |
Es ist eine so nüchterne wie poetische Bestandsaufnahme unserer absoluten Gegenwart, die die Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo in ihrem nach Boys Cry (2018) zweiten Film anbieten. Wir sehen einen Vorort Roms, Reihenhäuser, Vorgärten und den Wohlstand einer Mittelklasse, die sich mehr vom Leben versprochen hat, die trotz der üblichen Wohlstandsattribute unserer westlichen Gesellschaft (moderner Wohnraum, große Fernseher, Autos und Hofflohmärkte, auf denen keiner mehr etwas kauft, weil jeder alles hat) in einer diffusen Wolke befindet, die sich am besten mit Peter Handkes »wunschlosem Unglück« beschreiben lässt.
Wir sehen masturbierende und den aufblasbaren Pool aufschlitzende Väter, minderjährige Töchter, die den Porno-Browserverlauf ihres Vaters ansehen und vorschlagen, selbst Sex zu haben, damit endlich alles gemacht ist, was man im Leben machen kann. Wir sehen desillusionierte Lehrer und Eltern, deren Beziehungen so verkrüppelt sind wie die ihrer Kinder, wo Zärtlichkeit, wenn sie denn überhaupt einmal eingefordert wird, eigentlich nur noch zwischen Mensch und Tier funktioniert.
Wir sehen also einer Gesellschaft ohne Vision zu, einer Gesellschaft, die sich nicht nur sprichwörtlich selbst begräbt, die von Politik und Wirtschaft, vor allem aber von jedem moralischen System entkoppelt ist, ein System, in dem nicht einmal Bildung, geschweige denn Religion noch irgendetwas bedeutet. Diese stille Bestandsaufnahme, die lose die Familiengeschichten über Alltagsvignetten der Kinder dieser Familien erzählt (und in eine nicht unbedingt notwendige Tagebuch-Rahmenhandlung eingebettet ist), ist die Grundlage bzw. Erklärung für »breaking news« wie etwa jene, dass Italiens Geburtenraten auf einem historischen Tief angelangt sind, so tief, wie seit dem 1. Weltkrieg nicht mehr.
Wer Damiano und Fabio D’Innocenzos Film sieht, erkennt aber mehr als das, er erkennt die vertrackte, äußerst komplexe Grundierung eines Gesellschaftsgemäldes. Er sieht die Folgen der extremen populistischen Verwerfungen à la Berlusconi et al. Er sieht eine Generation, die ohne moralische Bezugssysteme aufgewachsen ist und im Grunde nichts mehr spürt und mitnichten nur in Italien zu finden ist. In Sabrina Sarabis deutschem, in Kürze startenden Niemand Ist Bei Den Kälbern oder im französischen Das Land meines Vaters von Edouard Bergeon sieht es – im ländlichen Kontext – nicht viel anders aus.
Doch anders als in den sozialen, von ähnlichen Verwerfungen heimgesuchten Dramen eines Ken Loach, in dem sich zumindest eine Reibung einstellt, in dem es die Hoffnung gibt, durch eine Reform der Gesellschaft eine Veränderung des Zustands der Betroffenen zu erreichen, ist bei Sarabi, Bergeon und den D’Innocenzos an eine Reform nicht einmal in Ansätzen zu denken, bleibt eigentlich nur noch selbstdestruktives Handeln oder emotionslose Destruktivität als stummer, finaler Moment des Protestes.
Bad Tales – Es war einmal ein Traum erinnert in seiner dichten hyperrealistischen und dann wieder poetischen Beschreibung von Phlegma, unerträglicher, flirrender Sommerhitze, Jugendlichen, die ohne viel zu tun, älter werden und sich langweilen, an Nicolas Mathieus 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnetes sehr ähnliches Sommer-Panoptikum einer sterbenden, abgehängten Gesellschaft. Doch wie bei Loach ist auch in Mathieus Roman »Wie später ihre Kinder›, der in den 1990er-Jahren angesiedelt ist, ein Funken Aufbegehren zu erkennen, ein Aufbegehren, das mit der üblichen zeitbombenartigen Verzögerung zumindest in die Gelbwesten-Bewegung eingeflossen ist.‹«
Was uns die D’Innocenzos in ihrem auch visuell starken Film zeigen, ist jedoch eine weitere Eskalationsstufe. Denn in Bad Tales – Es war einmal ein Traum werden Konflikte mit den Eltern gar nicht mehr ausdiskutiert, ist die Sehnsucht nach einem anderen Leben nicht mehr existent. Visuell wird das in experimentellen Zeitlupenmomenten ausgedrückt und mit einem musikalisch gegen den Strich komponierten Score noch einmal verstärkt. Das ist auch zum Fürchten schön, doch statt Schönheit wird nur mehr eine entsetzliche, unfassbare Leere dargestellt und eine Zukunft in den Raum gestellt, die wir nicht einmal mehr ahnen können, vor der wir uns allerdings fürchten sollten.