Großbritannien 2017 · 90 min. · FSK: ab 16 Regie: Lynne Ramsay Drehbuch: Lynne Ramsay Kamera: Thomas Townend Darsteller: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Alessandro Nivola, Alex Manette, John Doman, Judith Roberts u.a. |
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Der schmale Grat zwischen Amok und Ratio |
Wer sich noch an Lynne Ramsays letzten Film, die subversive, intrafamiliäre Aufarbeitung eines Schüler-Amoklaufs in We Need to Talk About Kevin (2011) erinnert – mit der großartigen Tilda Swinton in der Hauptrolle – dem dürfte klar sein, dass Ramsays unkonventionell dialogarme, aber mit umso stärkerem Fokus auf Leerstellen und Bildsprache versehene Arbeitsweise, auch ein klassisches Film-Genre wie das des Auftragskillers (Hitman) überraschend unterwandern dürfte.
Und so ist es dann auch. Dabei ist in ihrer Adaption eines Romans von Jonathan Ames – A Beautiful Day (Originaltitel: You Were Never Really Here) – bei aller Skelettierung der klassische Hitman-Film immer noch gut zu dechiffrieren. Joe (Joaquin Phoenix), ein Kriegsveteran und irgendwie und irgendwann mal mit dem FBI verbandelter Auftragskiller, nimmt über einen Mittelsmann nur Aufträge an, die das Ziel haben, Frauen und vor allem junge Mädchen aus den Fängen des kriminalisierten Sexhandels zu befreien; sowohl Freier als auch Luden werden während dieser Aktionen nicht verschont, sondern kurzerhand mit einem Hammer effektiv und präzise exekutiert. Doch damit hören die Überschneidungen zum klassischen Hitman-Genre-Film auch schon auf.
Denn wo der Betrachter die adäquate Ausformulierung von Gewalt erwartet, dreht Ramsay einfach ab, wehrt sich gegen ein snychrones Narrativ, blendet entweder ab oder schneidet in Joes Flashbacks seiner Vergangenheit hinein. Momente aus seiner Arbeit als Soldat im Irak oder Afghanistan werden ebenso eingestreut wie stakkatoartige Erinnerungen aus seiner Kindheit, die darauf hindeuten, dass nicht nur seine Militärzeit, sondern auch ein mit Selbstmordandrohungen pädagogisch operierender Vater zu Joes Traumatas und einem dann doch außergewöhnlichen Helfersyndrom geführt haben. Doch Ramsays Introspektionen sind so kurz, so lyrisch, dass sie gleichzeitig auch andeuten, dass Vergangenheit nie ausreicht, die Gegenwart in all ihrer Komplexität zu erklären. Das erinnert an Ramseys Schlussfolgerungen in We Need to Talk About Kevin, obgleich sie dort gezielt den anderen Weg gegangen ist – über eine extensiv ausformulierte Vergangenheit die Gegenwart versucht hat zu erklären. Doch das Ergebnis ist gleich: ganz sicher können wir uns nie sein, was Menschen zu ihren Handlungen und Motiven bewegt.
Das Gefühl des Misstrauens und der Unsicherheit, das durch diese Erkenntnis entsteht, fängt Ramsey gezielt über poetische Kontemplationen auf; mal ein langer Blick auf den Hammer »Made in USA«, den Joe kauft, dann seine verlorenen Blicke auf die regennasse Scheibe seines Autos, Partikularien eines Regentropfens. Diese poetische Stille als Verstärker und Auffangbecken latenter Gewalt funktioniert allerdings auch als Verweis auf einen anderen großen Film, der ebenfalls die hilflosen Versuche eines durch Kriegserlebnisse mit Traumata Versehrten versucht nachzuvollziehen, Martin Scorseses Taxi Driver (1976). Und wie Robert De Niro bei Scorsese, so gelingt es auch Joaquin Phoenix bei Ramsey sich in eine transzendentale Besessenheit zu spielen, die kaum besser den schmalen Grat zwischen Amok und Ratio beschreiben könnte.
Doch anders als für Travis Bickle in Taxi Driver ist für Joe Erlösung ungleich komplizierter, ist nicht nur noch eine Mutter im Spiel, sondern sind die Kriegserinnerungen andere, gibt es auch noch die eigene Kindheit, die Joe im Weg steht. Und vor allem gibt es ein Amerika, das von der Schottin Ramsey so gnadenlos über dem moralischen Abgrund hängend geschildert wird, wie es in den letzten Jahren bereits von anderen »Gastspielen« britischer Regisseure in Amerika geschildert wurde, von Andrea Arnold in American Honey oder von David Mackenzie in Hell or High Water. Ein Amerika, in dem auch der beste Hammer seinen Nagel kaum mehr trifft.