Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann

Deutschland 2024 · 95 min. · FSK: ab 12
Regie: André Schäfer
Drehbuch: ,
Kamera: Janis Mazuch
Schnitt: Fritz Busse
Darsteller: Sebastian Schneider u.a.
Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann
Respektlosigkeit hat auch Vorteile...
(Foto: mindjazz pictures)

Ein Vorbild

Andre Schäfers essayistischer Dokumentarfilm zeigt auf respektlose Weise angemessenen Respekt vor der facettenreichen Persönlichkeit des Schriftstellers und erklärt, warum Thomas Mann und Felix Krull Vorbilder für unsere Gegenwart sind

»Sein eigent­li­ches Anliegen, sein tiefes Ungenügen an der eigenen Indi­vi­dua­lität geht aber weiter... Es ist ein Verlangen aus sich heraus ins Ganze – eine Welt­sehn­sucht...«

Thomas Mann über »Felix Krull«, seinen letzten Roman, an dem der früh gereifte Schrift­steller zugleich seit seinen Anfängen fast sein ganzes Erwach­se­nen­leben, also fast 50 Jahre lang gear­beitet hat. Im Zentrum steht ein überaus char­manter Hoch­stapler, zugleich für Thomas Mann unver­kennbar ein Bruder im Geiste.

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Thomas Mann, der wich­tigste deutsch­spra­chige Schrift­steller (mindes­tens) des 20. Jahr­hun­derts, ist schwer zu fassen – zu facet­ten­reich ist sein Werk, das künst­le­risch wie politisch immens einfluss­reich war. Der Schrift­steller und Nobel­preis­träger war Künstler und poli­ti­scher Mensch, als Emigrant Zentral­figur des deutschen Exils, und als Autor Reprä­sen­tant des anderen Deutsch­land.

Im nächsten Jahr wird die lite­ra­ri­sche Welt seinen 150. Geburtstag feiern.

Schon jetzt, zwei Monate vorher kommt jetzt André Schäfers Doku­men­tar­film ins Kino: Der Regisseur versucht, sich Mann über dessen Lieb­lings­figur, den flam­boy­anten Hoch­stapler Felix Krull, zu nähern.

Dazu mischt Schäfer klassisch doku­men­ta­ri­sche Mittel und Archiv­aus­schnitte mit essay­is­ti­schen Spiel­szenen, in deren Zentrum der Darsteller Sebastian Schneider steht, der hier eine Person verkör­pert, die zwischen Thomas Manns Phan­ta­sie­figur Krull und bestimmten Seiten seiner eigenen Persön­lich­keit steht.
Gedreht wurde dafür unter anderem im Original-Wohnhaus der Manns im Stadtteil Pacific Palisades in Los Angeles.

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Der Film Die Bekennt­nisse des Hoch­stap­lers Thomas Mann zeigt alles Mögliche, was Thomas Mann nicht war: Einen Mann mit grün lackierten Fingernä­geln, der im Tütü-Ballett­röck­chen durch Los Angeles stolziert.
Eine offen nonbinäre Person, die frei alle Facetten ihrer Sexua­lität auslebt.

Man kann André Schäfers doku­men­ta­ri­schem Essay-Film daher vorwerfen, dass er keinen Respekt hat vor der Bürger­lich­keit Thomas Manns, vor dem Wunsch, Norma­lität zu leben und von der Welt so gesehen und respek­tiert zu werden, eine Lebens­form, zu der sich Thomas Mann durchaus frei und nach eigenen Prio­ri­täten entschied – denn er war eben längst nicht nur ein verkappter schwuler Schrift­steller, sondern vor allem ein bürger­li­cher, zwar politisch links­li­be­raler, aber ansonsten kultur­kon­ser­va­tiver Mensch.

Keines­wegs konnte Thomas Mann nicht leben, was er leben wollte; keines­wegs hat er »nur eine Fassade« aufgebaut, jeden­falls nicht dann, wenn man unter Fassade ein Lügen­pro­gramm und etwas grund­sätz­lich Falsches versteht. Wie bei Felix Krull, seinem lite­ra­ri­schen Alter Ego und seiner Roman­figur, die ihm selbst am nächsten ist – genau das zeigt der Film, war die Hoch­sta­pelei auch bis zu einem bestimmten Grad das Wesen des Schrift­stel­lers Thomas Mann, das, was er annahm und für sich selbst annehmen wollte, und wie er von der Welt gesehen werden wollte.

Diese Bekennt­nisse könnte ein Film genauso achten, wie er anderes an der facet­ten­rei­chen Persön­lich­keit des wich­tigsten deutschen Schrift­stel­lers der Lite­ra­tur­ge­schichte achtet.

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Aber Respekt­lo­sig­keit hat auch ihre großen Vorteile. Denn Regisseur Schäfer zeigt auch ganz viel von Thomas Mann, seinem Werk, seinem Leben und seiner Familie. Und dadurch, dass er seinen Autor-Helden nicht wie eine Monstranz behandelt, sondern respektlos frei mit ihm umgeht, fördert er vieles zutage.

Sein Film ist immer ganz heraus­ra­gend, wo er der Kraft der Origi­nal­texte und der origi­nalen Archiv­ma­te­ria­lien vertraut, wie etwa in einer großartig seltsamen Passage, in der Erika und Golo Mann über ihren Vater sprechen:

»Es gab immer neben­ein­ander diese beiden Figuren: den Vater, den Gatten, den Herrn des Hauses, den nahen Menschen. Und die nach Außen proji­zierte lite­ra­ri­sche Figur, die Figur des Künstlers Thomas Mann.« (Erika)

»In einem Schrift­stel­ler­haus wie dem meines Vaters schwankte die Realität gewis­ser­maßen; und das Künst­le­ri­sche und das Wirkliche, oder soge­nannte Wirkliche vermischte sich auf sonder­bare Weise.« (Golo)

Und der Regisseur signa­li­siert durchaus, dass ihm dieses Origi­nal­ma­te­rial am wich­tigsten ist.
Schäfer hat Respekt vor Thomas Mann.

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Was für diesen Film spricht, ist auch, dass er Thomas Mann nicht »vom Sockel stürzt«. Er wird auch nicht »gegen den Strich« gelesen und gebürstet. Er darf auf dem Podest stehen bleiben, das ihm gebührt.

»Wo ich bin, ist Deutsch­land« sagte Thomas Mann Mann dann nach 1933 im Exil. Er und seine Familie waren in dieser Zeit »des Medu­sen­haupts des Hitle­rismus« (Thomas Mann) in vieler Hinsicht ein paar Jahre lang tatsäch­lich die deutsche Familie schlechthin, sie für sich waren »Das andere Deutsch­land«.

Und Thomas Mann war zuver­sicht­lich: »Despite of all this however, I am opti­mistic about the final victory of democracy!«

Thomas Mann ist arche­ty­pisch für den Schrift­steller des bürger­li­chen Zeital­ters; ja: für die Idee von Bürger­lich­keit. Eine univer­sale Idee, die dem demo­kra­ti­schen Zeitalter und der Demo­kra­ti­sie­rung entstammt und insofern weiterhin für unsere Gegenwart und unsere Zukunft das Muster vorgibt.

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Eine produk­tive Respekt­lo­sig­keit ist es etwa, wenn Schäfer seinen Haupt­dar­steller Sebastian Schneider, der hier eine Person verkör­pert, die als andro­gyner Dandy fluide zwischen Thomas Manns Fanta­sie­figur Felix Krull und bestimmten Seiten von Thomas Manns Persön­lich­keit changiert, im Original-Wohnhaus der Mann im Los Angeles-Stadtteil Pacific Palisades sitzen lässt, wo er die Erst­aus­gabe des »Felix Krull« öffnet, obwohl die erst geschrieben wurde, als Mann Kali­for­nien bereits wieder gen Schweiz verlassen hatte.

Der Film zeigt wie diesen auch andere wunder­bare Origi­nal­schau­plätze von Manns Leben und viele Inspi­ra­tionen für seine Geschichten, etwa Ausschnitte aus Viktor Tour­janskys Stummfilm Manolescu, der König der Hoch­stapler aus dem Jahr 1929, der den realen Fall des Hoch­stap­lers Manolescu aufgreift, der wie der Film für Mann Inspi­ra­tion war.

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In seiner Colla­ge­technik zeigt der Film recht gut, dass ein Hoch­stapler, das was er vorgibt zu sein, auch ist, auch sein muss.

Schäfer zeigt sehr plausibel, dass auch Thomas Mann ein Hoch­stapler eigener Art gewesen ist. Und zugleich entdeckt er uns Thomas Manns lebens­lange Lieb­lings­figur Felix Krull voll­kommen neu und überaus zeitgemäß: Ein Charmeur, ein Drücke­berger vor dem Militär, ein Mann, für den das Leben eine Bühne war, die er mit vielen Masken und immer neuen Kulissen ausstaf­fierte.
Ein Vorbild auch für unsere Zeit – gerade da die innere Freiheit von Felix Krull, dem vermeint­li­chen Tauge­nichts in seiner liebens­werten Hoch­sta­pelei und Leich­tig­keit, seinem Hedo­nismus, die Bieder­männer und Mora­listen, die uns – von Merz bis Baerbock – gerade von den kommenden neuen schweren Zeiten erzählen wollen, provo­ziert.

Politisch aktuell ist er auch darin, dass er von Thomas Manns Bezie­hungen zu den Deutschen und zu den USA erzählt.

Beide waren problem­be­haftet. Für Deutsch­land wünschte er, dass wir uns zu »einem europäi­schen Deutsch­land statt eines deutschen Europa« bekennen.
Über die USA sagte er, und auch das könnte aktueller nicht sein:

»Eindruck, dass dies Land dem Wahnsinn in die Arme taumelt. Dabei hängt die Welt von ihm ab.«