Frankreich/NL/B 2021 · 131 min. · FSK: ab 16 Regie: Paul Verhoeven Drehbuch: David Birke, Paul Verhoeven Kamera: Jeanne Lapoirie Darsteller: Charlotte Rampling, Virginie Efira, Lambert Wilson, Daphne Patakia, Olivier Rabourdin u.a. |
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Hyperrealismus zwischen Lust und Laster | ||
(Foto: Capelight/Koch Films/Central) |
»Wherever I am – there can be no shame!«
- Schwester Bartolomea in Benedetta
Dies ist ein Film, der mit visuellen Reizen nicht geizt. Schwelgerische Bilder in kraftvollen Farben zeigen scheinbar alles: Göttliche Visionen werden ins Bild gesetzt, wie ein psychedelischer Traum in einem Hippiefilm aus den frühen 70er Jahren; korrupte Pfaffen rollen böse mit den Augen oder lassen ihre Mundwinkel zynisch zucken; schöne Frauen wandeln leichtbekleidet oder gleich ganz nackt mit wogenden Brüsten durch diesen Film.
Alles ist auf geschmacklose Weise geschmackvoll, manchmal einfach »guter Trash«, wie in jenen heutigen Klassikern zwischen B-Movie und Biennale-Kunstkino, die man früher »Mitternachtsfilme« nannte.
Jedenfalls aber ist es über jeden schlichten Naturalismus intensiv erhoben zu einer vibrierenden Hyperrealität – oder passiert doch das Entscheidende in unserer Phantasie, und diese Bilder triggern mehr, als sie wirklich zeigen?
Denn zugleich ist Benedetta ein seltsam kühler, distanzierter Film; keineswegs werden hier voyeuristische Gelüste billig bedient, oder Vorlagen fürs Befriedigen schlichter Instinkte geliefert.
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Gleichgeschlechtliche Liebe war lange Zeit auch im zivilisierten Abendland eine Todsünde. Erst recht zwischen Frauen. Und erst recht innerhalb der katholischen Kirche.
Und doch gab es sie: Liebe und sexuelle Beziehungen zwischen Nonnen. Eine von ihnen war Benedetta Carlini (1590-1661), und sie war selbst unter ihresgleichen ein ganz besonderer Fall: Denn Carlini lebte zur Zeit der Spätrenaissance im späten 16. Jahrhundert nicht nur die verbotene Liebe hinter Klostermauern, sie war zugleich eine öffentliche Figur, denn die Mystikerin hatte göttliche Visionen, die sogar vom Vatikan bestätigt wurden und Carlini und das von ihr geführte Kloster in
Pescia für einige Jahre zur Touristen-Attraktion machten.
Dann führte ihr Liebesleben zu einem handfesten Skandal...
Der niederländische Filmregisseur Paul Verhoeven erzählt jetzt Carlinis Geschichte auf seine Weise. Offenbar gelingt es dem alten geschulten Provokateur Verhoeven dabei immer noch, Autoritäten und Autoritäre zu provozieren. Er ist eben kein Frauenverächter, sondern ein Gegner der Diktatoren. Die erkennen ihren Feind mit jenem sicheren Instinkt, der uns Demokraten manchmal führt: In Russland wurde Verhoevens Film schon verboten.
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Charlotte Rampling spielt voller Vergnügen eine typische Verhoeven-Figur: Eine schmunzelige Äbtissin, die die Reichen ausnimmt und immer irgendwelche Sprüche vom Drehbuch bekommt, oder den Moment knallharten Verhandelns mit reichen Eltern von Kindern, die ins Kloster gegeben werden: Man sei hier »nicht auf dem Basar«; der Herr Papa solle sich »nicht jüdisch benehmen« und nicht »feilschen wie die gottlosen Juden«.
Oder das Gespräch der Äbtissin mit dem so ehrgeizigen wie zynischen
Bischof, der die »Wunder« Benedettas zur eigenen Karriere nutzen will. Sie erklärt ihm, dass Wunder eigentlich bestimmte gemeinsame Muster hätten, »in denen sich Gott offenbart«. Das Gegenargument: »God is not bound to any rules of the book.«
Solche kleinen klugen Bosheiten über die Kirche gefallen Verhoeven.
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Das Unkonventionelle, Provokative war schon immer das Hauptinteresse von Paul Verhoeven. Mit fast jedem seiner Filme gelingt es ihm, Debatten und Skandale auszulösen und eine gewisse Lust an dem, was man heute »Trollen« nennt, ist unübersehbar. Auch mit über 80 und fast 30 Jahre nach seinem Welterfolg Basic Instinct hat Verhoeven auch in seinem neuesten Film Benedetta immer noch viel Spaß daran, der Gesellschaft ihre Doppelmoral und den Tugendtaliban unserer eigenen Breitengrade ihre Untugend vorzuhalten.
In diesem Film Benedetta geht es ihm vor allem um die Abgründe der Religions-Geschichte und -Tradition in den (ex-)christlichen Ländern Europas.
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Benedetta erinnert in vielem stark an unsere Gegenwart: Eine ansteckende tödliche Seuche tobt in Norditalien. Manche glauben an alles, andere an gar nichts mehr. Und fast alles ist eine Frage des richtigen Narrativs, der kommunikativen Deutung der Wirklichkeit.
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Die Handlung dreht sich um die Titelfigur (gespielt von Virginie Efira), die bereits als Kind von ihrer reichen Familie ins Kloster gebracht wird und von Anfang an eine offenbar starke spirituelle Kraft besitzt. Sie hat Visionen, »tut Wunder«, die von der Kirche anerkannt werden, und ist eine Art Klassenprimus unter den Novizinnen.
Doch als sie mit der Nonne Bartolomea (Daphne Patakia), einer »gefallenen« Frau und Exhure, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann ins Kloster flieht, eine neue Zellengenossin bekommt, entdeckt sie die Frauenliebe für sich. So verwandelt sich die frühneuzeitliche Touristenattraktion in einen Fall für die Inquisition – Verhoeven geht es vor allem um die Abgründe der Religions-Geschichte und -Tradition in den (ex-)christlichen Ländern Europas.
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Die prinzipielle Frage, die sich hier stellt, ist die: Geht Verhoevens künstlerischer Grundansatz, im Kino alles zu zeigen, bis hin zur ästhetischen Peinlichkeit oder über sie hinaus, auch in diesem Fall auf?
Man könnte argumentieren, Verhoeven fügt seinen bisherigen Filmen nichts hinzu; er fügt auch dem nichts hinzu, was andere in ihren Filmen über Nonnen bisher gezeigt haben.
Religiöse Doppelmoral, das gestörte Verhältnis von Sexualität und Kirche, und das Dasein der
Nonnen sind schon seit Jahrzehnten regelmäßig Gegenstand des Kinos: So unterschiedliche Regisseure wie Robert Bresson, Luis Buñuel, Ken Russell und Jacques Rivette konnten sich der offenbar vorhandenen Faszination für die geschlossene Klosterwelt nicht entziehen.
Aber ist das ein wirklich starkes Argument? Film ist ja auch Inszenierung, ist Gestaltung. Wir sehen bei Verhoeven immer alles sehr explizit: Das Blut spritzt und nicht nur das Blut. Eine kleine Marienfigur ist zugleich ein Dildo, den wir mehr als einmal sehen dürfen. Die Träume und Visionen der Nonnen sind visualisiert.
Aber nichts hier ist Exploitation, Zeigen um des Zeigens willen – gegen das allerdings auch wenig zu sagen wäre.
Gegenüber anderen Filmemachern nimmt Verhoeven überdies die religiöse Erfahrung selbst überraschend ernst. Er hält es für möglich, dass zumindest seine Hauptfigur Benedetta alles glaubt, was sie sagt und tut, dass sie überzeugt ist, dass Gott »durch meine Hände ein Wunder vollbringt« – hier ist Naivität nicht von Fanatismus zu unterscheiden.
Trotzdem finde ich es etwas merkwürdig, was Verhoeven hier macht. Und ich verstehe eigentlich nicht, warum er es macht, was ihn daran interessiert. Aber so ist Verhoevens Karriere: Es gibt Meisterwerke und es gibt die eher merkwürdigen und ein bisschen durchschnittlichen Filme, wie Hollow Man. Gleichzeitig hält man es hier natürlich auch für gut möglich, dass sich dieser Film vielleicht später im Nachhinein doch noch als Meisterwerk entpuppen könnte. So wie etwa The Black Book, den ich mögen wollte, aber eigentlich nicht gemocht habe, als er 2006 in Venedig lief. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass das eines seiner Meisterwerke ist, dass ich den Film unterschätzt habe.
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Flesh and Blood heißt der frühere, relativ vergessene Mittelalter-Film von Paul Verhoeven mit Rutger Hauer. Was für eine Rolle hätte Rutger Hauer wohl in diesem Film gespielt, lebte er noch?
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Der Schlüssel zu der Frage, wo wohl das Interesse des Regisseurs liegt, wird am Ende enthüllt: Benedettas Liebhaberin Schwester Bartolomea, das Mädchen aus dem Volk und Exhure, erklärt da nach Folter und Demütigung: »Humilation does not leave a mark«, und dann: »Wherever I am – there can be no shame!«
Das sind die entscheidenden Sätze.
Darin entpuppt sich Bartolomea als die eigentliche Heldin des Films. Und als eine geistige Verwandte Rachel Steins, der von Carice van Houten gespielten Hauptfigur von Black Book.
Verhoeven ergreift Partei gegen die Inquisitoren und Moralapostel und für die von ihnen Erniedrigten.
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Verhoevens facettenreichem Film ist gelungen, hochunterhaltsam und klüger, als er manchmal aussieht. Er zeichnet vor allem ein altkatholisch sattes, grelles Bild der Renaissance voller Vulgaritäten und expliziter Szenen, zu denen nicht nur der Sex im Kloster gehört, sondern auch platzende Pestbeulen, Autodafés auf dem Marktplatz, irr gewordene oder hysterische Nonnen und betont kitschig-süßliche Christusvisionen, in denen der Heiland mit nacktem Oberkörper wie eine Model-Figur aussieht, wie ein Beau aus der allerneuesten Jeans-Werbung.
Und Charlotte Rampling hat wie erwähnt den schönsten und einen wunderbar lustigen Auftritt in ihrer Nebenrolle als süffisante Äbtissin, der nichts Menschliches fremd ist und die schon zuviel gesehen hat, als dass sie Visionen, Pest und Todsünde noch erschüttern könnten.
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In vibrierendem Hyperrealismus zwischen Lust und Laster zeigt Paul Verhoeven Schaulust, Skandal und Todsünde.
Verhoeven bietet Genuss ohne Reue und hält damit weiterhin als einer der letzten Regisseure die Versprechen der Siebziger-Jahre.
Provokation ist eine komplizierte Angelegenheit. Hängt einer Regisseurin oder einem Regisseur erst mal das Label »Provokateur« an, droht schnell eine kreative Sackgasse. Während der eine Teil des Publikums mit jedem Film neue Grenzüberschreitungen herbeisehnt, fühlen sich die anderen vom kalkulierten Tabubruch gelangweilt. Ein Teufelskreis, der schnell zu starken Abnutzungserscheinungen führt. Als Gaspar Noé auf dem »Film Festival Cologne« nach der Vorführung seines neuesten Films Vortex wiederholt auf die Rolle des Provokateurs angesprochen wurde, war ihm das Unbehagen deutlich anzumerken: Vortex ist keineswegs weniger Noé und auch nicht weniger radikal. Die Themen haben sich geändert. Mitunter verstellt die journalistische Fixierung auf die (ausbleibende) Provokation auch den Blick auf die Feinheiten der filmischen Form.
Paul Verhoeven hat in jedem seiner Filme provoziert und wohl nie auch nur einen Gedanken an eine kreative Sackgasse verschwendet. Von der drastischen homosexuellen Vergewaltigung in Spetters über die Gewaltexzesse in RoboCop bis zur moralischen Provokation in Elle – immer fand der Niederländer einen Weg, die Gemüter zu erhitzen. Das lag auch daran, dass die jeweiligen Themen – Gewalt, Sex und amerikanische Kultur – zum Stil des Regisseurs passten.
Verhoeven ist ein Filmemacher der Sichtbarkeit, der alles in einem expliziten Exzess ausreizt, bis die Form sich selbst kommentiert. Vor allem in seinem bis heute als Edeltrash verkannten Meisterwerk Showgirls bringt er diese Ästhetik der Oberfläche zur Perfektion. Nichts an diesem Film ist auch nur im Ansatz erotisch oder sinnlich; alles ist ein Zuviel, zu theatralisch und allzu deutlich. Die Oberfläche von Las Vegas läuft in der Form dieses Musicals auf Grund und die Nacktheit wird zu bloßem Fleisch. Nun startet Benedetta in den Kinos und die Provokation des Provokateurs will partout nicht aufgehen.
Das hat weniger mit dem Inhalt, der in weiten Teilen auf der Studie »Immodest Acts« der Historikerin Judith C. Brown basiert, als vielmehr mit einem Scheitern der Form zu tun. Verhoeven schafft es nicht, seine Themen – Begehren, Macht und Religion – in einem überzeugenden ästhetischen Konzept zu vereinen. Virginie Efira erinnert an ein Modell, das in einem billigen Nonnenkostüm durch ein Krippenspiel stolziert. Die erotisch aufgeladenen Jesus-Visionen wirken in ihrer trashigen CGI-Ästhetik allzu gewollt unfertig. Und nicht immer hat Verhoeven seine Schauspieler im Griff: Die Massenszenen, wenn sich die Bürger der Stadt auf dem Platz versammeln, haben etwas von einer laienhaften Theateraufführung.
Diese ästhetische Diskrepanz rührt aus einer Spannung zwischen dem sakralen Pathos des Themas und der Oberflächen-Ästhetik des Regisseurs. Statt das Profane des Klosters hervorzuheben, hätte der Film das Heilige durch übersteigerte Ernsthaftigkeit brechen müssen. Womöglich wäre der Film dann tatsächlich ins Subversive und produktiv Perverse gekippt.
In eben solchen formästhetischen Reflexionen ihrer Themen sind Jacques Rivettes Die Nonne und Ken Russells Die Teufel der aseptischen Künstlichkeit von Benedetta überlegen. Die strenge Komposition der Räume als Gefängnis bei Rivette oder der ekstatische Rausch des Exorzismus als filmisches Happening bei Russell: Das ist großes Kino. Benedetta hingegen ist eben das nicht.
Dennoch, so ehrlich muss man sein, ist das alles typisch Verhoeven – die Oberfläche, der cleane Look und das Expressionistische der Inszenierung, das bis in das Spiel der Darsteller_Innen reicht. Nur hat sich eben die Zeit verändert, während der Regisseur stehen geblieben ist. So verkommt all die kalkulierte Nunsploitation-Provokation, die zum Dildo umfunktionierte Marienstatue und all der Sex, zu einer ziemlich biederen Angelegenheit, die zudem reichlich sexistisch daherkommt.
Bereits wenn sich das Begehren zwischen Benedetta (Virginie Efira) und Bartolomea anbahnt, ist in den Blicken kein Verzehren nach dem anderen zu erkennen. Es gibt kein Spiel, keine Verzögerung und auch keine Verhüllung. Zwar entzieht sich Benedetta eine Weile. Doch im Grunde müssen die Körper sofort entkleidet und berührt werden. Von einer Verführung durch Blicke wie im sinnlich-durchdachten Porträt einer jungen Frau in Flammen von Céline Sciamma ist man in der Welt von Verhoeven weit entfernt.
Auf die gleiche Weise sind auch die Sexszenen für den männlichen Blick inszeniert. Das Verlangen kommt nicht aus dem Inneren der beiden Figuren; es wird von der Kamera verlangt. Die Inszenierung der weiblichen Körper ist eine der Sichtbarkeit, eine ausgeleuchtete Softporno-Ästhetik, in der die Körperteile (Brüste!) in Szene gesetzt werden. Und genau das ist filmischer Sexismus. Wer sich davon allerdings provozieren lässt, macht den Film wichtiger, als er ist.
Dabei hat Benedetta durchaus seine Momente. Insbesondere wenn der Film sich der Machtökonomie des Wunders widmet. Früh wird klar, dass sich Benedetta die Wundmale mit einer Scherbe selbst zugefügt hat. Bis zum Ende bleibt die Frage im Raum stehen, ob es nicht letztlich doch der Herr ist, der durch die junge Nonne hindurch wirkt und ihre Hände führt. Diese Möglichkeit, dieser kleine Zweifel ist die Lücke, in die sich der Glaube an die Transzendenz einnistet und die Macht ihre Fäden spinnt. Daraus aber macht Verhoeven viel zu wenig. Die Brüste sind ihm im Weg.