USA 2018 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Barry Jenkins Drehbuch: Barry Jenkins Kamera: James Laxton Darsteller: Kiki Layne, Stephan James, Regina King, Teyonah Parris, Colman Domingo u.a. |
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Kino des Versunkenseins |
»Beale Street is our legacy« – »Every black person born in America was born on Beale Street.« Mit einem Zitat von James Baldwin beginnt Barry Jenkins seinen neuesten Coup If Beale Street Could Talk nach dem Oscar-Gewinner Moonlight. Verfilmt hat er Baldwins gleichnamigen Roman; dessen Titel bezieht sich wiederum auf eine Zeile aus dem vielfach interpretierten Blues-Klassiker »Beale Street«. Die titelgebende Straße in Memphis ist ein überdeterminierter Ort, eine Chiffre für dieses afroamerikanische Erbe: Es umfasst schwerstes Leid seiner Bewohner, aber auch die revolutionäre Erfindung des Blues und bedeutende afroamerikanische Literatur, ist so ein Fixpunkt amerikanischer Blackness.
Jenkins schreibt seinen Film ein in diese »legacy«, dieses Erbe. Harlem, 70er-Jahre: Das junge Paar Tish und Fonny möchte zusammenziehen und hat gerade eine Wohnung gefunden. Zum Zusammenleben kommt es jedoch nicht, denn Fonny wird beschuldigt, eine Puertoricanerin vergewaltigt zu haben. Fonny kommt unschuldig ins Gefängnis, während Tish ein Baby erwartet. Fonnys Vater und Tishs Familie setzen alles daran, einen Anwalt zu bezahlen und Fonny aus dem Gefängnis zu befreien. Die einzige Waffe der ungerecht Behandelten ist die starke Liebe, die sie vereint, und die gegen die absurde Rechtsprechung aufgeboten wird: die familiäre Liebe der Eltern zu ihren Kindern, die partnerschaftliche Liebe von Tish zu Fonny und später zu ihrem neugeborenen Kind. If Beale Street Could Talk ist ein bitterer Film über die Liebe.
»If Beale Street Could Talk«: Ein Konjunktiv, ein Halbsatz, der in der Luft hängt. Der Originaltitel scheint eine Suche anzuzeigen, ein Was-wäre-wenn, dessen Erzählung der Film selbst ist. Jenkins lässt die Beale Street mit atmosphärischen Bildern und starken Figuren sprechen. Er bringt sie mit einem Soundtrack zum Klingen, der zwischen einem schwebenden Score und traditionellem Blues die Spannung hält. Auch die Liebe des sehr jungen Paares ‒ Tish und Fonny sind um die zwanzig ‒ bewegt sich in einem ähnlichen Spannungsfeld. Die Annäherungen zwischen den beiden sind tastend, behutsam suchend, schüchtern. Gleichzeitig ist ihre Liebe von einer Bestimmtheit und Sicherheit, die keine Zweifel an sie heranlassen will: »I’m with you!« lässt Tish den verhafteten Fonny eindringlich wissen.
Jenkins geht dabei nicht chronologisch vor, den Grund für Fonnys Verhaftung erfährt man erst nach einem Drittel des Films. Einblendungen von historischen Schwarz-Weiß-Photographien betten die Geschichte des Paars in die allgemeine Perspektivlosigkeit der Afroamerikaner. Diesem statischen Schwarz-Weiß setzt der Regisseur starke, gleichzeitig warme Farben entgegen, die in Rückblenden, unterstützt von der Off-Erzählung Tishs, den Beginn der Liebe zu Fonny lebendig werden lassen. In vielen Erinnerungen tastet sich die Kamera langsam vor, haftet sich an die Figuren und versenkt sich geradezu in die Gesichter. Die zahlreichen Close-ups tauchen den Film in eine traumhafte Schwebe ein, der flirrende Score von Nicholas Britell gibt den Erinnerungen etwas Fließendes. Gleichzeitig lassen die Blues- und Soulstücke der Source-Musik den Facettenreichtum des Erbes der Beale Street erklingen.
Diese schwebende, offene Erzählweise wird dem Plot besonders gerecht. Einige Elemente verorten den Film zwar in den Siebzigerjahren ‒ zum Beispiel soll Tish mit Cognac mit auf ihr Baby anstoßen, was heute undenkbar wäre. Indem die Chronologie der Erzählung jedoch immer wieder durchbrochen wird und die Geschehnisse in eine Traumhaftigkeit gebettet ist, scheint die »Beale Street« bis in die Gegenwart hineinzuragen.
»If Beale Stret could talk...«: Wenn die Beale Street reden könnte. So beginnt ein sehr bekannter Jazz-Song, den zum Beispiel die große Eartha Kitt in den Fünfziger-Jahren sang. Beale Street, benannt nach einer Straße in Memphis, Tennessee, ist eine Metapher für das alltägliche Leben der Schwarzen.
Das Lied heißt »Beale Street Blues« und so heißt auch der Roman von James Baldwin. Dieser erzählt eine einzige große und sehr poetische Liebesgeschichte. Darin geht es um das 19-jährige Mädchen Tish und ihren drei Jahre älteren Freund Fonny. Wir erleben das Paar, wie es sich kennenlernt, wie es miteinander aufwächst, wie ihre Liebe zu blühen beginnt. Doch dann ändert sich ihr Leben radikal: Fonny wird von einem weißen Polizist einfach grundlos der Vergewaltigung bezichtigt und kommt unschuldig in den Knast. Und Tish ist schwanger. Immerhin ihre Familie hält zu ihr. Eines Tages beginnt Tish um die Freilassung ihres Freundes Fonny zu kämpfen.
Der Schriftsteller, Essayist und aktivistische Bürgerrechtler James Baldwin (der 1924 im New Yorker Schwarzen-Stadtteil Harlem geboren wurde und schon 1987, also viel zu jung im französischen St. Paul de Vence starb), dieser James Baldwin war ein Schriftsteller, der einem mit einem einzigen Satz das Herz brechen konnte.
Ein New Yorker, ein Wahlfranzose, Emigrant und Existentialist, und nicht nebensächlich: schwul. 1948 floh er vor Rassismus und Homophobie nach Paris. Dort
schrieb er seine Bücher. Heute ist Baldwin lebendiger denn je. Seine Essays und Romane werden neu übersetzt, und mit If Beale Street Could Talk kommt jetzt die Verfilmung von »Beale Street Blues« ins Kino.
Der New-York-Roman erschien 1974 und erzählt außer von dem glücklichen Paar vor allem vom ganz normalen, alltäglichen Rassismus, dem armen, gewalttätigen Leben der vielen abgehängten Schwarzen in Amerika. Die Handlung spielt zudem im heruntergekommenen New York der 70er Jahre, zu jener Zeit, als der Zenit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung bereits vorüber war. Die Segregation, die Rassentrennung wurde immerhin aufgehoben, aber die Morde an Martin Luther King und Malcolm X
erstickten den Elan des Aufbruchs.
Dazwischen hat der Autor ein ideales Paar platziert: Die Verkörperung einer besseren Zukunft für die Schwarzen Amerikas. If Beale Street Could Talk ist daher auch eine Bestandsaufnahme. Die der Gegenwart. Wir können abgleichen: Welche Versprechen haben sich erfüllt? Was steht noch aus?
Regisseur Barry Jenkins, dem mit seinem letzten Film Moonlight ein Welterfolg gelang, ist vor allem ein Könner in der Komposition intimer Szenen, in denen die Atmosphäre alles erzählt und Worte nicht nötig sind. Er ist auch besonders stark im Umgang mit Musik. Das alles verbindet diesen Filmemacher mit dem Werk des Chinesen Wong Kar-wai, an dessen Filme schon Moonlight erinnerte. Ein Kino des Unausgesprochenen und der Sehnsucht. Wenn Jenkins nur ähnlich wie Wong etwas mehr seinen Bildern vertrauen würde!
Der Regisseur hat Baldwins Milieustudie als opulent und etwas sentimental orchestrierte Ode an die Kraft der Liebe verfilmt. Diese Liebe bildet das Gegenstück zu einem ungerechten Gesellschaftssystem. Der bedingungslose Familienzusammenhalt wird idyllischer gezeigt als in Baldwins Roman. Jenkins verzichtet auch ganz auf die im Roman vorkommende Darstellung von Brutalität oder Drogenszenen – aus heutiger Sicht erscheint das zu stereotyp. Das geht nicht ohne Kitsch – was legitim ist – doch ob derartige Verkitschung der ganz angemessene Zugang zu Baldwins realistischerem Roman ist, mag dahingestellt bleiben.
Was Barry Jenkins gelingt, ist etwas anderes: Ein facettenreicher und sogar spannender, weil stilvoller Liebesfilm, der in vielen warmen Farben schillert. Die Hautfarbe ist nur eine von vielen – man vergisst sie schnell, und versteht: Tish und Fonny könnten wir alle sein.