Großbritannien/F 2024 · 114 min. · FSK: ab 16 Regie: Andrea Arnold Drehbuch: Andrea Arnold Kamera: Robbie Ryan Darsteller: Nykiya Adams, Jason Buda, Barry Keoghan, Franz Rogowski, Jasmine Jobson u.a. |
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Selbst an Un-Orten kann man fliegen lernen... | ||
(Foto: Around the world | Andrea Arnold) |
Ruft man sich Andrea Arnolds großartigen Film American Honey (2016) über eine jugendliche, völlig entwurzelte Drückerkolonne, die durch Amerika zieht, in Erinnerung, war es vor allem der Blick einer Engländerin auf Amerika, der Blick von außen, der diesen Film so besonders gemacht hat. Es war der analytische Blick über eine Gesellschaft, so kristallscharf, gnadenlos und gleichzeitig zärtlich und immer wieder überraschend, dass man es sich kaum vorstellen könnte, dass auch ein Amerikaner so blicken konnte.
Dass diese Worte nichts als pathetischer Filmkritikerquatsch sind, sieht man allein schon an Andrea Arnolds neuem Film Bird, über den man ganz ähnliche Worte finden könnte. Und das, obwohl Arnold für Bird nicht wieder in die USA geht, sondern in ihre Heimat, nach England zurück kehrt. Und auch das eigentliche Kernthema von Bird, das Eintauchen in die Welt arbeitsloser, prekär lebender Familien in Kent, ist Arnold bekannt. Arnold stammt nicht nur selbst aus Kent, sondern wuchs auch in einer Sozialsiedlung auf. Und auch Arnold war eins von vielen Kindern einer Mutter, die erst 16 Jahre alt, als sie ihr erstes Kind bekam. Und so wie die Heldin von Bird, die 12-jährige von Nykiya Adams verkörperte Bailey, musste sich auch Arnold um die jüngeren Geschwister kümmern.
Das mag sich alles ein wenig nach den sozialrealistischen Filmen von Ken Loach anhören. Das ist jedoch ganz und gar nicht der Fall. Denn anders als Loach, prangert Arnold die Gesellschaftsverhältnisse nicht an, sondern zeigt das Leben von Maya, ihrem Halbbruder Hunter (Jason Buda) und ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) mit Empathie und Zärtlichkeit als das, was es ist: ein fast schon anarchistisches Umfeld, das an Arbeit und gesellschaftlicher Integration überhaupt nicht interessiert ist, sondern stattdessen mit der Musik von Coldplay versucht eine Kröte zu „melken“, weil sich der dadurch abgesonderte Schleim als Drogenextrakt hochpreisig verkaufen lässt.
Dennoch ist auch für Maya nicht alles schön, leidet sie an der Verwahrlosung ihrer anderen Geschwister, die bei der drogenabhängigen Mutter leben und versucht irgendwie, zu helfen, flotiert von einem Nicht-Ort zum nächsten und hat im Grunde nur einen Trost, einen imaginären Freund, den nur sie sieht, einen Vogelmenschen, den titelgebenden „Bird“, der von Franz Rogowski gespielt wird. Bird ist allerdings kein Vehikel für Momente von magischem Realismus, sondern so wie in Ate de Jongs wilder Komödie Drop Dead Fred ein imaginärer Freund, denn nur Maya sehen kann, der verschwindet, wenn andere Menschen hinzukommen, ein psychologisches Phänomen, dass es bei Kindern häufig gibt.
Rogowski, der nach seiner extravaganten Rolle in Ira Sachs' Passages (2023) hier seine introvertierte, verspielte Seite zeigen kann, hilft Maya nicht nur bei ihrem Coming-of-Age, sondern lässt sich auch selbst von der musikalischen Strukturierung des Films, die wie in American Honey exquisit aufgesetzt ist, mitreißen, wird immer wieder Teil von Mayas Leben, so wie sie von seiner ruhigen, kontemplativen Art profitiert und die Dinge um sich herum verstehen lernt. Sie erkennt die Tragik der Liebesgeschichte ihres Bruders, der in ein Mädchen aus der Mittelschicht verliebt ist und sieht wie ein Vogel von oben das irre Treiben ihrer Familie, um dann jedoch immer wieder im Sturzflug hinabzustürzen und Teil an diesem Leben zu haben.
Das ist alles andere als einfach und erinnert in der drastischen Beschreibung der Verhältnisse an Romane wie Triomf von Marlene von Niekerk, die das Leben völlig isolierte und verarmter Buren in Südafrika nach dem Ende der Apartheid zeigt. Oder an Barbara Kingsolvers Demon Copperhead und das Versinken der Hillbilly-Kultur in der Opiat-Krise der USA. Mit leichter Hand referenziert Arnold aber auch andere marginalisierte Gruppen, zeigt eine Szene, die Maya im Wasser treibend zeigt, die so auch in Barry Jenkins Moonlight vorkommt. Was deutlich macht, dass dieses Soziotop nicht einzigartig ist, sondern es dieses Kent auf der ganzen Welt gibt.
Und wie in den eben genannten Beispielen erzählt auch Arnold von einer Erlösung, die so schön ist, dass es sich allein schon deswegen lohnt, diesen Film anzuschauen. Ein Film, der nicht immer einfach ist, der vor allem in der ersten halben Stunde mit seiner wilden Handkamera und ethnografisch-dokumentarischen Achterbahnfahrten überfordern mag, doch mit jeder weiteren Minute belohnt, überrascht und schockiert. Vor allem mit dem großartigen Ende, der Szene am Bahnhof, in der ein trauriger Abschied zu einer so zärtlichen Familienzusammenführung wird, das einem ganz schwindelig wird.
Denn Arnold gelingt es damit, nicht nur zu zeigen, dass Zärtlichkeit und Liebe in noch so prekären Verhältnissen existiert, sondern mehr noch gelingt es ihr, dass wir diese, sich „unserer“ Normalität völlig entziehenden Menschen tatsächlich so lieben, als wären sie wir selbst. Und so wie Maya über Bird, lernen wir über Arnold und ihren Film damit etwas, das wir niemals glaubten zu können – fliegen.