Spanien/F/B 2012 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Pablo Berger Drehbuch: Pablo Berger Kamera: Kiko de la Rica Darsteller: Maribel Verdú, Angela Molina, Daniel Giménez Cacho, Inma Cuesta, Macarena García u.a. |
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Da warens nur noch sechs... |
Kaum, dass der französische Film The Artist (2011) gezeigt hat, dass für ein CGI-Action-Orgien überdrüssiges Publikum ein ganz klassischer Stummfilm eine willkommene Abwechslung darstellt, kommt mit Blancanieves bereits schwarzweißer Nachschub von der Iberischen Halbinsel. Allerdings weist der Drehbuchautor und Regisseur Pablo Berger alle Vorwürfe einfach auf einen gerade in Fahrt gekommenen Zug aufgesprungen zu sein, entschieden zurück. Ganz im Gegenteil musste der Spanier fast zehn Jahre für die Realisation dieses Wunschprojekts kämpfen, da bis vor kurzem noch kein potentieller Geldgeber glauben wollte, dass solch eine angestaubte Filmart auch heutzutage noch ein größeres Publikum begeistern könnte. Doch mittlerweile sieht die Sache für den Film, der in seiner Heimat gleich zehn Goyas – unter anderem den für den besten Film – abstauben konnte, bereits ganz anders aus...
„Blancanieves“ (eigentlich: Carmen) ist die Tochter eines einstmals berühmten Toreros (Daniel Giménez Cacho), deren Mutter bei ihrer Geburt verstarb. Ihr Vater sitzt, seitdem ihn ein Stier aufgespießt hatte, im Rollstuhl und hat seine Krankenschwester (Maribel Verdú) aus der Zeit dieses Vorfalls geheiratet. Seine Tochter hat er zu deren Großmutter (Àngela Molina) abgeschoben. Doch als diese stirbt, zieht Carmen (Macarena García) auf das Anwesen, auf dem der Vater und die Stiefmutter Encarna wohnen. Aber die böse Stiefmutter vernachlässigt den Vater und behandelt auch Carmen denkbar schlecht. Nach einigen Jahren gipfelt die Situation in Encarnas Mord an dem Vater und in einen Anschlag auf die schöne Tochter, der jedoch missglückt. Bei diesem verliert Carmen allerdings ihr Gedächtnis. Wenig später zieht sie mit einer Truppe fahrender Kleinwüchsiger durch das Land und wird als „Blancanieves“ der Star der komischen Stierkampf-Show der Zwerge. Doch als Blancanieves im Begriff ist sich einen Ruf als talentierte Torera aufzubauen, erfährt ihre nun vor Eifersucht kochende Stiefmutter von Carmens neuem Glück...
Das klingt bekannt? Ist es. Denn „Blancanieves“ ist der spanische Namen für Schneewittchen. Wörtlich übersetzt bedeutet Blancanieves „Schneeweiß“ bzw. „Weiß wie der Schnee“. Das passt gut zu der Protagonistin in einem Stummfilm dessen starke Schwarzweiß-Kontraste auf den Deutschen Expressionismus verweisen, während die Handlung im Spanien der gleichen Dekade (die 20er-Jahre) angesiedelt ist. Auch des Weiteren vereinigen sich in diesem Namen, wie auch im gesamten Film Blancanieves Grimms Märchen und spanische bzw. andalusische Folklore zu einer neuen Einheit, die sich innerhalb des Films gerne auch mal recht postmodern grinsend selbst anschaut. Diese bereits gewagte Mixtur wird zusätzlich um gewagte Elemente, wie SM-Szenen angereichert, deren Darstellung zur klassischen Stummfilmzeit undenkbar gewesen wäre. Selbst Roman Polanskis in einem Kosmos von Dominanz und Unterwerfung angesiedeltes neues Werk Venus im Pelz wirkt da im direkten Vergleich doch ein wenig bieder.
Das Märchen von Schneewittchen ist auch innerhalb der Wirklichkeit des Films Blancanieves als Märchen bereits bestens bekannt. Deshalb nennen sich die kleinwüchsigen Toreros nach Carmens Eintreten in ihre Truppe in „Blancanieves y los siete enanos“ (Schneewittchen und die sieben Zwerge) um, obwohl sie eigentlich nur sechs – aber dafür umso geschäftstüchtigere – Zwerge sind. So verknüpft Blancanieves mit Leichtigkeit die schwarze Romantik von Grimms Märchen und ein archaisches, vorindustrielles Spanien mit unserer Gegenwart eines allgegenwärtigen globalen Kapitalismus. Nebenbei wildert Blancanieves mit postmoderner Frechheit derart flink in fast der gesamten Filmgeschichte, dass man gerade noch Ted Brownings Freaks (1932) erkennt, bevor der fröhlich, feiste Ritt bereits weitergeht. In welchem Referenzsystem man sich gerade befindet, ist in Blancanieves ohnehin alles andere als klar. Die Idee mit den Zwergtoreros erscheint z.B. ebenso abstrus, wie die der Stiefmutter, die ihren nackten Gespielen die Position ihres Hundes einnehmen lässt, während ein Maler ein Porträt der feinen Dame anfertigt. Doch die „enanos toreros“ (Zwergtoreros) waren damals in Spanien tatsächlich eine beliebte Jahrmarkts-Attraktion.
Wie auch immer – eins ist am Ende von Blancanieves mehr als klar: einen Film von ausgesprochen schlichter Schönheit und zugleich verwirrender Komplexität gesehen zu haben.