Frankreich 2014 · 76 min. · FSK: ab 12 Regie: Mathieu Amalric Drehbuch: Stéphanie Cléau, Mathieu Amalric Kamera: Christophe Beaucarne Darsteller: Mathieu Amalric, Léa Drucker, Stéphanie Cléau, Laurent Poitrenaux, Serge Bozon u.a. |
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Still leben |
»Erzählen Sie mir, wie alles begann...« – im Rückblick erzählt Julien, der von Anfang an mordverdächtige Held dieses Films einem ermittelndem Staatsanwalt im Verhör seine Geschichte: Die handelt von ihm und Esther. Die beiden ehemaligen Klassenkameraden, inzwischen anderweitig verheiratet, treffen sich nach Jahren zufällig wieder. Schnell entflammt die Leidenschaft, und sie beginnen ein Liebesverhältnis.
Irgendwann kommt ihr Mann dahinter. Vielleicht auch seine Ehefrau. Jetzt will Julien aus Angst um seine Ehe die Geliebte nicht mehr sehen. Sie versucht weiter, auf diskrete Form Kontakt zu halten, er verweigert sich.
Dann stirbt ihr Mann – ob an seiner schon lange bestehenden chronischen Krankheit, oder doch, weil die Gattin da ein wenig nachgeholfen hat, bleibt bis zum Ende unklar. Gut vier Monate später stirbt dann auch Juliens Frau – an vergifteter Marmelade.
Ein Polizeifilm – dieses klassische Genre des französischen Kinos hat sich jetzt auch der französische Schauspielers Mathieu Amalric vorgenommen. In seiner fünften Spielfilm-Regiearbeit hat er Georges Simenons Roman »Das blaue Zimmer« verfilmt. Das Ergebnis ist ein spannendes, aber etwas trockenes Kammerspiel um einen Indizienprozess.
Bis zum Schluss bleibt offen, ob das schließlich verurteilte Liebespaar die jeweiligen Gatten tatsächlich ermordet hat. Esthers Mann könnte auch eines natürlichen Tods gestorben sein, Juliens Frau könnte von der so bösen wie argwöhnischen Mutter des Toten ermordet worden sein. Oder sich selbst vergiftet haben…
La chambre bleue, Das blaue Zimmer nach einem der berühmtesten Romane des genialen Georges Simenon ist in jeder Hinsicht ein Vexierspiel, das es in sich hat. Der Zuschauer bleibt ebenso wie die Beteiligten im Unklaren, was geschah und wie.
Simenons Roman kann man als skeptische Theorie der Aufklärung betrachten, einer scheiternden Aufklärung. Und als Betrachtung des einsamen und von vornherein aussichtslosen Kampfes des Einzelnen gegen ein System, das glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein. Die Ermittlung und der Prozess, der den beiden unglücklich Liebenden gemacht wird, ist von den barbarischen Verfahren der frühneuzeitlichen Inquisition kaum zu unterscheiden. Gerechtigkeit gibt es nicht. Das macht beide, ob schuldig oder nicht, zu Opfern und zu unseren Helden – selbst, wenn sie Täter waren.
Julien erlebt die Auflösung all dessen, was er in seinem Leben für sicher gehalten hat: Die Ehe, die Affaire, die Beziehung zu seiner kleinen Tochter, seine Arbeit, seine bürgerliche Existenz.
Zudem ist Julien auch ein Repräsentant eines klassischen Konflikts: Dem zwischen gelebtem und ungelebtem Leben. Ein Repräsentant all der Konsequenzen, die die Entscheidung für ein Leben hat, und für die mitunter schrecklichen Konsequenzen, die die Erstarrungen des Älterwerdens, die Abwehr der eigenen Verspießerung mit sich bringen.
Allerdings erleben wir Zuschauer auch die Ereignisse fast ausschließlich aus Juliens Perspektive. Muss diese »wahr« sein? Wir wissen schließlich von Anfang an, dass Julien weder seiner Frau, noch seiner Geliebten die Wahrheit sagt. Warum sollte er nicht auch uns belügen?
Allenfalls ist Regisseur Amalric, der auch die Hauptrolle des Julien spielt, anzukreiden, dass er genau diese interessanten, zeitgemäßen Aspekte nicht deutlich genug herausarbeitet, sondern allenfalls andeutet. Man könnte das aufregender inszenieren. Amalric fügt dem Roman nichts Eigenes hinzu. Und er lässt uns im Unklaren darüber, ob Esther vielleicht lieber mit Julien im Knast und im Gerichtsurteil vereint ist, als außerhalb getrennt. Denn vielleicht war die unverfängliche Frage ja ernst gemeint, die Esther ihm irgendwann an einem frühsommerlichen Nachmittag im blauen Hotelzimmer gestellt hat.
Das blaue Zimmer handelt im Kern von der Ausführung und Aufdeckung eines Verbrechens. Aber genau wie die fünfzig Jahre alte Romanvorlage ist auch Mathieu Amalrics Adaption kein Krimi. Es ist ein Gesellschaftsportrait über Wahrheit und Lüge der bürgerlich-braven Mittelstandsgesellschaft, und als solches ist es ungemein aktuell. Man kann in alldem einerseits die Welt der Nachkriegsgesellschaft spüren: Traumatisierte, Gezeichnete, auch die Moral der Nachkriegszeit: Mitunter bleierne Schuld-und Sühne-Zerknirschungen und das Katholische Simenons: Die Beichte beim staatlichen Judge, und die Erbsünde der Menschen, die Hölle am Ende. Man kann darin Bezüge zur Philosophie des Existentialismus entdecken. Doch gleichzeitig ist dies ein durch und durch universaler Stoff.