Italien/F/D 2023 · 134 min. · FSK: ab 12 Regie: Marco Bellocchio Drehbuch: Marco Bellocchio, Susanna Nicchiarelli, Edoardo Albinati, Daniela Ceselli Kamera: Francesco Di Giacomo Darsteller: Paolo Pierobon, Barbara Ronchi, Leonardo Maltese, Enea Sala, Fabrizio Gifuni u.a. |
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In den Händen des Papstes... | ||
(Foto: Pandora) |
Es war schon damals ein Skandal, als im Jahr 1858 Soldaten des Papstes in das Haus der Familie Mortara im jüdischen Viertel von Bologna eindrangen und auf Befehl des Kardinals den jüdischen Jungen Edgardo Mortara aus seiner Familie entführten, um den 7-jährigen in einem katholischen Internat in Rom unter der Obhut von Papst Pius IX. zum katholischen Glauben erziehen zu lassen. Zwar hatte es ähnliche Entführungsfälle von angeblich getauften Kindern nichtchristlicher Eltern im damaligen Kirchenstaat schon zuvor gegeben, ohne dass sie vergleichbares Aufsehen erregt hatten, doch Edgardos Eltern setzten nicht nur internationale Zeitungen auf den Fall an, so dass sogar in den USA davon gesprochen wurde, sondern vor dem Hintergrund des Risorgimento, der sogenannten Wiederauferstehung des italienischen Nationalstaates zwischen 1815 und 1870, lieferte der Fall Edgardo Mortara in den Jahren 1858 bis 1860 insbesondere der liberalen Seite ein emotionales und sehr schlagkräftiges Argument für ihre Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die Entführung Edgardos schon schnell großer Bühnenstoff wurde, der noch 2002 vom Pulitzer-Preisträgers Alfred Uhry unter dem Titel Edgardo Mine als Komödie auf die Bühne gebracht wurde; im selben Jahr, als Anthony Hopkins für die Rolle des Papstes Pius IX. in dem Film »The Kidnapping of Edgardo Mortara« unterschrieb, ein Projekt, das jedoch wenig später ad acta gelegt wurde.
Anthony Hopkins wäre wohl auch in Marco Bellocchios Verfilmung des Stoffes die ideale Besetzung gewesen, um die ambivalente Gestalt von Pius IX. mit seiner dogmatischen, zum Teil abstrusen, fast schon grotesken Grundhaltung zu verkörpern, der aber dennoch mit Charisma und machiavellistischem Gespür verstand, den theokratischen Staat würdevoll zu repräsentieren. Bellocchios von Paolo Pierobon gespielter Papst bietet diese Widersprüchlichkeit und Komplexität leider nicht an. Stattdessen sabbert und irrlichtert er in seinen Gemächern umher, um nur dann und wann seine zeremoniellen Riten zu versehen.
Bellocchio, eines der Urgesteine des gegenwärtigen italienischen Films, der bereits 1965 mit Mit der Faust in der Tasche sein Regiedebüt gab, ist weniger am Papst als an dem entführten Edgardo (Enea Sala als Kind, Leonardo Maltese als junger Mann) und dem damaligen Zeitkolorit interessiert. Das jüdische Kaufmannsleben in Bologna wird mit fast schon barocker Üppigkeit genauso bebildert wie Edgardos Alltag im Internat und seine langsame, aber nachhaltige Bekehrung zum katholischen Glauben und eine Beziehung zu seinem Entführer, die dem Stockholm-Syndrom in nichts nachsteht, hier allerdings unter dem Deckmantel rigoroser, religiöser Erziehung genauso gut funktioniert.
Bellocchios Hang zur opulenten Ausstattung und Betonung auf die architektonische Inszenierung des Falles wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen und verhindert wohl auch, dass die Tragödie vor allem im ersten Teil tatsächlich berührt, wirkt der Junge hier eher wie ein Spielball der Ideologien und sind es dann auch eher wieder nur Räume mit ihren Menschen, und die Pracht Bolognas und Roms statt charakterlicher Feinzeichnung, auf die sich Bellocchio konzentriert. Erst im letzten Teil zieht Bellocchio die melodramatischen Schrauben wirklich an. Nun wird auch die Zerrissenheit Edgardos spürbar, auch wenn diese erfundenen Passagen ein wenig zu überraschend und behauptet passieren und mit der historischen Gestalt nicht unbedingt übereinstimmen.
Trotz dieser Defizite gelingt es Bellocchio, die komplexen Strukturen eines politisch instrumentalisierten Antisemitismus über seine Charaktere und den damaligen Zeitgeist spürbar und transparent zu machen und spannend von einer Zeit zu erzählen, von der außerhalb Italiens kaum einer etwas wissen dürfte. Und die einmal mehr, so wie es die Geschichte ja immer wieder anbietet, ein fast schon unheimlich idealer Spiegel für eine Gegenwart ist, in der politisch instrumentalisierter Antisemitismus und die abstrusen Forderungen nach kirchenstaat-ähnlichen Verhältnissen wieder modern geworden und in Ländern wie dem Iran oder Afghanistan seit Jahren politische Realität sind.
Ein grausames Verbrechen: Ein kleiner Junge wird aus der Mitte seiner Eltern und Geschwister entführt, und der Familie für alle Zeiten weggenommen.
Unglaublich aber wahr, und ganz im Einklang mit den formalen Prinzipien der scholastischen Kirchenjustiz. Zumindest im 19. Jahrhundert. Denn alles beginnt im Jahr 1857. Die Universitätsstadt Bologna in Nordostitalien gehört zum damals noch unabhängigen Kirchenstaat und wird von Papst Pius IX. regiert, dem dienstältesten Papst der Geschichte, dessen Amtszeit teilweise vom Revolutionszeitalter geprägt war – einer der Reaktionäre der
Kirchengeschichte.
Rapito (deutsch: Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes) spielt zwischen der Zeit der absoluten Macht des Papstes und seinem Niedergang und Tod im Jahr 1878, als die italienische Einigung vollzogen war.
Inmitten dieses politischen Kontextes, der von revolutionären Strömungen geprägt ist, erzählt Marco Bellocchio von der Schaffung einer perversen Identität.
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Das Kino des heute 83-jährigen Marco Bellocchio ist längst eine starke Maschine der Kritik und der Reflexion über Macht und modernes Leben geworden. Bellocchio hat den Fall Aldo Moro aufgegriffen, um uns von der grundsätzlichen Passivität der Macht zu erzählen, er tauchte in den Alltag der Mafia ein und vertiefte sich in die dunkle Geschichte einer Geliebten Mussolinis, um die Mechanismen der Inszenierung und der Lüge im Faschismus zu analysieren.
Nun hat sich der italienische Meister in seinem neuen Film ein denkwürdiges Kapitel der Katholischen Kirche vorgenommen: Es geht um die Katholische Kirche – und die wahre Geschichte eines Kinderraubs, die Entführung Edgardo Mortaras, eines Kindes aus einer jüdischen Familie, durch die katholischen Mächte. Der formale Vorwand dafür war, dass das Kind von seiner Amme getauft wurde – zumindest angeblich –, um nicht in der Vorhölle der Gerechten zu landen, wo die Unbekehrten schmoren müssen.
Der Junge wird vom Vatikan de facto gefangen genommen und einer jahrelangen gewaltsamen Gehirnwäsche unterzogen.
Am Ende ist er als Erwachsener ein fundamentalistischer Katholischer Priester. Und weist seine Familie zurück, als diese ihn zu seinen jüdischen Wurzeln zurückkehren lassen will.
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Es geht also um den Wahn, der ein Teil jeder Religion ist, und um den Wahn, der dem Antisemitismus innewohnt, dem antijüdischen Rassismus.
Er zeigt die Brutalität des Glaubens im Alltag: In einem wichtigen Moment des Films wird das Kind Edgardo vom Papst gezwungen, mit seiner Zunge drei Kreuze auf den Boden einer Kirche zu malen.
Bellocchio stellt die Macht in Frage, um am Ende auch eine Identitätsdebatte zu führen. Denn kann man eine Identitätsumwandlung führen, und das Bewusstsein eines Kindes neu programmieren? Auch das ist, wie das Thema Antisemitismus, höchst aktuell.
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Bellocchio verfilmt seine Geschichte mit großer visueller und dramatischer Kraft, als ob die ganze Geschichte von einem echten Ausbruch von Wut und Zorn geprägt wäre, als ob die dunkle Seite der alten inquisitorischen Machthebel innerhalb der Kirche ans Licht gebracht werden müsste.
Das Ergebnis ist ein vernichtendes kritisches Portrait der fundamentalistischen Barbarei der katholischen Kirche, ihrer sich selbst rechtfertigenden Riten und abergläubischen Zeremonien.
Zu den Bildern gehört ein Porträt des selbstgefälligen, anmaßenden Pontifex, das direkt an die anderen großen bösen Figuren von Bellocchios langem Werk anknüpft
Die Darstellung hält sich an die Fakten, nur Edgardos Konvertierung zu einem glühenden Katholiken bleibt außen vor und etwas behauptet.
Bellocchio erzählt von einem Stockholm-Syndrom im 19. Jahrhundert, in dem ein Opfer die Moral seiner Unterdrücker übernimmt. Ein spannender, beklemmender Film. Und ein vernichtendes kritisches Porträt der fundamentalistischen Barbarei der katholischen Kirche.